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                        Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 58

Stefan Kipf

ad fontes?
Überlegungen zur Begründung der Originallektüre im altsprachlichen Unterricht(1)


I. Historische Einordnung

"Sed in primis ad fontes ipsos properandum, id est graecos et antiquos." - "Vor allem muss man zu den Quellen selbst eilen, d. h. zu den Griechen und den Alten überhaupt." Dieses Motto, von Erasmus von Rotterdam im Jahr 1511 in seiner didaktischen Programmschrift De ratione studii ac legendi interpretandique auctores formuliert und gewissermaßen didaktischer Inspirationspunkt dieser Überlegungen, stellt die Grundlage der humanistischen Bildungsbewegung des 15. und 16. Jahrhunderts dar: "Humanisten wie Reformatoren", so Manfred Fuhrmann, "drängte es zu den Quellen, den originalen Texten ihrer Verehrung und ihres Glaubens; die einen wie die anderen konnten an der auf das Lateinische beschränkten Kultur des Mittelalters kein Genüge mehr finden, und so teilten sie die Überzeugung, dass der Gebildete auch das Griechische, ja selbst das Hebräische kennen müsse."(2)

Als Quelle allerersten Ranges nahm das Griechische in diesem Konzept eine Schlüsselstellung ein, wie man z. B. an den Worten Philipp Melanchthons (1497-1560), des praeceptor Germaniae, klar erkennen kann: "Diximus linguam Graecam, magistram et quasi fontem esse, non tantum coelestis doctrinae, sed et reliquarum artium."(3) Hierzu gehören für Melanchthon Philosophie, Astronomie, Naturwissenschaft, Medizin, Geschichte, Rechtswissenschaft und Mathematik(4). Von besonderer Bedeutung ist das Griechische aber vor allem für die Theologie und die Förderung des christlichen Glaubens: Melanchthon weist in seiner weithin beachteten Schrift De studiis linguae Graecae von 1549 mit Nachdruck darauf hin, dass Gott dem Griechischen eine spezifische Aufgabe zugedacht habe und das Griechische daher für das Verständnis der christlichen Lehre unverzichtbar sei: "Voluit Deus hanc linguam eius doctrinae potissimum nuntiam et ministram esse. Ad cognoscendum igitur atque recte intelligendum novum Testamentum, quod continet Evangelium Christi, omnino opus est huius linguae auxilio."(5) Geradezu emphatisch preist Melanchthon die Vorzüge der Originallektüre: "Quam dulce igitur est, immo vero quanta felicitas est, posse cum filio Dei, cum evangelistis et apostolis ipsis, cum divo Paulo absque interprete loqui et veras vivasque audire ac reddere voces!"(6)


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Dementsprechend tadelt er die Nachteile – er nennt es miseria, ein Unglück - eines theologischen Studiums, dass sich ausschließlich auf (lateinische) Übersetzungen stützt, da sie zumeist den ursprünglichen, gewissermaßen dem Text angeborenen Sinn, den "nativus sensus" verdunkelten und eine umformende Interpretation bzw. Metamorphose des Originals darstellten. Dies gelte nicht nur für die heiligen Schriften, sondern auch für alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen.(7) Auch in diesem religiösen Kontext bedient sich Melanchthon wiederholt der ad-fontes-Metaphorik, so z. B. in seiner Wittenberger Antrittsrede von 1518: &bdquoAtque cum animos ad fontes contulerimus, Christum sapere incipiemus, mandatum eius lucidum nobis fiet, et nectare illo beato divinae sapientiae perfundemur ..."(8)

In Übereinstimmung mit diesem Bestreben, die christlichen sacrae litterae mit Hilfe des Griechischen umfassend studieren und verstehen zu können, wird die Lektüre originaler Quellen ebenfalls als unerlässlich für eine fundierte Jugendbildung an Schule und Universität eingestuft. Hier führt uns der Weg nun zurück zu Erasmus und seiner Schrift de ratione studii, von der Friedrich Paulsen wohl zu Recht gesagt hat, dass sie nicht nur die Summe der "Gymnasialpädagogik" des Erasmus, sondern des gesamten deutschen Humanismus wiedergebe.(9) Erasmus weist der Originallektüre griechischer und lateinischer Texte zwei Hauptaufgaben zu und liefert uns wichtige Eckpunkte eines didaktischen Orientierungsrahmens.
1. Grundlage aller Bildungsziele stellt die Auseinandersetzung mit der Sprache dar: Die Originallektüre dient der Herstellung, Vertiefung und Anwendung einer differenzierten, zum aktiven Gebrauch bestimmten Sprachkompetenz im Lateinischen und Griechischen, die man sich "am besten durch Unterhaltung mit richtig Sprechenden [erwerben soll], namentlich aber durch fleißiges Lesen guter Schriftsteller, ... die neben einem durchaus fehlerfreien Stil einen die Schüler anziehenden Inhalt bieten."(10) Im Griechischen sind dies Lukian, Demosthenes sowie Herodot, ferner Aristophanes, Homer und Euripides. Bei den lateinischen Autoren handelt es sich um Cicero, Caesar und Sallust, von den Dichtern kommen Terenz bzw. Plautus, Vergil und Horaz hinzu.
2. Ganz im Sinne seines humanistischen Bildungsideals sollten diese sprachlich herausragenden Texte den Schülern nicht nur ein stilistisches Vorbild liefern, das es durch imitatio zu erreichen galt, sondern sie sollten zugleich normgebend für ihre moralische Entwicklung werden und ihr eigenes Verhalten – privat wie öffentlich – positiv beeinflussen. Diesen optimistischen Glauben an die unmittelbar wirksame pädagogische Kraft der antiken Autoren hat man in einem, Erasmus zugeschriebenen Satz  pointiert mit "lectio transit in mores" zusammengefasst.(11) Um einer einseitig formalistischen Lektüre vorzubeugen, gehen "verba et res" eine enge Verbindung ein, da für Erasmus alle Kenntnis zweifacher Art ist; sie besteht aus "Wort- und Sachkenntnis. Die Wortkenntnis muß vorangehen, die Sachkenntnis ist die wichtigere." – "cognitio verborum prior, rerum potior."(12) Daher soll durch das Studium der Quellen, also durch die Originallektüre der oben genannten lateinischen und griechischen Autoren – auf der Grundlage entsprechender Sprachkompetenz - gerade auch das Verständnis der "res" gefördert werden.


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"Denn woraus", fragt Erasmus, "könnte man wohl reiner (die Sachkenntnis), schneller und angenehmer schöpfen als aus den Quellen selbst?" – "Nam unde tandem haurias vel purius, vel citius, vel iucundius quam ab ipsis fontibus?"(13) Diese Form der sachbezogenen Originallektüre sollte folgendermaßen vonstatten gehen: "Zunächst gebe man, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu erregen, eine kurze Charakteristik des Schriftstellers; alsdann spreche man von der Annehmlichkeit und dem Nutzen des von ihm behandelten Gegenstandes; darauf erkläre und unterscheide man den Wortbegriff des Themas."(14) Am Ende stehen die "philosophische Betrachtung des Ganzen"(15) (philosophia) und die moralische Ausdeutung. Schließlich sollen die Schüler auf Vorzüge und Nachteile der Schriftsteller hingewiesen werden, "damit sich die jungen Leute", wie Erasmus betont, "frühzeitig an das gewöhnen, was bei allen Dingen die Hauptsache ist, an ein selbständiges Urteil."(16) Die Originallektüre ist somit gegenwartsbezogen: Sie soll den Schülern Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, um sich selbstständig und verantwortlich mit Fragen und Problemen ihrer Gegenwart auseinandersetzen zu können.

Dieser grundlegend neue Gedanke der Humanisten, dass der Griechisch- und Lateinunterricht zuvörderst anhand literarisch herausragender Quellen der griechischen und römischen Originalliteratur den Schülern eine sprachlich, historisch-kulturell und vor allem persönlichkeitsbildende Auseinandersetzung ermöglichen und dadurch zugleich positiven Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft nehmen solle, erwies sich für die weitere historische Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als ein konstitutives Merkmal. Ungeachtet der unterschiedlichen historischen Aus- oder Verformungen des altsprachlichen Unterrichts  bildete die Originallektüre qualitativ hochstehender Klassikerliteratur einer zumeist als vorbildlich verstandenen griechischen und römischen Antike stets das Reservoir, aus dem in den verschiedenen historischen Epochen ein im Kern vergleichbarer Grundbestand zentraler Bildungsziele des altsprachlichen Unterrichts abgeleitet wurde. Bei der Originallektüre ging es stets um fremd- und muttersprachliche Kompetenz und formale Bildung, die die "geistige Zucht" (Kerschensteiner) fördern sollte; auch die Schaffung historischen, literarischen und kulturellen Bewusstseins und vor allem die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung wurde angestrebt, um auf der Basis (vermeintlich) transferierbarer, fast automatisch wirksamer "überzeitlich wirksamer Form- bzw. Bildungskräfte" eine humanistisch unterfütterte Orientierung für die jeweilige Gegenwart zu vermitteln. Als sprachphilosophische Begründung der Originallektüre erwies sich der bekannte Gedanke Wilhelm von Humboldts als einflussreich, das sich erst in der Sprache die "Weltansicht"(17) eines Volkes, seine kulturelle und nationale Identität erschließe. Sprache ist für Humboldt, wie Hans-Eckehard Landwehr in einer umfangreichen Studie festgestellt hat, "das entscheidende Mittel für die Vermittlung des jeweils von einem Individuum Gemeinten, Vorgestellten und Intendierten nach außen."(18)


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Insgesamt gab die Originallektüre dem Unterricht von der ersten Stunde an die Richtung vor, war gewissermaßen das entscheidende Telos; sie stellte die "Krönung" oder "Erfüllung" aller unterrichtlichen Bemühungen dar, während dem sprachlichen Elementarunterricht trotz weitreichender formaler Bildungsaufgaben letztlich nur eine dienende Funktion zugewiesen wurde.

Einigkeit herrschte über die Epochen hinweg in Bezug auf die Verwendung gedruckter Übersetzungen: Sie wurden entweder als unerlaubte, ja sogar verbotene Hilfsmittel eingestuft oder sollten lediglich zugelassen werden, um einen umfangreicheren Text, der nicht als in Gänze übersetzt werden kann, komplett in den Blick nehmen zu können, damit die Lektüre nicht "Stückwerk"(19) bleibe. Im Rahmen des Lektüreunterrichts stellte das Übersetzen aus der Fremdsprache stets das charakteristische Verfahren dar, durch das ein vertieftes Textverständnis ermöglicht werden sollte. Schließlich wurde bis in die sechziger Jahre des 20. Jh. die Übersetzung, d. h. die philologisch ausgerichtete Texterschließung, sogar mit Interpretation gleichgesetzt und in z. T. umfangreichen didaktischen Schriften gerechtfertigt.(20) Unter dieser Voraussetzung stellte sich die Praxis des Unterrichts nicht selten als reine Übersetzungstätigkeit dar, in der die Inhaltsbetrachtung und Interpretation nur eine untergeordnete Rolle spielten.

 

II. Kritische Fragen an die Originallektüre

In der Gegenwart scheint die Lage nun erheblich unübersichtlicher geworden zu sein. Unter dem Einfluss der Curriculumrevision der siebziger Jahre wurde die Rolle der Originallektüre von altphilologischer Seite insofern neu bewertet, als sie nun nicht mehr als alleinige Krönung des Unterrichts, sondern als ein (zweifellos nach wie vor) zentraler Teil eines multivalenten Unterrichtgeschehens begriffen wird, bei dem Sprach- und Lektüreunterricht zwei gleichberechtigte Säulen darstellen und die oben erwähnte einseitig philologische Praxis der Lektüre aufgegeben wird. "Neben die Verfahren des Übersetzens und Texterschließens treten mit gleichem Rang und Wert Methoden der Interpretation und Wertung der Textinhalte"(21), kurz gesagt: "Übersetzen und Interpretieren sind der Hauptinhalt"(22) des altsprachlichen Unterrichts. Durch diese Form der Originallektüre soll in vertiefter Form grundlegendes Kulturwissen vermittelt und auf dem Wege der sog. "historischen Kommunikation" ihr Bedeutungspotential für die Gegenwart erschlossen werden: "Der Weg zurück an die Quellen der abendländischen Literatur soll vertraut machen mit Fakten, Personen, Menschentypen, Autoren, Werken, Stoffen, Literaturgattungen, Textsorten, Begriffen, Motiven, die zum Kulturwissen unserer Zeit gehören ..."(24) Griechisch liefert hierbei Einblicke in die spezifischen Ursprungsprozesse der europäischen Kultur, und Latein fungiert als Schlüsselfach der europäischen Tradition. Durch die Beantwortung des existentiell bedeutsamen "Quid ad nos?" soll der Schüler in kritischer Auseinandersetzung mit Antike und Gegenwart einen eigenen Standpunkt bzw. ein Orientierungswissen gegenüber Vergangenheit und Gegenwart gewinnen.


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Obwohl diese Argumentation deutlich realitätsbezogener als früher erscheint und weitgehend ohne pädagogisches Pathos auskommt, stieß sie gleichwohl auf z. T. entschiedene Ablehnung, und zwar vor allem bei Vertretern des modernen Fremdsprachenunterrichts. Den Hintergrund bildet die seit den 70er Jahren stetig verschärfte Konkurrenzsituation zwischen den Fremdsprachen, wobei die nach wie vor beträchtliche Ausdehnung des Lateinischen als nunmehr traditionell drittstärkster Fremdsprache nach Englisch und Französisch als Hindernis für die Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit empfunden wird. Man argumentiert dabei sprachlich und inhaltlich gegen eine Originallektüre im altsprachlichen Unterricht. Die Sprache stelle die Schüler vor besondere Probleme aufgrund einer Sprachstruktur, "die ... hohe Alterität, vor allem aber ein besonderes Ausmaß an Unklarheit und Kompliziertheit aufweist. Latein ist unklar durch Polymorphie (viele konkurrierende Formen für den gleichen Inhalt), durch morphologische Polysemie (eine Form vertritt je nach Umgebung viele Bedeutungen) und vollends durch die Regellosigkeit der Wortfolge."(25) Diese "grundsätzliche Verstehensbarriere" der Sprache wird auch auf die Inhalte der Lektüre ausgedehnt: So weise das antike Wert- und Lebensmodell eine so hohe inhaltliche Andersartigkeit auf, dass "es im Lateinunterricht kaum noch differenziert und mit Relevanz für heutiges Denken und Handeln vermittelt"(26) werden könne. Außerdem biete der Lateinunterricht keinen Zugang zu den Inhalten(27) , die obendrein nicht nur ehrwürdig, sondern auch problematisch(28) seien, während gleichzeitig in englischer oder französischer Sprache Texte von Rang zur Verfügung stünden, die "um einiges zugänglicher als Vergil"(29) seien.

Diese Position, übrigens u. a. an prominenter Stelle im Handbuch für Fremdsprachendidaktik zu finden, hat schwerwiegende Folgen für die Stellung der Alten Sprachen im Kanon der Schulfächer: Latein und Griechisch würden ihren Status als fremdsprachliche Fächer verlieren und dem Aufgabenfeld des Deutschunterrichts und der Geschichts- bzw. Gesellschaftswissenschaften zugerechnet werden. Dies würde allerdings nicht nur deutliche Verluste in der Stundentafel, sondern auch eine Verdrängung an die Peripherie des Unterrichts zur Folge haben: Lateinische und griechische Literatur, deren historische und kulturelle Bedeutung für Europa auch von den neusprachlichen Kritikern gewürdigt wird, soll nur noch in der Oberstufe unterrichtet werden, und zwar als sog. "Erschließungssprache", da sie als "Schwundstufe einer Sprache"(30) keine "zweitsprachliche Kommunikations-", sondern lediglich "Lesekompetenz"(31) aufbaue. Daher würde sich ein Literaturunterricht mit der Lektüre von Übersetzungen als Normalform des Unterrichts geradezu aufdrängen, was auf den ersten Blick durchaus schlüssig zu sein scheint: Schließlich können ja nach den gültigen Lehrplänen auch im Deutschunterricht der Klassen 9 und 10 die Antigone und der König Ödipus des Sophokles, Moliéres Eingebildeter Kranker, Shakespeares Julius Caesar und Shaws Pygmalion gelesen werden, und zwar in guten deutschen Übersetzungen.


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Neben dieser von außerhalb der Fachgrenzen geäußerten Grundsatzkritik erweisen sich jedoch interne Klagen von Latein- und Griechischlehrern über die Lektürepraxis als zusätzliches Problem: Allem Anschein nach führt die Originallektüre – trotz aller didaktischen Neuorientierungen - nicht selten zu qualitativ wie quantitativ ernüchternden Resultaten, die sehr ernst zu nehmen sind. Von Fachvertretern werden grundsätzliche Schwierigkeiten mit der Lektüre literarischer Texte beklagt, mit oft verheerenden Folgen für Schüler, Lehrer und Fach: Nach dem Eindruck eines erfahrenen Schulpraktikers "spüren die Schüler zunehmende Unsicherheiten in manchen Bereichen der Formenlehre und Schwierigkeiten beim Auflösen der typisch lateinischen Konstruktionen; sie fühlen sich erdrückt von der Vielzahl unbekannter Vokabeln und der trotz wochenlanger Arbeit immer noch vor ihnen liegenden Textmenge. Einige äußern den Wunsch nach mehr sprachlicher Wiederholung und Übung, manche suchen Zuflucht bei gedruckten Übersetzungen, viele resignieren. Auch der Fachlehrer ist unbefriedigt: Lektüreunterricht hat er angekündigt, aber das Schneckentempo des Vorwärtskommens läßt den Sinn des Wortes Lektüre zur Farce werden. Um trotz der Schwierigkeiten ein Einlesen ... zu erreichen, dehnt er die Lektüre aus und verweilt ein halbes Jahr, oft noch länger, bei ein und demselben Autor – er nimmt für kleine sprachliche Erfolge zunehmendes Desinteresse seiner Schüler am Inhalt in Kauf."(32) Nicht zu Unrecht werden verstärkt feststellbare Tendenzen, dass immer mehr Schüler Latein nach Beendigung der Mittelstufe abwählen, mit diesen offensichtlich vorhandenen Schwächen des Unterrichts in Verbindung gebracht.

Dass es sich herbei um ein wirklich virulentes Problem handelt, zeigen die unterschiedlichen Vorschläge zur Behebung dieser Schwierigkeiten: Neben didaktischen Modellen, die eine konzentrierte Originallektüre von nur wenigen, sorgfältig ausgewählten Kernstellen in Kombination mit bilingualen Passagen, deutschen Paraphrasen oder Übersetzungen vorsehen, wurden auch Konzepte entworfen, die bewusst vom traditionellen Prinzip der Originalbindung abweichen. So sollen z. B. im Lateinunterricht Texte Verwendung finden, die im neusprachlichen und auch im Deutschunterricht nicht unüblich sind, aber für nicht wenige Lateinlehrer als "Todsünde"(33) gelten, nämlich sog. "easy readers", die den lateinischen Text in bearbeiteter Form unter dem Schwierigkeitsgrad des Originals darbieten. Sie liefern i. d. R. eine Vielfalt graphischer Hilfen (Interpunktion, Quantitäten, graphische Satzgliederung), z. T. umfangreiche sprachliche und inhaltliche Informationen (durch entsprechenden Sprach- und Sachkommentar) und zeichnen sich durch Texteingriffe unterschiedlicher Schwere aus, etwa durch den Ersatz ungebräuchlicher Vokabeln durch gebräuchlichere, die Umstellung oder gar Umformulierung von Satzgliedern, die Trennung langer Sätze, bis hin zur ersatzlosen Streichung von Sätzen.


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Diese Senkung des sprachlichen Anforderungsniveaus soll die Schüler allmählich zur Originallektüre überleiten, ihre Lektürefähigkeit weiterentwickeln, das zügigere Lesen interessanter Texte ermöglichen und vor allem durch eine Passung zwischen dem Schwierigkeitsgrad des Unterrichtsgegenstandes und dem Leistungsstand der Schüler zu einer Motivationssteigerung führen. Es genüge nicht, "sich nur auf eine nach sprachlichen Kriterien getroffene Textauswahl zu beschränken, vielmehr sollten Texte, die die Schüler interessieren, so ‚organisiert‘ werden, dass sie ‚lesbar‘ sind"(34), um die angestrebten Ziele wenigstens langfristig erreichen zu können. Das Angebot an entsprechenden Ausgaben mit in dieser Weise adaptierten Texten, die erstmals in den siebziger Jahren vom Kölner Arbeitskreis unter Peter Wülfing konzipiert worden waren, wurde in den letzen Jahren erheblich ausgeweitet und umfasst ein breites Autorenspektrum nicht nur aus der Antike, sondern auch aus Mittelalter und Neuzeit; so finden sich bearbeitete Texte zu Caesar(35) oder zu Einhards Karlsvita(36). Es finden sich jedoch auch Schultextausgaben, die sogar ausdrücklich eine Lektüre anstelle des Originals vorsehen, wie z. B. eine Livius-Ausgabe(37).

 

III. Wege zu einer Problemlösung?

Der Hinweis auf die vielfältige Kritik an der Originallektüre hat deutlich gemacht, dass die Problemlage komplex ist, und zwar in didaktisch-theoretischer wie methodisch-praktischer Hinsicht: Hat das ad-fontes-Prinzip seine grundsätzliche Gültigkeit verloren? Ist der Anspruch, dass im Lateinischen und Griechischen Originalliteratur behandelt wird, von einer offenbar unerfreulichen Unterrichtsrealität überholt? Muss der altsprachliche Unterricht seine Ziele grundsätzlich revidieren, um einen offensichtlich vorhandenen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis aufzulösen? Zur Beantwortung dieser Fragen will ich einige grundsätzliche Gedanken zur didaktischen Theorie und unterrichtlichen Praxis formulieren, die sich eher als Diskussionsanstöße, weniger als perfekt elaboriertes Konzept verstehen.
1. Der altsprachliche Unterricht kann als Teil des Fremdsprachenunterrichts nicht auf den Anspruch verzichten, seine Schüler, egal welche Lehrgangsform sie besuchen, mit lateinischer und griechischer Originalliteratur bekanntmachen zu wollen. Sollen Latein und Griechisch ihre Aufgabe als europäische Grundlagenfächer im Kanon der Fremdsprachen erfüllen, dann in der Hauptsache durch Übersetzung und Interpretation qualitativ hochstehender, wirkungsmächtiger und zugleich didaktisch geeigneter Texte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit.

In didaktischer sinnvoller Weise steht das sog. "mikroskopische Lesen" im Zentrum, das genaue Übersetzen aus der Fremdsprache, das man zu Recht als ein Charakteristikum des altsprachlichen Unterrichts, als seine "spezifische Form hermeneutischer Wahrnehmung"(38) bezeichnet hat. In der Tat fördert diese Form der Textarbeit "das Beobachten und Beachten der sprachlichen Details, ... der Strukturen des Satzes und des gesamten Aufbaus des Textes."(39)


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Neben formal bedeutsamen Bildungszielen wie "Genauigkeit und überlegtem Abwägen von Möglichkeiten"(40) soll im Rahmen der Originallektüre vor allem die muttersprachliche Kompetenz positiv entwickelt werden, indem die Schüler auf dem Wege bewusster Sprachreflexion lernen, geeignete Wörter und Ausdrücke zu suchen, sie kritisch zu prüfen, auszuwählen und anzuwenden. Das Übersetzen stellt daher eine kognitiv anspruchsvolle, ausgesprochen kreative Tätigkeit dar, ist ein "hochdifferenziertes Sprachtraining, da immer neue Sach- und Sinnverhalte mit den Mitteln der Muttersprache bewältigt werden müssen."(41)

Natürlich ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass sich das mikroskopische Lesen auf die oft mühevolle Dekodierung und Rekodierung einer so geringen Textmenge beschränkt, dass von einem eigentlichen Lesen nicht mehr die Rede sein kann. Es bedarf daher nicht nur des sorgfältigen Grammatik- und Wortschatztrainings, sondern auch der inhaltlichen Ergänzung durch bilingue Passagen, zweisprachige Textausgaben oder deutsche Übersetzungen, um größere Sinnzusammenhänge in den Blick nehmen zu können. Zudem ist einem Mangel entgegenzuwirken, nämlich den oft unzureichenden Kompetenzen von Schülern und Lehrern, wenn es darum geht, die lateinischen und griechischen Texte auf methodisch gesicherter Grundlage zu erschließen und zu übersetzen. Die jahrzehntelange Dominanz eines zumeist unreflektiert betriebenen Konstruierens, das seine Beliebtheit nicht zuletzt einem optimistischen Glauben an seine formale Bildungskraft verdankt, dürfte die Probleme der Originallektüre eher noch verschärft haben. Diese Kompetenzen müssen daher bereits in der Spracherwerbsphase angebahnt und eingeübt werden; geschieht dies erst nach Beendigung des Lehrwerks, ist der Lektüreerfolg schon dadurch massiv gefährdet.

Diese komplexe, kognitiv anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Fremdsprache bildet die Grundlage für die zentralen inhaltlichen Lernziele des Latein- und Griechischunterrichts. Sie bewirkt den entscheidenden qualitativen Unterschied zur vermeintlich schülerfreundlicheren und ökonomischeren Alternative der Textarbeit, nämlich dem Ersatz der Originale durch Übersetzungen: Die genaue sprachliche Entschlüsselung, d. h. der "engagierte Umgang mit Sprache und Text"(42) gilt in der didaktischen Diskussion zu Recht als die entscheidende Voraussetzung für ein vertieftes Textverstehen."(43) Den Schülern soll vor allem der Zusammenhang zwischen sprachlicher Gestaltung und inhaltlicher Intention deutlich werden; er erhält einen unmittelbareren Zugang zum literarischen Text ohne eine dazwischengeschaltete Vermittlungsstufe, er wird direkter sensibilisiert für die Unübersetzbarkeit von Wertbegriffen, kultureller oder philosophischer Begrifflichkeit. Daraus kann in sinnvoller Weise kritische Sprachkompetenz und Literaturfähigkeit, d. h. auch ein Empfinden für literarische Ästhetik, erwachsen. Zugleich wird ein didaktisch durchaus erwünschter Schwerpunkt auf Vertiefung und Nachhaltigkeit bei der Informationsaufnahme und –vermittlung gelegt. Die Stimmigkeit dieses Ansatzes mit seinem direkten Textzugriff wird besonders deutlich beim didaktisch sinnvollen Einsatz von Übersetzungen:


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Im Rahmen eines Übersetzungsvergleichs werden die Schüler nicht nur in die Problematik des Übersetzens eingeführt, sondern entwickeln auch ein kritisches "Vorbehaltsverhältnis"(44). Der Schüler merkt eindringlich, dass er sich, wenn er sich ausschließlich einem Übersetzer anvertraut, also einem Dritten, der sich zwischen Original und Leser stellt, letztlich der Manipulation aussetzt.(45) Durch eine gezielte Analyse bestimmter Gesichtspunkte (z. B. Wortfolge, Subjekt- und Prädikatbildung, Konnotation der Wörter usw.) kann die Einsicht erwachsen, dass das Original durch eine Übersetzung nicht völlig nachzuahmen ist.

Zugleich scheint auch ein genereller Ersatz der Originale durch Bearbeitungen wenig sinnvoll: Als Hauptgefahren derartiger Textbearbeitungen dürfen zu Recht die sprachlich-stilistische Verschlechterung der Textqualität und die Verfälschung von Textaussage und Autorenintention gelten. In der didaktischen Literatur wird daher immer wieder zu Recht auf derartige Schwächen aufmerksam gemacht. Eine tendenziell oberflächliche, durch entsprechende graphische Mittel unterstützte Leseanimation ist keine geeignete Alternative zur intensiven Lesearbeit – dieser Grundsatz gilt natürlich auch für die anderen fremdsprachlichen Fächer, die sich ebenfalls mit der in den Lehrplänen verstärkt feststellbaren Tendenz zur Vereinfachung literarischer Unterrichtsstoffe auseinandersetzen müssen.(46) So stehen z. B. bei der Lektüre Caesars wesentliche Interpretationsziele auf dem Spiel, wenn die Arbeit ausschließlich auf der Grundlage eines sprachlich veränderten Texts erfolgt. Es erscheint einleuchtend, dass die Demaskierung Caesars und seiner leserlenkenden Erzählstrategie besonders gut am Original gelingt. Bei der Beschäftigung mit dem lateinischen Text wird der Zusammenhang deutlich zwischen bewusst gestalteter Sprache, die beim Leser beispielsweise den Eindruck auktorialer Objektivität hervorrufen soll, und den eigentlichen, durchaus eigennützigen Interessen des Autors. Schließlich wird zu Recht auf die Gefahr hingewiesen, dass – gerade bei verkürzten Lehrgangsformen – keinerlei Originallektüre mehr zum Zuge komme und am Ende nur noch auf Bearbeitungen zurückgegriffen werde, wodurch zentrale literarische Ziele des altsprachlichen Unterrichts kaum noch aufrechtzuerhalten sind.

Aus diesen Gründen ist dem Versuch von Rainer Nickel, den Griechischunterricht in Abkehr vom Prinzip der Originalbindung neu zu positionieren, der Erfolg versagt geblieben. Nach Nickels Vorschlag aus den 80er Jahren sollte Griechisch in der Mittelstufe (9. Kl.) als Literatur- und Philosophieunterricht begonnen werden. In einem "Griechischunterricht ohne Griechisch" sollte die Lektüre (auch komplexer Texte Platons!) nur auf der Basis von Übersetzungen erfolgen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, etwa in der 11. Klasse, sollte der Sprachunterricht angeschlossen werden. Es ist deutlich, dass der essentielle Zusammenhang von "verba et res" auf diese Weise verdreht wird. Zugleich birgt dieses Modell nicht nur die Gefahr einer inhaltlichen Überforderung der 13- bis 14jährigen Schüler; vielmehr ist durch die schwer verständliche Umkehrung der Lernschritte auch die Verdrängung des Griechischen aus dem Kanon der Fremdsprachen vorgezeichnet.


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Schließlich dürfen auch Statements, in denen mit der angeblich völlig unverständlichen Fremdheit altsprachlicher Texte argumentiert und eine Preisgabe der Originallektüre gefordert wird, als problematisch gelten. Sie sind zumeist fachpolitisch motiviert und ignorieren nicht nur die höchst unterschiedlichen sprachlichen und inhaltlichen Anforderungsniveaus lateinischer und griechischer Texte, sondern auch, dass die zeitliche Distanz für die Zugänglichkeit und den Gegenwartsbezug literarischer Texte keinen entscheidenden didaktischen Nachteil darstellt, ganz im Gegenteil. Durch die Beschäftigung mit zeitlich weit zurückliegenden Texten wird den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, in Relativierung des eigenen Standpunkts distanzierter, neutraler und differenzierter auf die eigene Position zurückzublicken und ggf. den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen. Der Vorzug dieses Verfahrens zeigt sich am besten, wenn Inhalte behandelt werden, die Gefühle ansprechen, also z. B. Fragen der privaten Lebensführung oder moralische Problemstellungen im öffentlichen und privaten Bereich.

2. Welche praktischen Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aus diesen Überlegungen? Die anspruchsvollen Ziele können meiner Ansicht nach nur dann erreicht werden, wenn bereits die Vorbereitung der Lektürephase flexibler gestaltet und im Sinne eines Integrationsmodells Sprach- und Lektüreunterricht nicht streng von einander getrennt, sondern nach Möglichkeit miteinander verzahnt werden. Dieser Gedanke ist nicht neu und hat mittlerweile auch Einflüsse auf die Lehrplan- und Lehrbuchgestaltung gewonnen. Die methodischen Vorgaben für eine entsprechende Unterrichtsgestaltung sind eindeutig: So kann noch während der Arbeit am Lehrwerk eine Begleitlektüre einfacher oder vereinfachter Original- oder auch Kunsttexte erfolgen. Hierzu werden in jüngster Zeit verstärkte Anstrengungen unternommen, indem zu lateinischen Lehrwerken einfache Zusatzlektüren entwickelt werden, durch die den Schülern wirkliche Leseerlebnisse vermittelt werden sollen. Der dahinter stehende Gedanke scheint mir sehr sinnvoll: Soll der Lektüreerfolg langfristig angebahnt werden, müssen die Schüler mehr lesen, und zwar leichte Texte, deren Bewältigung die Lesekompetenz steigert und weitere Motivation erzeugt.

Ebenso sollte nach Beendigung des Lehrwerks – entsprechend der Leistungsfähigkeit der Lerngruppe - Raum für eine Übergangslektüre eingeplant werden. An dieser Stelle ist in sinnvoller Weise Platz für adaptierte Texte: Sie dienen der schrittweisen Vorbereitung der Originallektüre, nicht ihrem Ersatz. Der nicht selten artikulierte, doch wohl allzu puristische Hinweis auf eine Verwässerung humanistischer Traditionen oder Bildungsideale scheint in diesem Zusammenhang wenig hilfreich: Entscheidend ist, dass die Zu- und Übergänge zur Originallektüre intensiviert und flexibilisiert werden, um sich auf die sehr heterogenen Voraussetzungen der unterschiedlichen Schüler besser einstellen zu können. Dies sollte problemlos umzusetzen sein, da die Schulbuchverlage für das Lateinische mittlerweile ein reichhaltiges Angebot verschiedenster Schultexte anbieten. Im Griechischen existiert leider kein derartiges Angebot, hier ist der Lehrer auf Eigeninitiative angewiesen.


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Auch die Auswahlgrundsätze für die Originallektüre müssen in der Praxis flexibler gehandhabt werden, was kurz am Beispiel der lateinischen Mittelstufenlektüre erläutert werden soll. Obwohl seit dem Ende der sechziger Jahre durch den Einsatz Manfred Fuhrmanns der "Antike-Guckkasten"(47) als unzureichend für den Lateinunterricht empfunden wurde, geschieht es auch heute nicht selten, dass Schüler, die Latein nach der Mittelstufe abwählen, nur einen Originaltext, nämlich das Bellum Gallicum Caesars in ausgedehnter Weise kennengelernt haben, das dann obendrein noch als reiner Grammatiksteinbruch missbraucht wird und so kaum Anlass zu einer lohnenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit Caesar bietet.

Daher sollte gerade in den Lehrgangsformen, die auf die Mittelstufe beschränkt bleiben und die die große Mehrheit der Schüler betreffen, die Wahl der Originallektüre nicht mehr allein nach traditionellen Maßstäben klassizistischer Provenienz erfolgen: Es kommt vielmehr darauf an, dass aus der Fülle der vorhandenen Literatur aus Antike, Mittelalter und Neuzeit die angemessenen Texte ausgewählt werden, die im Zweifelsfall auch Schülern mit geringeren sprachlichen Fähigkeiten den Zugang zu inhaltlich aussagekräftigen, literarisch und kulturhistorisch bedeutsamen Texten eröffnen. Neben Klassikern wie Caesar, Catull, Cicero oder Martial gehören eben auch das Neue Testament, Jacobus de Voragine, Einhard oder Erasmus von Rotterdam dazu. Entscheidend scheint mir, dass man sich gerade in der Mittelstufe von formalen Vorgaben, die etwa die immer noch zu wenig flexiblen Latinumsvorschriften machen, befreit, die Lektüre wirklich nach validen inhaltlichen und didaktischen Kriterien auswählt und auch methodisch flexibler auf die veränderten Anforderungen der Schulpraxis reagiert. In sich sollten diese Autoren nach einer thematisch organisierten Kernstellenlektüre durchgeführt werden, die dann nach Bedarf um bilingue Passagen oder deutsche Übersetzungen ergänzt werden, um einen Gesamtüberblick über das jeweilige Werk bzw. Thema zu erhalten.

Insgesamt hat der Grundsatz der Humanisten, die unter Beachtung der Einheit verba et res in der sprachlichen und inhaltlichen Auseinandersetzung mit den originalen Quellen eine entscheidende Voraussetzung für deren pädagogische Wirksamkeit erblickten, im Kern nach wie vor seine Gültigkeit. Natürlich kann es nicht darum gehen, alt- oder neuhumanistische Grundsätze einer imitatio stilistisch und moralisch vorbildlicher Autoren der griechischen und römischen Antike zu übernehmen. Hier sind wir zu Recht vorsichtiger geworden, da die Idealisierung der Antike nach heutigem Verständnis keine angemessene Grundlage des altsprachlichen Unterrichts mehr sein kann.


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Dennoch weisen die skizzierten didaktischen Positionen der Humanisten Elemente auf, die auch für die Begründung des heutigen Latein- und Griechischunterrichts wichtige Eckpunkte darstellen: Zu Recht verstanden Erasmus, Melanchton und die anderen Humanisten Latein und Griechisch als gegenwartsbezogene Schulfächer, die den Schülern wertvolle Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln können, um sich selbstständig, kritisch und verantwortlich mit Fragen und Problemen der eigenen Gegenwart befassen zu können. Die Voraussetzung hierfür bildete die sprachliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit den Quellen der griechischen und lateinischen Originalliteratur – sie sollte es auch heute noch sein. Ein genereller Ersatz originaler Texte durch Übersetzungen oder adaptierte Texte scheint mir wenig sinnvoll, vielmehr bieten sich punktuelle Einsatzmöglichkeiten, jedoch nur zum unterrichtlichen Nutzen der Originale.

Auf die originalen Quellen ist also nicht zu verzichten, weder auf ihre Sprache noch auf ihre Inhalte: "Vor allem muss man zu den Quellen selbst eilen" – dieser Grundsatz des Erasmus und der Humanisten hat auch heute nach wie vor seine Berechtigung, und zwar in Verbindung mit größerer didaktischer und methodischer Flexibilität, die es erlauben, traditionelle Grundformen des altsprachlichen Unterrichts auch in der Gegenwart sinnvoll wirksam werden zu lassen. Ein Verlassen dieser Leitlinie würde zu einem Identitäts- und Statusverlust der Fächer führen und ebenfalls nicht ohne negative Auswirkungen auf die universitären Disziplinen bleiben. Bildungsautomatismen, also vermeintlich aus sich selbst heraus, unmittelbar wirksame Form- und Bildungskräfte der Sprache werden dabei zu Recht ausgeschlossen. So ist aus der eher zweifelnden Eingangsfrage "ad fontes?" eine Aussage, eher sogar eine Aufforderung im Sinne des Erasmus geworden: "ad fontes properandum!"

 

IV. Literaturverzeichnis

Buck, August: Humanismus, Freiburg/München 1987
Böhme, Günther: Bildungsgeschichte des frühen Humanismus, Darmstadt 1984
Böhme, Günther: Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus, Darmstadt 1986
Christ, Herbert: Fremdsprachenunterricht und Sprachenpolitik, Stuttgart 1980
Christ, Herbert: Fremdsprachenunterricht für das Jahr 2000, Tübingen 1991
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Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von Anton J. Gail, Paderborn 1963
Fuhrmann, Manfred: Die Antike und Ihre Vermittler, in: ders. Cäsar oder Erasmus? Die alten Sprachen jetzt und morgen, Tübingen 1995, 11-51
Fuhrmann, Manfred: Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Grossen bis Wilhelm II., Köln 2001
Glücklich, Hans-Joachim: Lateinunterricht, Didaktik und Methodik, Göttingen 1978, 21993
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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 70

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Melanchthon, Philipp: Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus; ausgew., übers. u. hrsg. von Günter R. Schmidt, Stuttgart 1989
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Nickel, Rainer: Einführung in die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts, Darmstadt 1982
Paefgen, Elisabeth K.: Einführung in die Literaturdidaktik, Stuttgart 1999
Paulsen, Friedrich: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 3., erw. Auflage, hrsg. v. Rudolf Lehmann, Bd. 1, Berlin 1919; Bd. 2, Berlin 1921
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Utz, Clement/Westphalen, Klaus (Hrsg.): Transit. Die Übergangslektüre (u.a. bearb. Texte zu Curtius Rufus, Caesar, Einhard, Ennea Silvio Piccolomini u.a.), Bamberg 1998 ff.
Westphalen, Klaus: Basissprache Latein, Bamberg 1992
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PD. Dr. Stefan Kipf, Freie Universität Berlin, Didaktik der Alten Sprachen, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, E-mail: kipf@zedat.fu-berlin.de


                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 71

(1) Es handelt sich bei diesem Beitrag um die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Rahmen seines Habilitationsverfahrens am 1.6.2005 an der FU Berlin gehalten hat.

(2) Manfred Fuhrmann (2001), 47.

(3)Philipp Melanchthon (1549), Sp. 862.

(4) cf. Philipp Melanchthon (1549), Sp. 862 f.

(5) Philipp Melachthon (1549), Sp. 858.

(6) Karl Hartfelder (1889), 167; cf. Philipp Melanchthon (1549), Sp. 859.

(7) Melanchthon (1549) bei Günther R. Schmidt (1989), 194: "Nam quod ad versiones attinet, vidimus, quanta miseria sit, si quis illis solis niti cogatur. Nam praeterquam quod vix fieri potest, ut sententia ubique eadem felicitate ac perspicuitate in alienam linguam transfundatur, multa etiam alia incommoda interpretationes sequuntur, fitque saepe, ut vel inter reddendum nativus sensus obscuretur vel in aliam quasi speciem transformetur atque ita pervertatur, ut vix eundum agnoscere possis et non raro usu venit, ut verius metamorphosin quam interpretationem talem versionem dicere possis: id quod non solum in sacris litteris, sed in aliis quoque disciplinis accidere solet." In Bezug auf andere Disziplinen kritisiert Melanchthon äußerst scharf die Übersetzungen mathematischer Texte: "nam versiones quam non sordidae, rudes, incultae tantum, sed etiam perversae sint, videmus.

(8) Philipp Melanchthon, de corrigendis adulescentiae studiis (1518), bei Hans Heusinger (1967), 31.

(9) cf. Friedrich Paulsen (31919), 68.

(10) Erasmus von Rotterdam (1511), 115: "Nam vera emendate loquendi facultas optime paratur, cum ex castigate loquentium colloquio convictuque, tum ex eloquentium auctorum assidua lectione, e quibus ii primum sunt imbibendi, quorum oratio, praeterquam quod est castigatissima, argumenti quoque illecebra aliqua discentibus blandiatur."

(11) cf. Erasmus von Rotterdam: Ausgew. Werke, Holborn, München 1933, 161. Möglicherweise nach Quint. I 11, 2: "Frequens imitatio transit in mores." Die Quelle für das Motto findet sich vielleicht bei Erasmus inst. princ. Christ. 2.14 "Inficiunt animos colloquia mala; at non minus lectio mala. Abeunt enim in mores et in affectus mutae illae litterae."

(12) Erasmus von Rotterdam (1511), 113: "Principio duplex omnino videtur cognitio rerum ac verborum. Verborum prior, rerum potior."

(13) Erasmus von Rotterdam (1511), 116.

(14) Erasmus von Rotterdam (1511), 137: "Primo loco ad conciliandos auditores, laudes eius, quem praelegendum sumit, paucis explicet. Deinde iucunditatem utilitatemque ostendat. Deinde vocem argumenti ... explicet ac distinguat." Erasmus hat diese Vorgehensweise eingehend an einem Beispiel beschrieben: "Will man also ...ein Lustspiel des Terenz erklären, so gebe man zuerst eine kurze Darstellung der Lebensumstände, des Dichtertalentes und der gewählten Schreibweise des Autors: alsdann spreche man von dem Vergnügen und Nutzen, welches das Lesen der Lustspiele gewährt ... Hierauf wird man eine möglichst kurze und klare Übersicht über den Inhalt des Stückes, zeige genau den Charakter der Dichtung, gebe eine allgemeine Einteilung derselben und gehe dann zu einer näheren Besprechung des Einzelnen vor." Hierzu zählt Erasmus z. B. ungewöhnliche Wortbildungen, Redensarten sowie grammatische und syntaktische Eigenarten. In diesem Zusammenhang soll man auch einen Blick auf die griechischen Quellen nehmen, um auf "verwandschaftliche Beziehungen, Nachahmungen, ... Übertragungen aus anderen Sprachen oder wörtliche Entlehnungen hinzuweisen, da ja bekanntlich die literarischen Erzeugnisse der Lateiner größtenteils auf denen der Griechen beruhen. Am Ende folgt dann die pädagogische Auswertung des Originaltextes: Man gehe nunmehr zur "philosophischen Betrachtung des Ganzen über und lege die moralische Bedeutung der dichterischen Erzählung dar oder stelle sie als Muster hin ..." (Erasmus (1511) bei Anton J. Gail (1963), 41f.)

(15) Erasmus von Rotterdam (1511), 138: "Postremo ad philosophiam veniat, et poetarum fabulas apte trahat ad mores ..."

(16) Erasmus von Rotterdam (1511), 144: "Quo iam tum assuescant adolescentes ei, quod est in omni re praecipuum, iudicio."

(17) Wilhelm von Humboldt (1822), 18.

(18) Hans-Eckehard Landwehr (1995), 234.

(19) Max Krüger/Georg Hornig (1959), 230.

(20) cf. Max Krüger/Georg Hornig (1959), 71: "Man könnte also kurz sagen: Interpretieren heißt richtig übersetzen."

(21) Friedrich Maier (1981), 8.

(22) Hans-Joachim Glücklich (1979), 151.

(23) "Historische Kommunikation meint den dialogischen Umgang mit Texten, die durch Fremdheit und historische Distanz gekennzeichnet sind, die aber durch die Beschäftigung in den eigenen Bewußtseinshorizont überführt werden und unmittelbare Betroffenheit hervorrufen." (Friedrich Maier (1997), 325)

(24) Friedrich Maier (1984), 90.

(25) Franz Josef Hausmann (21991), 66.

(26) Franz Josef Hausmann (21991), 66.

(27) cf. Franz Josef Hausmann (21991), 68.

(28) Franz Josef Hausmann (21991), 66.

(29) Franz Josef Hausmann (21991), 68.

(30) Franz-Josef Haussmann (21991), 66.

(31) Herbert Christ (1980), 180.

(32) Clement Utz (1994), 6.

(33) Klaus Westphalen (2001), 146.

(34) Jens Kühne (1999), 120.

(35) Heinrich Voit: Wege zu Cäsar, Transit 2, Bamberg 2004.

(36) Josef Burdich: Karl der Große, Transit 3, Bamberg 2003

(37) Livius: De intestino odio inter patres plebemque, Auswahl aus der 1. Dekade; bear. u. erl. von Meinhard W. Schulz, Klett 1998

(38) Klaus Westphalen (1992), 57.

(39) Friedrich Maier (1984), 91.

(40) Friedrich Maier (1984), 91.

(41) Klaus Westphalen (1992), 58.

(42) Friedrich Maier (1984), 91.

(43) Hans-Joachim Glücklich (1978), 82.

(44) Rainer Nickel (1979), 192.

(45) cf. Friedrich Maier (1986)I, 146.

(46) cf. Elisabeth K. Paefgen (1999), 153.

(47) Manfred Fuhrmann (1995), 40.