zurück     |       |   Seite drucken    

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 27

Peter Habermehl 

Tulliola – die vergessene Tochter.
Eine Spurensuche

 

Über vieles durfte Cicero sich zurecht beklagen, kaum jedoch über einen Mangel an Aufmerksamkeit. Was zu seinen Lebzeiten galt, gilt auch für den modernen Wissenschafts- und Schulbetrieb. Einem reizvollen Thema hat man dabei überraschend wenig Beachtung geschenkt: seiner Tochter Tullia und Ciceros Verhältnis zu ihr. In der philologischen und historischen Sekundärliteratur findet es selten mehr als marginales Augenmerk; in der Schule ist es, soweit ich sehe, gar nicht angekommen. Dabei war Tullia nicht nur die Tochter eines der eminentesten Protagonisten der späten Republik – diese eindrucksvolle junge Frau führte ein bewegtes Leben, das von familiären Konflikten so wenig verschont blieb wie von den Stürmen der späten Republik, denen Cicero dank seiner exponierten politischen Stellung ausgesetzt war wie kaum ein zweiter.

Eigene Zeugnisse aus ihrer Hand haben sich nicht erhalten, nicht einmal Briefe des Vaters an sie persönlich.(1) Gleichwohl bleibt Tullia nicht stumm. Verstreut über Ciceros reiche Korrespondenz findet sich eine ganze Palette von Nachrichten (von 67 v. Chr. bis zu Tullias Todesjahr, 45 v. Chr., also über einen Zeitraum von gut zwei Jahrzehnten), die sich ungeachtet aller Leerstellen zu einem faszinierenden Mosaik ihres Lebens zusammenfügen.(2)

Sie sind in substantieller Auswahl in der folgenden Testimoniensammlung versammelt (in chronologischer Ordnung), samt Übersetzung und knappen Hinweisen zu den Inhalten, und zwar als Handreichung für engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die auf dieses lohnende Sujet einmal eingehen möchten, z.B. im Anschluß an eine Lektüre von De re publica oder der zweiten Philippica, oder auch im Rahmen einer thematischen Einheit zur Rolle der Frau in der römischen Gesellschaft. Wer diese kleinen Texte liest (auch zwischen den Zeilen) und bespricht, samt der notwendigen Prise kritischer Spekulation, wird den Buchstaben Leben einhauchen und den Schatten dieser jungen Römerin für einen erhellenden Moment heraufbeschwören.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 28

79 v. Chr.

Am 5. August wird Tullia geboren (das Jahr steht nicht zweifelsfrei fest, wohl aber Tag und Monat, vgl. unten Nr. 7). Cicero ist 27 Jahre alt.

67 v. Chr.

(1) Tulliola, deliciolae nostrae, tuum munusculum flagitat et me ut sponsorem appellat. mihi autem abiurare certius est quam dependere. (Att. 1,8,3 / Febr. 67 v. Chr.).
[an Atticus] „Tulliola, meine Allerfeinste, verlangt von dir ihr Geschenkchen und bestellt mich zum Bürgen. Doch lieber kneife ich, als für dich den Kopf hinzuhalten.“

Tullia, die im übrigen so klein gar nicht mehr ist (sie zählt inzwischen 11 Jahre) ist von ‚Onkel‘ Atticus, Papas bestem Freund, offensichtlich Geschenke gewohnt. Sollte er sich freilich um seine Verpflichtung drücken, hat Papa einzuspringen und für das Geschenk zu bürgen – und sei es aus eigener Tasche. Auffällig ist die treffsicher eingesetzte iuristische Terminologie. Legt ihr die der stolze Vater in den Mund? Dagegen spricht deutlich das Nachspiel dieses Briefes, als das erhoffte Geschenk ausbleibt (Att. 1,10,6): Tulliola tibi diem dat, sponsorem non appellat („Tulliola macht dir den Prozeß; den Bürgen läßt sie laufen.“). Das aufgeweckte Mädchen weiß, mit welchem Speck sie die väterliche Maus fängt. Das gelingt ihr freilich nur, weil sie mit den termini technici in der Tat vertraut ist. Nicht von ungefähr ist sie die Tochter des gefragtesten Gerichtsredners Roms.
Stilistisch auffällig (auch im Kontrast zu Tullias ‚mündiger‘ indirekter Rede) sind die drei Diminutive am Satzanfang, die leicht nach Catull schmecken, und für die eindeutig der Vater verantwortlich zeichnet (allenfalls „munusculum“ könnte zu Tullias Rede gehören).

(2) Tulliolam C. Pisoni L. f. Frugi(3) despondimus. (Att. 1,3,3 / Ende 67 v. Chr.).
[an Atticus] „Tulliola habe ich mit Gaius Piso Frugi verlobt, dem Sohn des Lucius.“

So frühe Verlobungen (Tullia ist gerade einmal 12) waren in Rom durchaus üblich, selbstredend als Arrangement zweier Familien (oder zumindest des Brautvaters und des Bräutigams). Bis zur Hochzeit mit C. Calpurnius Piso Frugi (63 v. Chr.) vergehen allerdings noch rund vier Jahre. Überraschend nüchtern teilt der Vater die Nachricht en passant mit, kommentarlos, ohne jede emotionale Wertung.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 29

59 v. Chr.

(3) Ludi enim Anti futuri sunt a iiii ad prid. Non. Mai.(4) eos Tullia spectare vult. (Att. 2,8,2 / April 59).
[an Atticus] „In Antium finden nämlich vom 4. bis zum 6. Mai Spiele statt. Die will Tullia sehen.“

Antium (h. Anzio) liegt an der Küste des südlichen Latium. In der späten Republik war das mondäne Seebad ein beliebtes Ausflugsziel für die römische Nobilität, die dort etliche Villen besaß (Cicero hatte in Antium ein Stadthaus; atmosphärische Eindrücke des Orts vermittelt Att. 2,6). Von welchen Spielen Cicero hier redet, ist unbekannt (an blutige Gladiatorenkämpfe oder Tierhetzen ist gewiß nicht zu denken; möglicherweise ging es um Kultfeiern zu Ehren der göttlichen Fortuna, der in Antium ein wichtiges Heiligtum geweiht war). Immerhin waren sie eindrucksvoll genug, um Tullia, inzwischen eine junge Ehefrau von 19 Jahren, ans Meer zu locken.

58 v. Chr.

Ein bitteres Jahr für Cicero und die Seinen: Die Intrigen des Volkstribuns Clodius treiben Cicero in die Flucht nach Dyrrhachion und Thessalonike; sein Haus in Rom und das Tusculanum werden geplündert und zerstört, sein Vermögen konfisziert.

(4) Sed quid Tulliola mea fiet? iam id vos videte, mihi deest consilium. sed certe, quoquo modo se res habebit, illius misellae et matrimonio et famae serviendum est. (fam. 14,4,3 / April 58).
[an die Gattin Terentia] „Was soll mit Tulliola werden? Hier müßt ihr Sorge tragen; ich weiß keinen Rat. Doch was auch immer geschehen mag – die Ehe und den guten Namen der Ärmsten gilt es zu schützen.“

Cicero ist sichtlich besorgt. Welche Krise Tullias Ehe und Ehre gefährden, wissen wir nicht.(5) Shackleton Bailey ad loc. vermutet, es gehe um die Mitgift für C. Calpurnius Piso, die womöglich noch nicht (oder noch nicht ganz) bezahlt war.

(5) Quid quod eodem tempore desidero filiam? qua pietate, qua modestia, quo ingenio! effigiem oris, sermonis, animi mei. (Quint. 1,3,3 / Juni 58).
[an seinen Bruder] „Und daß ich mich gleichzeitig nach meiner Tochter sehne – dem Inbegriff der Vaterliebe (des Familiensinns), des Ehrgefühls, der Klugheit? Sie ist das Ebenbild meiner Züge, meiner Rede, meines Geistes.“

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 30

Eingebettet in warme Worte an den Bruder, den Cicero seiner Liebe versichert, und ein überschwengliches Lob seines Sohns findet sich eine Charakterskizze Tullias, der er über die beiden ‚weiblichen‘ Tugenden pietas und modestia hinaus auch nachdrücklich ingenium zuspricht, Verstand, intellektuelle Schärfe, (rhetorisches und literarisches) Talent. Mehr: Tullia ist sein junges Ebenbild, physisch wie intellektuell; in ihr lebt er gleichsam fort.

(6) Me miserum! te ista virtute, fide, probitate, humanitate in tantas aerumnas propter me incidisse, Tulliolamque nostram, ex quo patre tantas voluptates capiebat, ex eo tantos percipere luctus! (fam. 14,1,1 / Nov. 58).
[an die Gattin Terentia] „Ich Pechvogel! Daß du bei all deiner Tugend, Treue, Redlichkeit, Menschlichkeit meinetwegen in solche Nöte geraten mußtest, und daß der Vater, mit dem sie einst soviel Spaß hatte, unserer Tulliola soviel Kummer bereitet!“

Unter Ciceros Ächtung und Verbannung hat auch die Familie zu leiden, nicht zuletzt Tullia. Von den unbeschwerten Zeiten, die die beiden früher miteinander verlebten, ist nur hier einmal die Rede.

57 v. Chr.

(7) Prid. Non. Sext. Dyrrachio sum profectus (...). Brundisium veni Non. Sext.(6) ibi mihi Tulliola mea fuit praesto natali suo ipso die, qui casu idem natalis erat et Brundisinae coloniae et tuae vicinae Salutis; quae res animadversa a multitudine summa Brundisinorum gratulatione celebrata est. (Att. 4,1,4 / Sept. 57).
[an Atticus] „Am 4. August bin ich von Dyrrachium abgefahren (…); am 5. August landete ich in Brundisium. Dort erwartete mich meine Tulliola, just am Tag ihres Geburtstags – der zufällig auch der Gründungstag der Kolonie Brundisium war und der deiner Nachbarin, der Salus. Dieser Umstand erregte öffentliches Aufsehen und wurde von den Brundisinern mit allen guten Segenswünschen gefeiert.“

Aus der Verbannung kehrt Cicero im Triumph nach Rom zurück. In Brindisi, wo sein Schiff anlegt, erwartet ihn jedoch nicht seine Frau, sondern die geliebte Tochter (die womöglich seit kurzem Witwe ist; in diesem Jahr starb ihr erster Mann, C. Calpurnius Piso). Aus dieser Passage erfahren wir im übrigen Tullias Geburtstag, der sich (was der Vater als gutes Omen sieht) mit der Gründung der römischen Kolonie Brundisium deckt (244 v. Chr.), und mit der Weihung des Tempels der Göttin Salus auf dem Quirinal (302 v. Chr.), in dessen Nachbarschaft Atticus lebt. Daß ganz Brundisium Tullia feiert, erfüllt den Vater sichtlich mit Stolz.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 31

(7a) (Reditus meus), cum ipsis Nonis Sextilibus idem dies adventus mei fuisset reditusque natalis, idem carissimae filiae, quam ex gravissimo tum primum desiderio luctuque conspexi, idem etiam ipsius coloniae Brundisinae, idem Salutis (Sest. 131 / März 56).
„(Meine Rückkehr), als just auf den einen 5. August der Geburtstag meiner Ankunft und Rückkehr fiel, der Geburtstag meiner über alles geliebten Tochter, die ich damals nach schmerzlicher Sehnsucht und Trauer zum ersten Mal wiedersah, der Geburtstag der Kolonie Brundisium und der Heilsgöttin.“

Auch in einer öffentlichen Ansprache bekennt Cicero sich zu seiner Tochter und seinen Gefühlen für sie.

56 v. Chr.

Tullia verlobt sich mit Furius Crassipes (vgl. Quint. 2,6,1f.; fam. 1,7,11), den sie wohl noch im selben Jahr heiratet.(7) Zwei oder drei Jahre später wird diese zweite Ehe geschieden.

54 v. Chr.

(8) De re Piliae quod scribis, erit mihi curae. etenim est luculenta res Aureliani, ut scribis, indiciis, et in eo me etiam Tulliae meae venditabo. (Att. 4,16,4 / Juli 54).
[an Atticus] „Was du mir wegen der Geschichte mit Pilia [Atticus’ Frau] schreibst, darum werde ich mich kümmern. Denn es geht ja um ein nettes Sümmchen – wie Aurelian, wie du schreibst, durchblicken läßt. Und gleichzeitig mache ich mich dabei bei meiner Tullia lieb Kind.“

Worum es geht, ist ebenso wenig bekannt wie der erwähnte Aurelian. Am ehesten dürfte es sich um Vermögensangelegenheiten handeln (z.B. um eine Immobilie oder eine Erbschaft). Doch warum erweist Cicero Tullia mit seinem Engagement einen Gefallen? Weil sie Pilia mag? Oder kommt jene ‚lukrative Angelegenheit‘ auch ihr zugute?

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 32

51 v. Chr.

Nach der Scheidung von Furius Crassipes suchen Cicero und Atticus geeignete Heiratskandidaten für Tullia. Ein wichtiges Kriterium ist v.a. deren gesellschaftliche Position (vgl. Att. 5,4,1 [der Text ist stark verderbt]; 5,21,14; 6,1,10).

50 v. Chr.

(9) Tu quando Romam salvus (ut spero) venisti, videbis, ut soles, omnia quae intelleges nostra interesse, in primis de Tullia mea, cuius de condicione quid mihi placeret scripsi ad Terentiam. (Att. 6,4,2 / Juni 50)
[an Atticus] „Sobald du heil, wie ich hoffe, in Rom angelangt bist, kümmere dich bitte wie gehabt um alles, was mir, wie du weißt, am Herzen liegt – insbesondere um meine Tullia. Was mir wegen ihrer Heirat(8) am liebsten wäre, habe ich Terentia geschrieben.“

Die Suche nach einem dritten Ehemann für Tullia kommt in die heiße Phase. Der richtige scheint freilich immer noch nicht gefunden; Atticus soll eine Auge auf die Sache haben. Oder auf Tullia (daß letzteres nötig sein könnte, belegt Nr. 10)?

(10) Ego dum in provincia omnibus rebus Appium orno, subito sum factus accusatoris eius socer. ‚id quidem‘ inquis ‚di adprobent!‘ ita velim, teque ita cupere certo scio. sed crede mihi, nihil minus putaram ego, qui de Ti. Nerone, qui mecum egerat, certos homines ad mulieres miseram; qui Romam venerunt factis sponsalibus. sed hoc spero melius. mulieres quidem valde intellego delectari obsequio et comitate adulescentis. cetera noli exakanthizein (Att. 6,6,1 / Anfang August 50).
[an Atticus] „Während ich hier in der Provinz für Appius jeden roten Teppich ausrolle, hat man mich aus heiterem Himmel zum Schwiegervater seines Anklägers gemacht. ‚Gottes Segen!‘, sagst du. Warm nicht? Daß du es ernst meinst, dessen bin ich mir sicher. Aber glaub’ mir, es war das Letzte, das ich erwartet hätte. Wegen Ti. Nero, der mit mir verhandelt hatte, hatte ich bereits vertrauenswürdige Leute zu den beiden Frauen geschickt. Als sie nach Rom kamen, war die Verlobung bereits über die Bühne. Ich hoffe, so ist es besser. Jedenfalls entgeht mir nicht, daß die Frauen ganz aus dem Häuschen sind über die Artigkeiten und den Charme des jungen Mannes. Und ansonsten bitte keine Schwarzmalerei(9)!“

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 33

Auch als Prokonsul in Kilikien versucht Cicero, die Geschicke seines Hauses zu lenken. Während er mit einem potentiellen Schwiegersohn bereits handelseinig scheint, stellen ihn Frau und Tochter vor vollendete Tatsachen. Sie haben sich ebenfalls umgetan und einen Kandidaten gekürt (dessen Name Cicero wohl ganz bewußt ausspart), der zwar auf der politischen Gegenseite steht (von besonderen Rücksichten auf den Gatten und Vater kann also keine Rede sein), dafür aber mit obsequium und comitas punktet, Galanterie und Grazie. Was die Wirkung des stadtbekannten Beaus auf ‚seine‘ beiden Frauen angeht, gibt Ciceros leicht säuerlicher Kommentar sich keiner Illusion hin.(10) Nicht ohne gewisse Anstrengung versucht er, aus dem Unvermeidlichen das Beste zu machen.

(11a)  Gratulor tibi adfinitatem viri medius fidius optimi; nam hoc ego de illo existimo. cetera porro, quibus adhuc ille sibi parum utilis fuit, et aetate iam sunt decussa et consuetudine atque auctoritate tua, pudore Tulliae, si qua restabunt, confido celeriter sublatum iri. non est enim pugnax in vitiis neque hebes ad id quod melius sit, intellegendum. (fam. 8,13,1 / Juni 50).
[Caelius an Cicero] „Ich gratuliere dir zu der Verbindung mit einem fürwahr vorzüglichen Manne. Denn das ist es, was ich über ihn denke. Die (Unarten) im übrigen, mit denen er sich in der Vergangenheit selbst schadete, hat er mit den Jahren bereits abgelegt. Und sollte davon noch etwas übrig sein, so bin ich mir gewiß, daß dein vertrauter Umgang und Einfluß sowie Tullias Ehrbarkeit sie auslöschen werden. Denn er hängt nicht eisern an seinen schlechten Eigenschaften, noch tut er sich schwer zu begreifen, was der bessere Weg sei.“

Caelius gratuliert Cicero zum neuen Schwiegersohn – dessen dunklere Seiten ihm durchaus bekannt sind. Und er macht ihm Mut: zusammen mit der Tochter (deren Rolle das Stichwort pudor ausgesucht traditionell beschreibt) werde er den losen Vogel schon Anstand lehren.

(11b)  Dolabellam a te gaudeo primum laudari, deinde etiam amari. nam ea quae speras Tulliae meae prudentia temperari posse, scio cui tuae epistulae respondeant. (…) quod actum est di approbent! spero fore iucundum generum nobis, multumque in eo tua nos humanitas adiuvabit. (fam. 2,15,2 / August 50).
[Ciceros Antwort an Caelius] „Ich freue mich, daß du so fein über Dolabella sprichst, ja daß du ihn liebst. Denn was jene (Eigenschaften) angeht, von denen du hoffst, der Mutterwitz meiner Tullia könne sie bessern – ich weiß, wem deine Briefe gelten. [Diese Briefe sind nicht erhalten; der Kontext der folgenden Sätze bleibt dunkel.] (...) Mögen die Götter segnen, was geschehen ist. Ich hoffe, ich werde Gefallen an meinem Schwiegersohn finden; dein Taktgefühl wird uns dabei von großer Hilfe sein.“

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 34

Ciceros diplomatische Antwort verrät, wie schwer Dolabella ihm im Magen liegt – und wie skeptisch er Tullias pädagogischen Einfluß einschätzt. Auffällig ist jedoch eine feine Korrektur an Caelius’ Schlüsselsatz. Wenn überhaupt, wird nicht Tullias pudor Dolabella bessern, sondern ihre prudentia: ihre Klugheit, ihr gesunder Menschenverstand, ihre Reife. Cicero entrückt sie der schlichten Sphäre der typischen römischen matrona und charakterisiert sie als Mensch, der einem Dolabella in jeder Hinsicht das Wasser reichen kann.(11)

49 v. Chr.

Angesichts der drohenden Bürgerkriegs zwischen Caesar und Pompeius macht Cicero sich zusehends Sorgen um Tullia und Terentia (Att. 7,13,3). Er überlegt, ob die beiden überhaupt in Rom bleiben sollen (Att. 7,12,6), um alsbald zu beschließen, sie sollten sich auf den Landsitz in Formiae zurückziehen. Atticus soll sie überzeugen, Rom zu verlassen (Att. 7,15,3); Cicero erwarte sie in der Villa (Att. 7,18,5). Wenig später treffen sie in Formiae ein (Att. 7,19,1; 7,21,2; 7,24,2).

(12) Praesertim cum ii ipsi quorum ego causa timidius me fortunae committebam, uxor, filia, Cicerones pueri, me illud sequi mallent, hoc turpe et me indignum putarent. (Att. 9,6,4 / März 49).
[an Atticus] Cicero macht sich bittere Vorwürfe, daß er nicht an Pompeius’ Seite Italien verlassen habe, „zumal die, um derentwillen ich mich dem Schicksal gegenüber allzu hasenfüßig zeigte – Frau, Tochter, Söhne – es lieber wollen, daß ich jenen (Weg) einschlage; diesen betrachten sie als Schande und meiner nicht würdig“.

Ein seltener Einblick ins Innenleben der Familie. Offen, ja schonungslos diskutiert man im Haus des Konsuls dessen politische Rolle. Ciceros zögerliches Bekenntnis zu Pompeius, aus Rücksicht auf die Familie, stößt auf herzlich wenig Gegenliebe – auch bei Tullia.

(13) Sed cum ad me saepe mea Tullia scribat orans ut quid in Hispania geratur exspectem et semper adscribat idem videri tibi (...). Etsi nihil umquam tam fuit scribendum quam nihil mihi umquam ex plurimis tuis iucunditatibus gratius accidisse quam quod meam Tulliam suavissime diligentissimeque coluisti.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 35

valde eo ipsa delectata est, ego autem non minus. cuius quidem virtus mirifica. quo modo illa fert publicam cladem, quo modo domesticas tricas! quantus autem animus in discessu nostro! est storg», est summa sÚnthxij. tamen nos recte facere et bene audire vult. sed hac super re minus, ne meam ipse sump£qeian iam evocem. (Att. 10,8,1. 9f. / Mai 49).
[an Atticus] „Oftmals schreibt mir meine Tullia und bittet mich, ich solle erst abwarten, wie die Dinge sich in Spanien entwickeln – und fügt jedesmal hinzu, dies sei auch deine Meinung (…). Nichts verdiente es je mehr niedergeschrieben zu werden als dies, daß von all deinen Gefälligkeiten keine mir lieber war als die, daß du dich auf die rührendste und umsichtigste Weise um meine Tullia gekümmert hast. Sie selbst ist im höchsten Maße glücklich darüber, und ich nicht minder. Ihre Haltung ist wirklich wunderbar. Wie tapfer erträgt sie den Zusammenbruch des Staates, wie tapfer die häuslichen Kümmernisse! Welche Stärke hat sie bewiesen, als wir uns Lebewohl sagten! Das nenne ich Liebe und wahre Verbundenheit. Trotzdem will sie, daß ich recht handle und man gut von mir rede. Doch genug davon! Sonst fange ich am Ende an, mich selbst zu bemitleiden!“

Zweierlei gibt der Brief zu erkennen. Tullia hat die politischen Turbulenzen jener Tage genau im Blick und rät ihrem Vater zu einem sorgsam abgewogenenen Verhalten (in zartem Widerspruch zu Nr. 12).(12) Und der Vater bewundert die Charakterstärke der Tochter, die in allen familiären wie politischen Widrigkeiten Rückgrat und Haltung zeigt. Sie bewahrt die Fassung, wenn er sich in den Osten des Reichs verabschiedet, um sich Pompeius anzuschließen – um den väterlichen Schmerz zu lindern; sein öffentlicher Ruf gilt ihr viel; und sie will, daß er integer handele – als aufrechter Römer.

(14) Trans mare <te iturum esse> credere non possum, cum tanti facias Dolabellam et Tulliam tuam, feminam lectissimam, tantique ab omnibus nobis fias. (Att. 10,8a,1 / Mai 49).
[Antonius an Cicero] „Ich kann nicht glauben, daß du nach Übersee gehen willst, wo du doch so an Dolabella hängst und an deiner Tullia, dieser überaus bewunderungswürdigen Frau, und wo wir doch alle so an dir hängen (...).“

Selbst Antonius, der sechs Jahre später Ciceros Ermordung veranlassen wird, kennt das innige Verhältnis des Konsuls zu seiner Tochter, und zollt ihr Anerkennung.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 36

(15) Epistula tua gratissima fuit meae Tulliae et mehercule mihi. semper speculam aliquam adferunt tuae litterae. (Att. 10,13,1 / Mai 49)
[an Atticus] „Mit deinem Brief hast du meiner Tullia eine Riesenfreude gemacht – und mir natürlich auch. Immer bringen deine Briefe einen Schimmer Hoffnung.“

Da ihr Vater längere Zeit in Cumae aufgehalten wird, ist die inzwischen hochschwangere (vgl. Nr. 16) Tullia ihm nachgereist.

(16) Tullia mea peperit xiiii Kal. Iun.(13) puerum heptameniaion. quod eutokesen gaudeam; quod quidem est natum perimbecillum est. (Att. 10,18,1 / Mai 49).
[an Atticus] „Meine Tullia hat am 19. Mai ein Siebenmonatskind geboren, einen Jungen. Daß die Geburt gut verlief, darüber will ich froh sein. Zur Welt kam freilich ein ganz kraftloser Wurm.“

Immerhin 29 Jahre ist Tullia alt, als sie (für römische Verhältnisse ungewöhnlich spät) in Cumae ihr erstes Kind bekommt. Die fast lieblose Umschreibung des Großvaters (quod quidem est natum) ist wohl eine Reaktion auf die schwächliche Erscheinung des Säuglings, die wenig Hoffnungen ließ. In der Tat starb das Kind kurze Zeit später.

(17) Omnis molestias et sollicitudines quibus et te miserrimam habui, id quod mihi molestissimum est, et Tulliolam, quae nobis nostra vita dulcior est, deposui et eieci. (fam. 14,7,1 / Juni 49).
[an die Gattin Terentia] „Alle Quälereien und Sorgen, mit denen ich dich zur Verzweiflung trieb (was mir arg leid tut), und Tulliola, die mir lieber ist als mein Leben, habe ich ad acta gelegt und von mir geworfen.“

Vom Schiff aus (auf der Fahrt nach Hellas) sucht Cicero die Gattin zu beruhigen. Er zermürbe sich nicht länger mit den alten Sorgen, mit denen er vor seiner Abreise sie und Tullia gequält habe. Die junge Mutter (lebt das Kind noch?) bedenkt er hier nach vielen Jahren (zuletzt in Nr. 7) ein letztes Mal mit dem kindlichen Diminutiv.

48 v. Chr.

Eine ernste Erkrankung und eine längere Phase materieller Nöte (offenbar bedingt durch die noch zu zahlende Mitgift) bestimmen Tullias Leben.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 37

(18)    De dote quod scribis, per omnis deos te obtestor ut totam rem suscipias et illam miseram mea culpa et neglegentia tueare, meis opibus, si quae sunt, tuis, quibus tibi molestum non erit, facultatibus. cui quidem deesse omnia, quod scribis, obsecro te, noli pati. (Att. 11,2,2; März 48).
[an Atticus] „Was die Mitgift angeht, von der du schreibst: bei allen Göttern beschwöre ich dich, nimm die ganze Angelegenheit in die Hand und sorge für die durch meine Schuld und Nachlässigkeit Verarmte, sei es aus meinen Mitteln, wenn es denn welche gibt, und aus deinem Vermögen, wenn es dir keine Umstände bereitet. Daß es ihr an allem fehle, schreibst du. Ich beschwöre dich, laß dies nicht zu!“

Tullias plötzliche Notlage kehrt in der Korrespondenz regelmäßig wieder.

(19) Tulliae meae morbus et imbecillitas corporis me exanimat. quam tibi intellego magnae curae esse, quod est mihi gratissimum. (Att. 11,6,4 / Nov. 48; vgl. fam. 14,19 und 14,9).
  [an Atticus] „Daß meine Tullia krank und völlig von Kräften ist, macht mich ganz elend. Ich sehe, daß du rührend für sie sorgst; dafür bin ich dir von Herzen dankbar.“

(20) (...) tibi permitto, tu consule; tantum vide ne hoc tempore isti obesse aliquid possit. ignosce, obsecro te. non possum prae fletu et dolore diutius in hoc loco commorari. (Att. 11,7,6 / Dez. 48).
[an Atticus] „Ich überlasse es dir, entscheide du. Sieh nur zu, daß ihr in dieser Zeit kein Schade geschieht. Verzeih mir bitte; Kummer und Tränen lassen mich nicht länger bei diesem Thema verweilen.“

Offenbar bedrängen sie in jenen Tagen auch Gläubiger und Banken.

47 v. Chr.

(21) Ita omnibus rebus urgeor (…). quibus in miseriis una est pro omnibus quod istam miseram patre, patrimonio, fortuna omni spoliatam relinquam. (Att. 11,9,3 / 3. Jan. 47).
[an Atticus] „So setzt man mir von allen Seiten zu. (…) Von all diesen Nöten schmerzt eine besonders: daß ich die Ärmste ihres Vaters, ihres Erbes und aller Güter beraubt zurücklassen muß.“

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 38

(22) Tullia mea venit ad me prid. Id. Iun.(14) deque tua erga se observantia benevolentiaque mihi plurima exposuit litterasque reddidit trinas. ego autem ex ipsius virtute, humanitate, pietate non modo eam voluptatem non cepi quam capere ex singulari filia debui sed etiam incredibili sum dolore adfectus tale ingenium in tam misera fortuna versari idque accidere nullo ipsius delicto, summa culpa mea. (Att. 11,17 / Juni 47; vgl. Att. 11,25,3; fam. 14,11).
[an Atticus] „Meine Tullia ist am 12. Juni hier eingetroffen. Sie hat ausführlich von deiner Aufmerksamkeit und Güte ihr gegenüber berichtet und mir drei Briefe mitgebracht. Doch ihr Mut, ihr warmherziges Wesen, ihre Vaterliebe haben mich alles andere als aufgeheitert, wie es bei dieser einzigartigen Tochter eigentlich geschehen müßte. Vielmehr hat es mich mit unendlichem Schmerz erfüllt, daß so ein wunderbarer Mensch sich in einer so jammervollen Lage befindet, zudem ohne ihre Schuld, allein durch mein eigenes schweres Versagen.“

Tullia weilt wieder mehrere Monate (vgl. Nr. 24) bei ihrem Vater, der noch in Brindisi ist. Materielle und politische Nöte bedrücken die Familie noch immer; doch „diese einzigartige Tochter“ läßt sich nicht unterkriegen und sucht ihrem gramgebeugten Vater das Herz leichter zu machen.

(23) te oro ut de hac misera cogites, et illud de quo ad te proxime scripsi, ut aliquid conficiatur ad inopiam propulsandam, et etiam de ipso testamento. illud quoque vellem antea, sed omnia timuimus. melius quidem in pessimis nihil fuit discidio. (Att. 11,23,3 / Juli 47).

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 39

[an Atticus] „Bitte denke an die Arme, und an das, worüber ich dir zuletzt geschrieben habe, daß ein Weg gefunden werden muß, um ihre Mittellosigkeit zu beenden, und zudem auch an das Testament. Ich wollte, auch dies wäre früher geschehen; doch ich hatte Angst vor allem. Inmitten all der Übel gab es gewiß keinen besseren Weg als die Scheidung. [Es folgen kritische Bemerkungen zu Dolabellas gegenwärtigen Aktivitäten.]“

Tullia muß auch weiterhin mit bescheidenen Einkünften zurechtkommen. Die Scheidung von Dolabella bahnt sich an (warum es letztlich zu ihr kam, ist nicht überliefert). Die Abwicklung dieser Scheidung ist mit weiteren finanziellen Unannehmlichkeiten verbunden, von denen in mehreren Briefen die Rede ist.

(24) Nunc metuo ne sit exspectandum et cum reliquis etiam loci gravitas huic miserrimae perferenda. (Att. 11,21,2 / Aug. 47).
[an Atticus] „Wie es aussieht, muß ich wohl warten; und mit all ihren anderen (Nöten) muß die Allerärmste auch noch das schlechte Klima hier (in Brindisi) ertragen.“

46 v. Chr.

In dieses Jahr fällt Tullias Scheidung von Dolabella (und Ciceros Scheidung von Terentia – die das Verhältnis von Vater und Tochter offenbar nicht belastet).(15) Ende 46 oder Anfang 45 kommt das zweite gemeinsame Kind zur Welt.
 
(25) atque utinam continuo ad complexum meae Tulliae, ad osculum Atticae possem currere! quod quidem ipsum scribe, quaeso, ad me ut, dum consisto in Tusculano, sciam quid garriat, sin rusticatur, quid scribat ad te. (Att. 12,1,1 / Nov. 46).
[an Atticus] „Könnte ich doch geradenwegs in die Arme meiner Tullia eilen, und zu Atticas Küssen! Schreibe mir aber bitte unbedingt, damit ich, während ich in Tusculum weile, weiß, worüber sie (Attica) plaudert, oder wenn sie auf dem Land ist, was sie dir schreibt.“

Ein Moment der Ruhe. Mit Atticus und dessen Tochter Attica weilt Tullia in der Landfrische. Einen Monat später beauftragt Cicero sie, für ihn in Rom ein Nachbarhaus zu erwerben (fam. 7,23,4 / Dez. 46).

45 v. Chr.

(26) me Romae tenuit omnino Tulliae meae partus. sed cum ea, quem ad modum spero, satis firma sit, teneor tamen dum a Dolabellae procuratoribus exigam primam pensionem. (fam. 6,18,5 / Jan. 45).
[an Q. Lepta] „Die Niederkunft meiner Tullia hat mich in Rom zurückgehalten. Doch auch jetzt, wo sie, wie ich hoffe, weitgehend wieder zu Kräften gekommen ist, bin ich gleichwohl genötigt zu bleiben, um Dolabellas Verwaltern die erste Rate abzujagen.“

Geburt und die Abwicklung der Scheidung überschneiden sich. Wie labil nach der zweiten Niederkunft Tullias Gesundheit ist, deutet nur ein Nebensatz an. Etwa einen Monat später, Mitte Februar, stirbt Tullia – vermutlich an den Folgen dieser zweiten Geburt (über das Schicksal des zweiten Kindes ist nichts bekannt).

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 40

(27) Quod me ab hoc maerore recreari vis, facis ut omnia; sed me mihi non defuisse tu testis es. nihil enim de maerore minuendo scriptum ab ullo est quod ego non domi tuae legerim. sed omnem consolationem vincit dolor. quin etiam feci, quod profecto ante me nemo, ut ipse me per litteras consolarer. quem librum ad te mittam, si descripserint librarii. (…) (Att. 12,14,3 / März 45).
[an Atticus] „Es ist deine Art, daß du mich aufforderst, ich solle mich aus diesem Schmerz ermannen. Doch du selbst bist Zeuge, daß ich nichts unversucht gelassen habe. Denn es gibt keine Schrift über die ‚Linderung des Schmerzes‘, die ich bei dir zuhause nicht gelesen hätte. Doch der Schmerz ist stärker als alle Tröstung. Ich habe sogar etwas getan, was vor mir wohl niemand getan hat: ich habe mir selbst eine Trostschrift geschrieben. Ich schicke dir das Buch, sobald die Schreiber es kopiert haben. (...)“

Erst einige Wochen nach Tullias Ableben finden sich in Ciceros Korrespondenz Hinweise auf den Tod der Tochter. Der Versuch, seinen Schmerz literarisch zu bewältigen, sagt einiges über den Büchermenschen Cicero (diese sog. Consolatio ist ebenso verloren wie sein Hortensius).(16)

(28) Habebam quo confugerem, ubi conquiescerem, cuius in sermone et suavitate omnis curas doloresque deponerem. (fam. 4,6,2 / April 45; vgl. insgesamt fam. 4,6,1-3).(17)
[an Servius Sulpicius Rufus] In allem Elend der politischen Katastrophen „gab es jemanden, zu dem ich Zuflucht nehmen konnte, bei dem ich zur Ruhe kam, jemand, dessen Gespräch und Süßigkeit mich alle Sorgen und Schmerzen vergessen ließen.“

Ein gutes Vierteljahr trägt Cicero sich mit dem Gedanken, Tullia in Rom einen Schrein zu errichten, ein fanum, das ihre ‚Apotheose‘ verbildlichen solle, mit anderen Worten: ihre Vergöttlichung (bes. Att. 12,18,1; 12,36,1 / März bzw. Mai 45) – auch dies letztlich ein Versuch, den nagenden Schmerz zu bezwingen. Den Plan läßt er jedoch wieder fallen.(18)

Damit verschwindet Tullia aus Ciceros Briefen.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 41

Ausblick

Was lernen wir letztlich über Tullia? Ihr Leben verläuft in ähnlich unruhigen Bahnen wie das ihres großen Vaters – in dessen Schatten sie mitnichten verschwindet. Die Turbulenzen jener Zeit des dramatischen Umbruchs bleiben ihr nicht erspart. Mit Mutter und Bruder muß sie die langen und selten freiwilligen Abwesenheiten des Vaters bewältigen. Die Anfeindungen politischer Gegner machen vor der Familie nicht halt. Auch privates Unglück lernt sie sattsam kennen: gescheiterte Ehen, schwere Krankheiten, den Tod mindestens eines Kindes, das eigene Sterben an den Folgen der zweiten Geburt. Doch zu keinem Zeitpunkt läßt diese kluge und reife Frau sich unterkriegen. Sie bewahrt einen kühlen Kopf und trotzt allen Stürmen (oft unterstützt vom engsten Freund des Vaters, ‚Onkel‘ Atticus). Der Vater weiß ihren Kopf und Rat zu schätzen. Politisch bestens informiert (die Tagesereignisse wurden in der Familie offen diskutiert), hält sie mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Vor allem aber unterstützt sie ihren Vater bis zuletzt warmherzig und weitsichtig und versucht, ihn emotional nach Kräften zu entlasten, um ihm zugleich den Rücken zu stärken in seinem aussichtslosen Kampf für die untergehende Republik.

In Gefühlsdingen geht sie durchaus ihren eigenen Weg. Nach der arrangierten ersten und der offenbar glücklosen zweiten Ehe setzt sie sich für den dritten Anlauf ausgerechnet den charmanten Lebemann Dolabella in den Kopf, einen politischen Gegenspieler des Vaters. Auch wenn diese Ehe gleichfalls scheitert (auch an politischen Differenzen?), sie dürfte zumindest glücklicher begonnen haben (es spricht für sich, daß die bislang Kinderlose erst in dieser Ehe schwanger wird, obgleich Dolabella oft auf Reisen war, und gleich zweimal). Doch ihre Loyalität gehört letztlich stets dem Vater, mit dem sie eine innige und offenbar nie getrübte Liebe verbindet (ihrer Anhänglichkeit, die in den Briefen lebendig wird, findet ihr Gegengewicht in Ciceros evidenter Schwäche für die einzige Tochter).(19) In Ciceros rastlosem Leben war Tullia der ruhende Pol.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 42

Ausgewählte Literaturhinweise

J. P. V. D. Balsdon, Roman women. Their history and habits, 1962
K. R. Bradley, Discovering the Roman family, New York 1991
Suzanne Dixon, The Roman mother, London 21990
–, The Roman family, Baltimore 1992
–, Family finances. Terentia and Tullia, in: B. Rawson (Hg.), The family in Ancient Rome, London 1986, 93-120
Judith Hallett, Fathers and daughters in Roman society, Princeton 1984
B. Rawson, Marriage, divorce, and children in Ancient Rome, Oxford 1991
Susan Treggiari, Roman marriage, Oxford 1991

PD Dr. Peter Habermehl
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
Jägerstraße 22/23
10117 Berlin

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 43

(1) Daß es von ihr zumindest etliche Briefe gab, belegen einzelne Bemerkungen Ciceros (e.g. Att. 10,8,1 cum ad me saepe mea Tullia scribat eqs.).

(2) Alle Zitate aus Ciceros Briefen entstammen der maßgeblichen Ausgabe von D.R. Shackleton Bailey (Cambridge 1965-1980, 10 Bde.).

(3) Lies: Gaio Pisoni Luci filio Frugi. – Über Tullias ersten Ehemann ist wenig bekannt. 67 v. Chr. war er Münzmeister, 58 v. Chr. Quaestor (vgl. Der Neue Pauly 2, 1997, 944 s.v. Calpurnius I 20).

(4) Lies: a quarto ad pridie Nonas Maias.

(5) Ähnliche Töne schlägt Cicero in dem Brief fam. 14,2,1 an (Okt. 58).

(6) Lies: Pridie Nonas Sextilis bzw. Nonis Sextilibus. 27 v. Chr. wird der Sextilis förmlich umbenannt in mensis Augustus.

(7) Auch der zweite Ehemann bleibt als Person recht dunkel. Wohl 51 v. Chr. diente er als Quaestor in Bithynien (vgl. Der Neue Pauly 4, 1998, 716 s.v. Furius I 16).

(8) Zu dieser Bedeutung von condicio cf. das Oxford Latin Dictionary s.v. 2.

(9) Das hapax legomenon exakanthizein bedeutet lt. Liddell–Scott–Jones, A Greek-English Lexicon ‚einen Dorn herausziehen‘. Einleuchtender D.R. Shackleton Bailey ad loc. (Cicero’s Letters to Atticus iii, Cambridge 1968, 270): ‚mit Dornen überziehen‘, sinngemäß also ‚etwas noch stachliger gestalten‘, als es ohnehin bereits ist.

(10) Daß der frischgebackene Schwiegersohn es später auch dem Schwiegervater gegenüber mit einer Charmeoffensive versucht, belegt Att. 7,3,12 (Dez. 50; vgl. fam. 2,16,5). – Zu P. Cornelius Dolabella, einem einflußreichen und nicht eben pflegeleichten Parteigänger Caesars, vgl. Der Neue Pauly 3, 1997, 172f. s.v. Cornelius I 29.

(11) Als Klassische Philologen von altem Schrot und Korn erweisen sich hier Tyrrell–Purser, die, um Caelius’ Position zu retten, in ihrer Ausgabe konjizierten „Tulliae meae <pudore, mea> prudentia“. Cicero hatte seiner Tochter mehr zugetraut.

(12) Zu den politischen Hintergründen von Tullias Rat vgl. M. Gelzer, Cicero, Wiesbaden 1969, 253f.

(13) Lies: ante diem quartum decimum Kalendas Iunias.

(14) Lies: pridie Idus Iunias.

(15) Bald danach heiratet der Sechzigjährige Publilia, die mit ihren 17 Jahren halb so alt ist wie Tullia.

(16) Eine Idee von den Inhalten vermitteln Tusc. 3,76 und Laktanz (inst. div. 1,15,16-22; ein wörtliches Zitat ebd. 1,15,19f.).

(17) Als Antwort auf die Beileidsbekundung des Servius Sulpicius Rufus (fam. 4,5,5 / März 45).

(18) Zu den Hintergründen vgl. D.R. Shackleton Bailey, Cicero’s Letters to Atticus v, Cambridge 1966, 404-413.

(19)  Für die es in der späten Republik durchaus Parallelen gibt. Auch Caesar z.B. hing bekanntlich sehr an seiner Tochter.