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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 30

Angelika Lozar

 „Musen und Grazien“ -
Die Philologin und Übersetzerin Anne Le Fèvre-Dacier (1647-1720)


«Mais vous, de qui on m’assure que vous êtes une belle et agréable fille, n’avez vous pas honte d’être si savante? En vérité, c’est trop! et par quel charme secret avez-vous su accorder les Muses avec les Grâces? Si vous pouviez attirer à cette alliance la fortune, ce serait un accroissement presque sans exemple, auquel on ne saurait rien souhaiter de plus, si ce n’est la connaissance de la vérité, qui ne peut être longtemps cachée à une fille qui peut s’entretenir avec les saints auteurs dans leurs langues naturelles.(1)»

Christina von Schweden richtete diese begeisterten Zeilen im Jahr 1678 an die junge Gelehrte Anne Le Fèvre (seit 1685: Anne Dacier). Diese hatte bereits seit einigen Jahren in der Gelehrtenwelt Furore gemacht aufgrund der Tatsache, dass sie die griechische und lateinische Sprache mit einer Perfektion beherrschte, die ihresgleichen suchte. Ein ungewöhnliches Phänomen vor allem deshalb, weil sie eine Frau war oder, wie es Christina so treffend und zugleich einigermaßen erstaunt ausdrückt, sich in ihrer Person Musen und Grazien in einzigartiger Weise verbunden zu haben schienen. Nicht, dass es nicht damals viele, teilweise außerordentlich gebildete Frauen gegeben hätte: Das Besondere war vielmehr das Gebiet, auf dem Anne Dacier sich hervortat, nämlich die Beherrschung der griechischen und lateinischen Sprache, zu deren Studien Frauen im 18. Jahrhundert (und auch lange danach) zumindest offiziell nicht zugelassen waren.

Im Laufe ihres langen Lebens edierte und übersetzte Anne Dacier eine Vielzahl griechischer und lateinischer Werke. Dazu zählen u.a. Komödien (Aristophanes, Plautus, Terenz), die Gedichte Anakreons und Sapphos; ferner – in usum delphini, also für den französischen Thronfolger – die Historia Romana des Florus, die Epigramme und Fragmente des Kallimachos, De bello Troiano von Dictys Cretensis und De excidio Troiae des Dares Phrygius, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ihre bedeutendste Leistung bestand in den kommentierten Prosaübersetzungen der Ilias und der Odyssee, die auch in der heutigen Forschung zu den besten Homerübersetzungen des 18. Jahrhunderts zählen. So äußert etwa Noémi Hepp, die Übersetzungen Daciers seien sprachlich fast fehlerfrei; zudem hebt sie hervor, dass „[…] quelquefois la traductrice hésite entre plusieurs sens et dans ce cas elle indique en note les sens qu’elle n’a pas retenus. Parfois elle est la première à voir clair la où chacun avant elle a buté […]“.(2)

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Während die übrigen Arbeiten Daciers inzwischen in Vergessenheit geraten sind,(3) sind ihre Homerübersetzungen seit einiger Zeit wieder Gegenstand intensiverer Forschung, die sich insbesondere auf ihre Rolle in der letzten Phase der sog. Querelle des Anciens et des Modernes konzentriert. Bevor ich mich dieser zentralen Auseinandersetzung des Siècle classique, in der es kurz gesagt darum ging, ob die Antike der Moderne in Wissenschaft und Künsten überlegen sei oder ob es sich umgekehrt verhalte, und dem Anteil Anne Daciers an dieser Debatte zuwende, möchte ich zunächst die wesentlichen Etappen ihrer Biographie vorstellen.

Daciers Begabung für Latein und Griechisch wurde von ihrem Vater Tanneguy Le Fèvre (1615-1672) entdeckt und gefördert, der als Professor für Griechische Sprache an der protestantischen Akademie von Saumur tätig war.(4) Unter der Regentschaft Richelieus hatte Le Fèvre die königliche Druckerei im Louvre geleitet. Nach dessen Tod verließ er Paris aus persönlichen Gründen und ließ sich, inzwischen zum Calvinismus übergetreten, in der Nähe von Saumur nieder. Hier widmete sich Tanneguy Le Fèvre, obwohl von Hause aus Katholischer Theologe, uneingeschränkt der antiken Literatur, wobei sein besonderes Interesse der Dichtung galt (Sappho, Anakreon, Aristophanes und Plautus). Zu seinen sonstigen Werken zählt eine Méthode pour commencer les humanités grecques et latines, eine Art Didaktik des Latein- und Griechischunterrichts für Anfänger (erschienen in Saumur 1672), nach der er auch seine eigenen Kinder unterrichtete. Von diesen war Anne zweifellos die begabteste, so dass sie bald von ihm in seine Studien einbezogen wurde. Die wissenschaftliche Karriere Annes, für die das Ansehen Tanneguy Le Fèvres in der „république des lettres“ eine günstige Basis darstellte, ist auch als Produkt der engen, fast symbiotisch zu nennenden geistigen Beziehung zu ihrem Vater zu werten, was in ihren Arbeiten immer wieder zum Ausdruck kommt. Man kann feststellen, dass sich die Gelehrte Anne Dacier in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem väterlichen geistigen Erbe entwickelt hat, von dem sie sich nie vollständig lösen konnte. In dieser Weise wurde sie auch – zumindest anfänglich – in intellektuellen Kreisen wahrgenommen: als „fille savante“ Tanneguy Le Fèvres. Symptomatisch für ihre Selbsteinschätzung ist, dass sie ihre ersten Publikationen als „Anna Tanaquilli Fabri Filia“ zeichnete. Sie widmete diese Ausgabe ihrem Förderer Pierre-Daniel Huet, einem Freunde des Vaters, vermerkte aber im Widmungsbrief

Hoc unum dicam, VIR ILLUSTRIS. Pater meus tibi Epistolarum suarum volumen tertium dedicandum parabat, ni mors illum maturior abstulisset: nunc, ut me verè illius filiam tester, ultimam ejus voluntatem jure hereditario persequar necesse est: ut & tandem officio isto jungar, Callimachum redivivum tibi offero.(5)

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Auch an der Auswahl der von Anne zunächst bearbeiteten Autoren wird deutlich, wie sehr sie sich vom Vorbild des Vaters leiten ließ. Dieser hatte in seiner Méthode bestimmte Schriftsteller als besonders geeignet für den lateinischen Anfangsunterricht empfohlen, so z.B. die heute für den Schulunterricht bedeutungslosen Autoren Florus, Dictys Cretensis, Eutropius, Iustinus und Aurelius Victor(6). Zu diesen sowie zu Anakreon, Kallimachos, Sappho und Terenz hatte Tanneguy entweder Editionen oder andere Vorarbeiten hinterlassen, auf die Anne zurückgreifen konnte.

Zwischen 1674 und 1683 publizierte Anne mehrere Editionen in usum Delphini, zu denen sie, nachdem sie nach dem Tode ihres Vaters zusammen mit André Dacier,(7) gleichfalls ein Schüler Tanneguy Le Fèvres und ihr späterer Ehemann, in Paris eingetroffen war, von Pierre Daniel Huet und einem anderen Freund ihres Vaters, Paul Pellisson, beauftragt worden war.(8)

Einen ersten Höhepunkt erfuhr ihre Karriere, als sie 1679 in die Nobilissima Accademia de’ Signori Ricovrati von Padua aufgenommen wurde. 1681 veröffentlichte sie eine französische Übersetzung der Gedichte von Anakreon und Sappho, den Lieblingsdichtern ihres Vaters, dessen editorische Vorarbeiten sie wiederum benutzte.(9)

Ein großes Projekt, die Edition sämtlicher griechischen und römischen Dramen mit Kommentar und französischer Übersetzung, konnte sie nicht zur Gänze ausführen. Zunächst wurden lediglich drei Komödien des Plautus (Amphitruo, Epidicus, Rudens, 1683) und zwei des Aristophanes (Wolken, Plutus, 1684) ins Französische übersetzt und kommentiert.(10)

Man könnte von einer „Erfolgsstory“ sprechen, hätte ihre wissenschaftliche Leistung auch durch Ludwig XIV. eine entsprechende Würdigung gefunden. Doch als Anne Le Fèvre und André Dacier, die damals noch „in wilder Ehe lebten“, 1682 dem König vorgestellt wurden, stießen sie auf keinerlei freundliche Aufnahme. Ausschlaggebend für die ablehnende Haltung des Königs war die Tatsache, dass Anne und André Calvinisten waren. Beide erklärten sich, wenn auch nach anfänglichem Zögern und verbunden mit einer mehrjährigen Abwesenheit von Paris, schließlich – unmittelbar vor dem Edikt von Fontainebleu (1685), dem Widerruf des Edikts von Nantes – zum Konfessionswechsel bereit. Zu diesem Schritt hatte sie auch der Rat wohlmeinender Freunde und Gönner wie etwa Huets und Pellissons bewogen, die ein primär wissenschaftliches Interesse daran hatten, dass die Daciers an den Hof zurückkehren konnten. Offensichtlich spielte aber der massive politische und finanzielle Druck des „Sonnenkönigs“ die wesentliche Rolle. Denn Ludwigs erklärtes Ziel war es, die intellektuelle protestantische Elite, zu der Anne und André Dacier gehörten, mit allen verfügbaren Mitteln auszubluten, indem es ihnen auf Dauer unmöglich gemacht wurde, anderswo als am französischen Hof – und zwar nur als Katholiken – Karriere zu machen.

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Nach ihrer Konversion kehrten Anne und André, inzwischen verheiratet, 1686 nach Paris zurück und erschienen wiederum vor dem König, der sie nun wohlwollend aufnahm und mit einträglichen Pensionen ausstattete, womit ihr Lebensunterhalt für die weitere Zukunft gesichert war.(11) Und schon 1688 publizierte Anne eine Übersetzung der Komödien des Terenz, die wiederum aufgrund ihrer Qualität Aufsehen erregte: „Ce Térence devint pour un siècle le Térence de la France (...) sinon même de l’Europe“.(12)

Die Daciers entschlossen sich nun, gemeinsame Projekte zu verfolgen. Aus ihrer Zusammenarbeit sind allerdings nur zwei Werke hervorgegangen: die 1691 erschienene Ausgabe der „Selbstbetrachtungen“ Marc Aurels und eine 1694 – allerdings nur unter Andrés Namen veröffentlichte – Edition von sechs Parallel-Viten Plutarchs.(13)

Um 1695 machte sich Anne Dacier an ihr eigentliches Lebenswerk, die Übersetzung der Werke Homers. Ihre Iliade erschien 1711, ihre Odyssee-Übersetzung 1716; fast 20 Jahre hatte sie also insgesamt benötigt, um diese Arbeit zu vollenden.

Mit beiden Übersetzungen, die sie, wie übrigens auch alle anderen Übersetzungen antiker Dichtung, in Prosa verfasst hatte, verfolgte sie das Ziel, den zeitgenössisch äußerst umstrittenen Homer zu rehabilitieren. Der Herausforderung eines solch ambitionierten Projekts war sie sich vollkommen bewusst und sie reflektiert diese ausführlich in ihren Vorworten zu ihren Übersetzungen, in denen sie auch mehrfach betont, dass sie häufig der Mut verlassen habe bei einem Unternehmen, dass ihre Kräfte schier zu übersteigen drohte.

In ihrem Vorwort zur Ilias-Übersetzung behandelt Dacier fünf Problemkomplexe, die ihr die größten Schwierigkeiten bereitet haben:

1. die Natur des Epos im Allgemeinen, die nach ihrer Ansicht für ihre Zeitgenossen infolge eines korrumpierten Literaturgeschmacks unzugänglich sei;
2. der Umgang Homers mit Allegorien und Mythen, deren tiefere Wahrheit sich einer Epoche wie der ihren, die klare, eindeutige Aussagen verlangt, nicht erschließt;
3. die für zeitgenössische Verhältnisse vielfach zu primitiven Sitten und Charaktere der Homerischen Helden;
4. die Übertriebenheit der Erfindungen Homers, die oftmals unglaubwürdig, ja teilweise regelrecht anstößig sind;
5. das Problem der Sprache Homers, die nach Daciers Ansicht nicht mit der französischen Sprache ihrer Zeit kompatibel ist.

Im Vorwort zur Odyssee verfolgt sie u.a. das äußerst ambitionierte Ziel, die Regeln der epischen Dichtung auf der Grundlage der Poetik des Aristoteles und der Ars poetica des Horaz an Ilias und Odyssee zu demonstrieren und deren „sagesse“ und „utilité“ zu zeigen.

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Doch trotz ihrer zum Teil regelrecht apologetisch formulierten, aber doch auch gut begründeten Vorbemerkungen stieß ihr Unternehmen von Anfang an keineswegs nur auf positive Akzeptanz, sondern rief sowohl – teilweise überschwängliches(14) – Lob als auch äußerst scharfe Kritik hervor. Allerdings bezog sich diese nicht auf die sprachlich-philologische Qualität, da die Kritiker oftmals des Griechischen nicht mächtig waren. Vielmehr warf man Anne Dacier vor, sie habe sich nicht bemüht, die dem zeitgenössischen „goût“ zuwiderlaufenden Fehler Homers zu beseitigen. Diese Mängel, die sich teilweise bis in die Antike zurückführen lassen, betreffen, wie man etwa Charles Perraults Parallèle des anciens et des modernes entnehmen kann, vier Aspekte: „sujets“, „mœurs“, „pensées“ und „diction“.(15) Doch beabsichtigte Dacier nichts weniger, als Homer dem Zeitgeschmack anzunähern. Im Gegenteil:

J’advouë que je n’ay pas cherché à adoucir la force de ses traits pour les rapprocher de nostre siecle.(16) […] En un mot le poëme imite ce qui est, & non pas ce qui n’a esté qu’aprés luy. Homere ne pouvoit pas se conformer aux usages des siecles suivant; & c’est aux siecles suivants à remonter aux usages de son siecle. C’est un des premiers preceptes de l’art poëtique de bien marquer les mœurs […].(17)

Das Erscheinen von Daciers Iliade, auf die im Jahre 1714 Antoine Houdar(t) de La Motte mit einer in Versen verfassten, auf zwölf Gesänge reduzierten Version desselben Epos und einem Discours sur Homère reagierte,(18) ließ denn auch die Querelle des Anciens et des Modernes ein letztes Mal aufflackern(19) – diesmal als Querelle d’Homère. In dieser Auseinandersetzung vertrat Anne Dacier mit einer gewissen, nicht nur auf ihre Zeitgenossen, sondern auch auf moderne Leser teilweise befremdend wirkenden Radikalität die Position der Anciens,(20) und man muss feststellen, dass ihre Argumente für Homer, den in ihren Augen „göttlichen“ Dichter, dessen Werk hinsichtlich seiner Inspiriertheit, seiner in jeder Hinsicht vollkommenen Schönheit und seiner „ewigen Wahrheiten“ unmittelbar auf die Heilige Schrift folgt, von der Sache her für die Akzeptanz Homers seitens seiner Gegner nicht förderlich waren.

Der Verlauf der Querelle ist inzwischen gut untersucht.(21) Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es keine wirklichen „Sieger“ gab, dass aber, wie Hans Robert Jauß feststellt,
[…] schließlich jene andere geschichtliche Denkart, der ›Historismus‹ des 18. Jahrhunderts, aus einer Auseinandersetzung über Fragen des ästhetischen Urteils hervorging, an welcher die Kritik der Anciens an der versuchten Einordnung der Künste in die Perspektive des universalen Fortschritts nicht weniger Anteil hat als die Kritik der Modernes an der so lange unbestrittenen Autorität der klassischen Überlieferung.(22)

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Außer Zweifel steht in jedem Fall, dass Anne Dacier ihr primäres Ziel nicht erreicht hat, ihrer Epoche eine Homerübersetzung zu schaffen, die es überzeugend vermocht hätte, den Primat des antiken Vorbilds über die zeitgenössische Epik zu erweisen. Mögen ihre Übersetzungen auch immerhin viel gelesen worden sei, so dürfte doch einzig ihre gründlich reflektierte, fundierte Entscheidung für eine Prosaübersetzung für die weitere Zukunft richtungsweisend gewesen sein.(23)

Andererseits ist es verständlich, dass Dacier vor allem auf die Ilias-Übersetzung De La Mottes und seinen Discours entrüstet reagierte, denn dieser machte genau das, wogegen sie sich – mit vollem Recht, aber mit den falschen Argumenten – verwahrte: Er passte Homer dem Geschmack seiner eigenen Epoche an, kürzte ihn radikal, „versüßte“ die Sprache und die Charaktere, griff sogar verändernd in den Text ein.

Dacier wehrte sich mit einem Traktat mit dem Titel Des causes de la corruption du goût, in dem sie mit einer recht scharfen Polemik ihren Standpunkt gegenüber De La Motte verteidigte. Da sowohl Anne als auch De La Motte sehr prominent waren und zudem in denselben Kreisen verkehrten, blieb die Auseinandersetzung natürlich nicht ohne Resonanz(24) und Parteibildung beim literaturästhetisch interessierten Publikum und führte zu unterschiedlichen Stellungnahmen seitens verschiedener Gelehrter pro und contra Homer. Von Daciers Anhängern möchte ich Alexander Pope zitieren, der 1715-1720 eine Ilias-Übersetzung in sechs Bänden publizierte und in seinen Reflexions to the first Book Dacier Anerkennung zollt: „She has made a farther attempt than her predeccessors to discover the beauties of the Poet [...] her remarks are the moste judicious collection extant of the scatterd observations of the ancients and moderns, as her preface is excellent, and her translation equally careful and elegant.”(25)

In den nächsten Jahren publizierte Anne Dacier zwei weitere Beiträge, Homère défendu contre l’apologie du R. P. Hardouin(26) und einen Artikel Reflexions sur la première Partie de la Preface d M. Pope, den sie – eine gewisse Tragik des Schicksals – vollkommen missverstanden hatte, da sie des Englischen nicht mächtig war und deshalb seine Anerkennung als Kritik aufgefasst hatte. Dieser Artikel war ihre letzte Veröffentlichung und erschien erst 1719 als Appendix zur 2. Auflage ihrer Ilias-Übersetzung, drei Jahre nachdem sie sich mit Houdar De La Motte öffentlich versöhnt hatte.

Bald darauf erkrankte Anne Dacier schwer und starb am 17. August 1720 an einem Schlaganfall.

Zu Anne Daciers bleibenden Verdiensten um Homer dürften, wie ich meine, insbesondere zwei Leistungen zählen. Zum einen möchte ich ihre richtungsweisende Entscheidung für eine Prosa-Übersetzung antiker Dichtung im Allgemeinen und Homers im Besonderen nennen, die sie in ihrem Vorwort zu Ilias-Übersetzung reflektiert.

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Ihre diesbezüglichen Überlegungen stellen nach Fabienne Moore(27) einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Übersetzung und der Entwicklung ihrer Theorie dar, der bisher kaum wahrgenommen worden ist.

Mir erscheint es allerdings müßig, nach der ästhetischen Qualität von Daciers Übersetzung zu fragen. Dass auch sie fraglos Zugeständnisse an die Erwartungen des von ihr ausdrücklich adressierten, zeitgenössischen „Laien“publikums gemacht hat, liegt auf der Hand. So hat sie sich z.B. bemüht, die von Homer häufig gebrauchten und für ihn typischen Epitheta zu umgehen, indem sie z. B. aus der berühmten „kuhäugigen Hera“ eine „Juno mit großen Augen“ macht, damit aber die Plastizität der Sprache Homers unterminiert. In ihren Anmerkungen nimmt sie allerdings oft Gelegenheit, die Unterschiede zwischen ihrer Übersetzung und der wörtlichen Formulierung des Originals nachzuweisen.

Wesentlich erscheint mir zudem die Tatsache, dass sie – gegen den zeitgenössischen mainstream – die zentrale Rolle Homers für die abendländische Dichtung erkannt und verteidigt hat, die auch heute unbestritten ist. Mag Homer auch nicht mehr als ‚Originalgenie’, ‚poète divin’ oder ‚prince des poètes’ gelten, so doch als Begründer der abendländischen Textualität, dessen Aktualität, wenngleich sie immer wieder neu und aus anderen Perspektiven erschlossen werden muss, nicht in Frage steht.

„In den letzten Jahren ist speziell in Deutschland viel Zeit darauf verwendet worden, darzulegen, wie fern Homer uns sei. Die Rede war von der ‚Alterität’ Homers, seiner ‚Nicht-Aktualisierbarkeit’ […] Hinter solchen Äußerungen steht wohl vor allem eine Überschätzung der eigenen Besonderheit […] Das Andersartige zwischen Homer und uns, das faßbar wird vor allem in den äußeren Strukturen, schrumpft gegenüber dem erkennbar Gleichgebliebenen zusammen.“ (28)

 

Literatur

1. Werke der Anne Dacier

Editionen in usum Delphini (es wird nur jeweils die 1. Auflage genannt)

Anna Fabri, Lucii Annaei Flori historia Romana, cum interpretatione et notis in usum Delphini, Lutetiae Parisiorum, 1674.

Callimachi Cyrenaei Hymni, Epigrammata et Fragmenta ... cum notis Annae Tanaquilli Fabri Filiae, Parisiis 1675.

Dictys Cretensis de bello Troiano et Dares Phrygius de excidio Troiae, interpretatione et notis illustravit Anna Tanaquilli Fabri filia, iussu Christianissimi Regis in usum Serenissimi Delphini, Lutetiae Parisiorum, 1680.

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Sexti Aurelii Victoris historiae Romanae compendium, interpretatione et notis illustravit Anna Tanaquilli Fabri filia, iussu Christianissimi Regis in usum Serenissimi Delphini, Parisiis, 1681;

Eutropii historiae Romanae breviarium ab Vrbe condita usque ad Valentinianum et Valentem Augustos, notis et emendationibus illustravit Anna Tanaquilli Fabri filia, iussu Christianissimi Regis in usum Serenissimi Delphini, Parisiis 1683.

 

Weitere Editionen/Übersetzungen

Les Poesies d’Anacréon et de Sapho, traduites de grec en françois avec des remarques par Mademoiselle Le Fèvre, Paris 1681.

Comedies de Plaute, traduites en François, avec des Remarques et un examen selon les règles du théâtre, par Mademoiselle Le Fevre, Paris, 1683 (3 Bde).

Les Comédies de Térence, Paris 1688 (3 Bde).

Le Plutus et les Nuées d’Aristophane. Comédies greques traduites en françois. Avec des remarques & un examen de chaque pièce selon les règles du théâtre. Par Mademoiselle Le Fèvre, Paris 1684.

Réflexions morales de l’empereur Marc Antonin. Avec des remarques, Paris 1691.

L’Iliade d’Homère. Traduite en françois. Avec des remarques. Par Madame Dacier, Paris 11711 (3 Bde).

L’Odyssée d’Homère, traduite en françois avec des remarques, par Madame Dacier, Paris 1716 (3 Bde).

L’Iliade d’Homère. Traduite en françois, avec des remarques, par Madame Dacier. Seconde Edition Revëue, corrigée et augmentée, avec Quelques Reflexions sur la Preface Angloise de M. Pope, Paris 21719 (3 Bde).

Des causes de la corruption du goust, Paris 1714.

Homère défendu contre l’Apologie du R. P. Hardouin, ou Suite des Causes de la corruption du Goust, par Mme Dacier, Paris 1716.

Reflexions sur la première Partie de la Preface d M. Pope (1719 in der 2. Auflage ihrer Ilias-Übersetzung)

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Sekundärliteratur

Bury 1999:
E. Bury, Madame Dacier, in: Colette Nativel (Hg.), Femmes savantes, savoirs des femmes. Du crécuspule de la Renaissance à l’aube des Lumières. Actes du colloque de Chantilly, 22-24 septembre 1995, Genf 1999, S. 209-222.

Cary 1963 :
E. Cary, Mme Dacier, Houdar de la Motte et les « belles infidèles », in : ders., Les grands traducteurs français, Genf 1963, S. 29-59.

Farnham 1976:
F. Farnham, Madame Dacier. Scholar and Humanist, Monterey 1976.

Foulon 1993 :
É. Foulon, Madame Dacier: une femme savante qui n’aurait point déplu à Molière, in: Bulletin de l’Association Guillaume Budé (1993, Fasc. 4), S. 357-379.

Hepp 1968 :
N. Hepp, L’Homère de Madame Dacier, in: dies., Homère en France au XVIIième siècle, Paris 1968, S. 628-660.

Jauß 1964 :
H. R. Jauß, Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes, in: Einleitung zu: Ch. Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes, München 1964 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen, 2)

Latacz 1989:
J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, München/Zürich 2. Auflage 1989.

Malcovati 1952:
E. Malcovati, Madame Dacier. Una gentildonna filologa del gran secolo, Florenz 1952 (Biblioteca del Leonardo,  49).

Moore 2000:
F. Moore, Homer Revisited: Anne Le Fèvre-Dacier’s Preface to her Prose Translation of the Iliad in Early Eighteenth-Century France, in: Studies in the Literary Imagination Bd. 33,2, 2000, S. 87-107.

Santangelo 1984:
G. S. Santangelo, Madame Dacier, una filologa nella „crisi“ (1672-1720), Rom 1984 (Biblioteca di cultura, 255).

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Van Dijk 1988:
S. Van Dijk, Madame Dacier jugée par les journalistes: Femme ou savante?, in: dies., Trâces de femmes. Présence féminine dans le journalisme Français du XVIIIe siècle, Amsterdam/Maarssen 1988, S. 191-225.



Dr. Angelika Lozar
Freie Universität Berlin
Sonderforschungsbereich 447. Kulturen des Performativen
Grunewaldstr. 35, 12165 Berlin
alozar@zedat.fu-berlin.de

 

____________________

(1) Hervorhebung im Zitat von mir. Das im Brief Christinas ausgedrückte Erstaunen über die Möglichkeit einer produktiven Allianz zwischen weiblicher Schönheit und Geist findet sich auch in der folgenden Äußerung Pierre Bayles in den Nouvelles de la République des Lettres: „Si je m’en souviens biens, Mlle Le Fèvre surpassa tous les autres en diligence et gagna le pas à je ne sçai combien d’hommes qui tendoient au même but […] Ainsi, voilà nôtre sexe hautement vaincu par cette illustre Sçavante, puisque dans le temps que plusieurs hommes n’ont pas encore produit un Auteur, elle en a publié quatre.“(Zitate Foulon 1993, S. 366-367; vgl. ferner Van Dijk 1988).

(2) Hepp 1968, S. 651f.

(3) Zu Leben und Werk Anne Daciers liegen drei Monographien vor: Malcovati 1952, Farnham 1972 und Santangelo 1984.

(4) Vgl. zu seiner Biographie Bury 1991, S. 79-89.

(5) Bury 1991, S. 214 + Anm. 29.

(6) Florus, Aurelius Victor und Eutropius waren von Tanneguy bereits ediert worden.

(7) Auch André Dacier hat sich durch einige maßgebliche Ausgaben und Übersetzungen antiker Texte hervorgetan, u.a. einer mehrfach aufgelegten kommentierten Gesamtausgabe und Übersetzung der Werke des Horaz, Platons, der Poetik des Aristoteles  und einer Übersetzung der Parallelbiographien Plutarchs. Insbesondere seine – heute weitgehend vergessene – Übersetzung der Poetik, der man im Verhältnis zur italienischen Rezeption – hier ist vor allem auf Castelvetro zu verweisen – eine allzu „starke Unterwerfung unter die Autorität des Aristoteles“ und daraus resultierende Rückschrittigkeit vorgeworfen hat, wurde nicht nur in Frankreich, sondern etwa auch in England und Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit großem Interesse aufgenommen und zitiert. Ähnliches gilt auch für seine Plutarch- und Platon-Ausgaben.

(8) Die einzelnen Ausgaben sind in der Literaturliste aufgeführt.

(9) Annes späterer Gegner in der Querelle des Anciens et des Modernes, der Dichter Antoine Houdar(t) de La Motte, widmete ihr ein Lobgedicht, in dem er – wohl etwas übertrieben – ihre Übersetzungsleistung dem poetischen Können Anakreons voranstellte.

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(10) Vgl. Foulon 1993, S. 368.

(11) Anne Dacier gehört zu den wenigen Frauen ihrer Epoche, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. André Dacier wurde 1695 zum Sekretär der Académie Française gewählt. Den Höhepunkt seiner Karriere am Louvre bildete seine Ernennung zum Königlichen Bibliothekar 1720.

(12) Foulon 1993, S. 370.

(13) Nach der Erstveröffentlichung der Plutarch-Ausgabe, deren letzte Auflage 1897 erschien, zirkulierte in den Pariser Salons ein Epigramm auf das in zweifacher Hinsicht „fruchtbare“ Ehepaar Dacier, in dem in leicht anzüglicher Form der eigentlich eher dem Mann zustehende Anteil Annes an der wissenschaftlichen Produktion der beiden auf den Punkt gebracht wird: „Quand Dacier et sa femme engendrent de leurs corps / Et que de ce beau couple il naît enfants, alors / Madame Dacier est la mère, / Mais quand ils engendrent d’esprit / Et font des enfants par écrit, / Madame Dacier est le père.“ (Santangelo 1984, S. 62, Anm. 89)

(14) Dieses Pathos dürfte nicht zuletzt durch die Tatsache begründet sein, dass die Homerübersetzungen von einer Frau stammten, ein Aspekt übrigens, der auch in der Querelle keine unwesentliche Bedeutung gehabt hat, s. z.B. Van Dijk 1988, S. 191-225.

(15) S. Perrault 1964, 4. Dialog, S. 32.

(16) Homer 1711, S. XXIII.

(17) Ebd., S. XXIV.

(18) Da Houdar(t) de La Motte der griechischen Sprache nicht mächtig war, orientiert sich seine unzutreffend von ihm selbst als solche bezeichnete „Übersetzung“ an derjenigen Daciers.

(19) Offiziell war die Querelle 1687 von Charles Perrault durch den Vortrag seines Gedichtes „Poème sur le siècle de Louis Le Grand“ in der Académie Française eröffnet worden.

(20) Insbesondere erregte ihre als Reaktion auf De La Mottes Discours sur Homere verfasste Streitschrift Des causes de la corruption du goust von 1714 Anstoß.

(21) Hepp 1968, Jauß 1964 und 81986, Krüger 2001, Morton 2003, Roloff 1988, Santangelo 1984.

(22) Jauß 1964, S. 13.

(23) S. Moore 2000.

(24) Zu der Medienresonanz dieser Auseinandersetzung vgl. Van Dijk 1988.

(25) Moore 2000, S. 101.

(26) Hardouin veröffentlichte 1716 eine Apologie d’Homère.

(27) Moore 2000, S. 88.

(28) Latacz 21989, S. 30f.