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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 41

Bernhard Zimmermann

Odysseus – Metamorphosen eines griechischen Helden
Struktur und Leitmotive der Odyssee

 

Keine andere Gestalt der griechischen Mythologie hat ein Odysseus vergleichbares Nachleben nicht nur in der Literatur, sondern auch in den Bildenden Künsten und Musik gefunden. Seit den homerischen Epen, seit der Mitte des 8. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein faszinierte er immer wieder Künstler, Komponisten und Literaten aufs neue. Ein Blick in Jane Davidson Reids The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300-1990s (Oxford 1993) belegt eindrucksvoll die Dichte und Vielfalt der Rezeption, das Lexicon iconographicum mythologiae classicae dokumentiert die Anziehung, die gewisse Szenen und Motive der Odyssee auf die Künstler der Antike ausübten, einschlägige Nachschlagewerke verweisen auf die Beliebtheit des Odysseus in der nachhomerischen Literatur der Griechen und Römer. So ist es angesichts der Dichte und Vielfalt der Rezeption natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, ein auch nur annährend vollständiges Bild der Odyssee und des Odysseus auf dem Weg durch die Jahrhunderte nachzuzeichnen, zumal nicht nur dem Protagonisten, sondern auch den anderen zentralen Gestalten des Epos – Penelope, Telemach, Nausikaa, Kirke und Kalypso – vielfache Beachtung in den verschiedenen Künsten zuteil wurde.
Odysseus ist nicht zu trennen von der Odyssee, jenem wohl wenige Jahrzehnte nach der Ilias in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts entstandenen Epos. Ich kann in diesem Rahmen natürlich nicht auf die Homer-Frage, also die Frage des Autors und die Einheit des Werks, eingehen, sondern nehme das Werk in der vorliegenden Form als bewusst konzipierte dichterische Einheit. Ebenfalls kann ich die Frage nicht behandeln, die momentan in der Forschung diskutiert wird, ob nicht doch Hesiods Werke älter als die Odyssee sind.
Bevor wir uns den für die Rezeption zentralen Aspekten der Odysseus-Gestalt zuwenden, wollen wir einen Blick auf die vielschichtige, durch viele Handlungsfäden, Fernbeziehungen und Leitmotive eng verknüpfte Struktur des Werks werfen.

Das Epos besteht aus mehreren, eng miteinander verbundenen Blöcken:

1. Telemachie (B. 1-4)
2. Odysseus bei Kalypso (B. 5)
3. Odysseus bei den Phäaken (B. 6-12)
Odysseus und Nausikaa (B. 6-7)
Odysseus am Phäakenhof (B. 8)
Die Apologe (B. 9-12)
4. Die Heimkehr (B. 13-24)
Bei Eumaios (B. 13-16)
Am Hof, Freiermord (B. 17-23)
Auf dem Land bei Laertes, Versöhnung (B. 24)

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Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Feinstruktur der Apologe:

1. Kikonen (9,39-61)
9 Tage Sturm.
2. Lotophagen (9,82-104)
Vergessen der Heimat; Odysseus verweigert den Genuss.
Unsichtbare Gefahr.
3. Kyklopen (9,105-566)
Niederste Stufe vor Kulturentwicklung, Gegenwelt zu Phäaken.
Sichtbare Gefahr.
Neugier, Ehre.
4. Aiolos (10,1-79)
Äußerster Westen, schwimmende Insel; Götterwelt.
9 Tage, Ithake in Sicht.
Unverstand der Gefährten.
5. Laistrygonen (10,80-132)
Verbindung von Kyklopen und Kikonen, kannibalische Giganten.
6. Kirke (10,13-574)
Magischer Bereich. Ihr bezaubernder Gesang weist auf Kalypso zurück und auf die Sirenen voraus.
Vergessen der Heimat.
 7. Katabasis (11)
Überschreiten der den Menschen gesetzten Grenzen.
Zusammentreffen mit Helden der jüngsten, eigenen und lang zurückliegenden Vergangenheit, gipfelnd mit Herakles.
8. Rückkehr zu Kirke (12,1-152)
Vorwegnahme der folgenden Abenteuer.
9. Sirenen (12,153-200)
Unsichtbare Gefahr.
Neugier.
10. Skylla und Charybdis (201-259)
Sichtbare Gefahr
11. Trinakria, Rinder des Helios (260-402)
Höhepunkt des Unverstands der Gefährten.

Ich kann natürlich nicht im Detail auf die Leitmotive des Epos eingehen; da jedoch die Leitmotive in enger Verbindung zur Odysseus-Gestalt stehen, möchte ich dennoch die wichtigsten kurz ansprechen:

(1) Das Motiv der menschlichen Verantwortung, das Wechselspiel von Hybris und Tisis, von Grenzverletzung und Strafe, das von Zeus im Göttervorspiel des 1. Buchs (28-43) angesprochen wird:

Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter;
Denn er gedachte bei sich des tadellosen Aigisthos,
Den Agamemnons Sohn, der berühmte Orestes getötet;
Dessen gedachte er jetzo und sprach zu der Götter Versammlung:
Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter!
Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel, und dennoch
Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend.
So nahm jetzo Aigisthos, dem Schicksal entgegen, die Gattin
Agamemnons zum Weib und erschlug den kehrenden Sieger,
Kundig des schweren Gerichts! Wir hatten ihn lange gewarnet,
Da wir ihm Hermes sandten, den wachsamen Argosbesieger,

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Weder jenen zu töten noch um die Gattin zu werben.
Denn von Orestes wird einst das Blut Agamemnons gerochen,
Wann er, ein Jüngling nun, des Vaters Erbe verlanget.
So weissagte Hermeias; doch folgte dem heilsamen Rate
Nicht Aigisthos, und jetzt hat er alles auf einmal gebüßet.

In den die Götterversammlung, die über Odysseus’ Schicksal beraten will, eröffnenden Worten des Göttervaters wird die theologische Dimension des Werks vorgegeben – die Frage, die für die Tragödie des 5. Jahrhunderts zentral sein wird, wie das Verhältnis der Menschen zu den Göttern zu verstehen ist, wie sich menschliche Verantwortung und Vorbestimmung, Schicksal (móros) zueinander verhalten. Abgesprochen wird das für Sophokles zentrale Problem der menschlichen Erkenntnisfähigkeit: selbst nach göttlicher Warnung ist der Mensch nicht in der Lage, sich eines Besseren zu besinnen und einen in Unverstand (atasthalíe) eingeschlagenen Weg ins Unheil abzubrechen, um danach, wenn ihn die Strafe ereilt hat, trotzdem den Göttern als Urhebern alles Übels Vorwürfe zu machen. Das Hybris-Thema zielt natürlich in erster Linie auf die Freier, die seit Jahren in Ithaka das Vermögen des abwesenden Fürsten verprassen, jedoch auch auf die Gefährten des Odysseus, die, wie es im Proömium heißt, aufgrund ihres Unverstandes zu Tode kamen (1,7), aber auch auf Odysseus selbst, der in seinem Verhalten nicht frei von grenzüberschreitenden Zügen ist und deshalb unter Poseidons Zorn zu leiden hat. Dadurch, dass Homer als Beispiel für Hybris, für Grenzüberschreitung, gerade Aigisth wählt und damit Agamemnons Heimkehr evoziert, legt er einen exakt parallelen Subtext, gleichsam eine Warnung, wie eine Heimkehr nach langer Zeit misslingen kann, in seinem Werk an, entsprechen doch die Protagonisten der Agamemnon- exakt denen der Odysseus-Handlung: der Heimkehrer Agamemnon dem heimkehrsüchtigen Odysseus, Klytaimnestra Penelope, Aigisth den Freiern und Orest Telemach, Odysseus’ Sohn.

(2) Durch diesen Subtext wird ein weiteres zentrales Thema angedeutet, das in den  Büchern 1-4 und später in Buch 22 und 24 breit ausgeführt wird: Der Gegensatz Ordnung – Chaos, legitime – illegitime Herrschaft. Durch die lange Abwesenheit des Herrschers und Ehemanns gerät nicht nur der familiäre Kosmos aus den Fugen, sondern die Gesellschaft droht in Unordnung und Chaos, in Stasis, „Bürgerkrieg“ oder bürgerkriegsähnliche Zustände zu geraten. Und tatsächlich wäre nach der Rückkehr und Rache des Odysseus Ithaka in Bürgerkrieg versunken, wenn nicht die Göttin Athena gleichsam als dea ex machina die streitenden Parteien, Odysseus, Laertes und Telemach auf der einen und die Rache verlangenden Verwandten der Freier auf der anderen Seite durch ihr Eingreifen getrennt hätte.

(3) Die Unordnung, die sich durch die Abwesenheit des Vaters im Oikos verbreitet hat, kommt vor allem in der Vater-Sohn-Beziehung zum Ausdruck. Durch die Abwesenheit des Vaters und die Anwesenheit der Freier verzögert sich die Entwicklung Telemachs zum Erwachsenen, seine Initiation in die Welt der Verantwortung tragenden Bürger Ithakas. So stellt sich gleich zu Beginn die Frage, nach dem ersten Auftritt Telemachs im ersten Buch, ob denn dieser junge Mann überhaupt in der Lage wäre, Orest vergleichbar, die Ordnung im Haus und dem Machtbereich des Vaters wiederherzustellen oder gar ihn zu rächen.

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(4) Durch die Agamemnon-Anklänge wird schließlich das Thema der List evoziert: Der siegreiche Heimkehrer wird in Mykene von Aigisth und Klytaimnestra mit List ermordet, und Orest nimmt, wie es bei den Tragikern deutlich betont wird, mit List, nicht mit offener Waffengewalt Rache für die Ermordung seines Vaters. In der Odyssee lassen sich alle wichtigen Personen in ihrem Handeln von List bestimmen, allen voran Odysseus selbst, aber auch Penelope, Telemach, die Freier.

Diese Leitmotive mögen genügen, um zu zeigen, in welchem Maße die Odyssee die Tragödie des 5. Jahrhunderts konzeptionell beeinflusste, wobei diese Beeinflussungen teils deutliche Odyssee-Bezüge aufweisen, teils jedoch nur verschleiert, versteckt auftauchen. Auf eine strukturelle Besonderheit der Zeus-Rede sei besonders hingewiesen: Zeus illustriert den vorliegenden Fall mit einem mythologischen Paradigma, Aigisthos, und gibt damit eine Folie vor, vor der die Odyssee gelesen werden soll. Ähnlich verfahren die Tragiker des 5. Jahrhunderts, die insbesondere in den Chorliedern mythologische Exempla anführen, die zur Deutung der Haupthandlung dienen sollen.

 

Odysseus in der Odyssee

Das Proömium des Epos gibt die Perspektiven vor, unter der wir uns der Gestalt des Odysseus annähern können:

Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach
Wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte.
Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen
Kennen und litt auf dem Meer viel Schmerzen in seinem Gemüte,
Um sein Leben bemüht und die Heimkehr seiner Gefährten.

Im Musenanruf im Proömium der Odyssee werden die wichtigsten Eigenschaften angedeutet, die für das Odysseus-Bild der Odyssee und der Rezeption von der Antike bis in die Moderne ausschlaggebend sein werden: Haupteigenschaft ist seine Fähigkeit, sich in allen Situationen zurechtzufinden (polýtropos). Odysseus ist der die Heimat in langen Irrfahrten Suchende, er ist der Städtezerstörer, besonders der Bezwinger Trojas, er ist der große Dulder, der jedoch in allem Leid, das ihn traf, nie das Wohl der Freunde aus den Augen verlor, schließlich ist er der Wissbegierige, der vieler Menschen Siedlungen sah und ihr Wesen kennenlernte. Zentral ist Odysseus’ Eigenschaft, sein Ziel, die Heimkehr, nicht aus den Augen zu verlieren. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt er all seine Vielgewandtheit ein, nimmt jede Art von Leid und Erniedrigung auf sich. Eng verbunden mit dem Motiv der Heimkehr ist das Thema der menschlichen Identität, des Verlustes und der Wiedergewinnung der Identität, die der Odyssee-Dichter mit psychologischem Feingefühl nachzeichnet. In Buch 5, in dem uns Odysseus nach der Telemachie zum ersten Mal entgegentritt, wird er in geradezu klinisch zu nennender Depression in die Handlung eingeführt. Hermes kommt zu Kalypso, um ihr die Heimfahrt des Odysseus im Auftrag der Götter zu befehlen (Od. 5,80-84):

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Doch nicht traf er darin den großgesinnten Odysseus,
Denn der saß wie sonst am Meeresufer und weinte,
Sich sein Herz zerquälend mit Tränen und Seufzen und Schmerzen.
Über das Meer, das wogende, blickte er, Tränen vergießend.

Und wenig später begibt sich Kalypso zu dem trauernden Odysseus (Od. 5,149-158):

Doch zu Odysseus ging, dem großgesinnten, die hehre
Nymphe, als sie des Zeus Gebote vernommen, und fand ihn,
Der am Ufer des Meeres saß; ihm wurden die Augen
Nicht mehr trocken von Tränen; das süße Leben zerrann ihm,
Der sich nach Heimkehr sehnte; denn nicht mehr gefiel ihm die Nymphe;
Sondern die Nächte wohnte er noch erzwungen der Göttin,
Selbst nicht wollend der wollenden, bei in der wölbigen Grotte;
Aber am Tag saß er auf Felsen oder am Sandstrand,
Sich sein Herz zerquälend mit Tränen und Seufzen und Schmerzen.
Über das Meer, das wogende, blickte er, Tränen vergießend.

Der Tiefpunkt des Identitätsverlustes ist nach seinem Schiffbruch erreicht, als er nackt am Strand von Scheria angespült wird und wie ein Tier einen Unterschlupf sucht (5,474 ff.). Die Wiedergewinnung seiner Identität setzt in Buch 6 ein: zunächst im Zusammentreffen mit Alkinoos’ Tochter Nausikaa, die sich durchaus vorstellen kann, Odysseus zu heiraten (6,239-247), gewinnt er seine Identität als Mann wieder. Sinnfälliger Ausdruck dieser ersten Stufe der Wiedergewinnung der Identität ist seine Wandlung nach dem Bad, nach dem er in vollem Glanz, verjüngt erstrahlt (6,223 ff.: der Glanz, der von einem Mann ausgeht, ist in der Literatur ein typisches Initiationsmotiv; dies bedeutet: Odysseus kommt Nausikaa in diesem Moment auch im Alter nahe). Die zweite Stufe der Wiedergewinnung der Identität findet am Phäakenhof in mehreren Stufen statt. Zunächst verbirgt Odysseus seine wahre Identität, er bestreitet nur, ein Gott zu sein (7,207 ff.). Im 8. Buch gewinnt Odysseus, zum Wettkampf herausgefordert, seine Arete als Heros wieder (8,97-255), kann aber auch wie ein Mensch empfinden: gerührt sein, trauern und Tränen vergießen (8,83-95) und sich freuen (8,367 f.). So vorbereitet, kann er zu Beginn des 9. Buchs selbstbewusst seinen Namen nennen und sich vorstellen (9,19-28):

Ich bin Odysseus, Laertes' Sohn, durch all seine Listen
Bei den Menschen geschätzt; mein Ruhm reicht bis in den Himmel.
Im weit sichtbaren Ithaka wohn ich; es gibt einen Berg dort, 
Neritos, hochaufragend, mit blätterschüttelndem Laubwald;
Viele Inseln liegen ringsum sehr nah beieinander,
Same, Dulichion und das waldbedeckte Zakynthos.
Aber sie selbst ist niedrig und liegt ganz oben im Salzmeer
Nach dem Dunkel, die anderen fern nach Morgen und Sonne,
Rauh, aber gut für der Jugend Aufwuchs; und ich kann wahrlich
Gar nichts Süßeres anderes sonst als das eigene Land sehn.
Hielt mich doch zurück die hehre Göttin Kalypso
In der gewölbten Grotte, im Wunsche, ich werde ihr Gatte.

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So auch suchte mich die von Aiaía, die listige Kirke,
in den Hallen zu halten, im Wunsche, ich werde ihr Gatte.
Doch sie konnten mir nie den Mut in der Brust überreden.
Ist doch nichts so süß wie das Vaterland und die Eltern,
Selbst nicht dann, wenn einer ein üppiges Haus in der Ferne
In einem fremden Lande bewohnt, weitab von den Eltern.

Die völlige Wiedergewinnung der timé, seiner Ehre als Mann und Fürst ,und der eigenen Persönlichkeit kann nur nach oder aus einer Verlusterfahrung heraus geschehen. Indem Odysseus sich selbstbewusst mit „ich bin Odysseus, des Laertes’ Sohn“ vorstellt, seinen Vatersnamen und seine Herkunft nennt und den Anspruch auf Kleos, Ruhm, erhebt, hat er zu sich selbst gefunden und kann im folgenden in den Apologen eine Selbstinterpretation geben: Zentral ist seine Sehnsucht nach der Heimat; weder Kalypso noch Kirke vermochten es, sein standhaftes Herz zu bezwingen und ihn zu bewegen, sein Ziel aus den Augen zu verlieren (9,35). Damit hängt seine ungeheuere Duldsamkeit zusammen, Odysseus polýtlas (13,306-310), und sein Listenreichtum (polymechanía) und seine ständige Vorsicht und sein Misstrauen selbst in höchster Gefährdung seines Lebens (polýmetis), Garanten seiner Heimkehr, doch er denkt auch an die Gefährten (bei den Kikonen, 9,43 f.), deren Heimkehr nicht an Odysseus’, sondern an ihrem eigenen Fehlverhalten scheitert. Die Wissbegier allerdings, die ihn auszeichnet, ist ein ambivalentes Gut, droht doch an ihr die Heimkehr zu scheitern und kommen durch sie die Gefährten bei Polyphem ums Leben (9,228-230). In der Erzählung der eigenen Geschichte und in der Deutung des eigenen Lebens und dessen, was ihm widerfahren ist, vergewissert Odysseus sich seiner selbst. Abgeschlossen wird diese Wiedergewinnung der Identität durch die reiche Beschenkung, die Odysseus von Phäaken zuteil wird und ihm seine timé zurückgibt (9,1-69). Erst nachdem Odysseus’ Persönlichkeit in allen Aspekten wiederhergestellt ist, kann er die Herrschaft in Ithaka in einer Reihe von Anagnoriseis, Wiedererkennungen, durch die er in seine eigene Vergangenheit langsam eindringt und von ihr wieder Besitz ergreift(1) wieder erringen, kann er Penelope von seiner Identität überzeugen und in den Lügengeschichten(2) seine wahre Identität zur Vorbereitung der Rache verhüllen.

Dieser Held unterscheidet sich in höchstem Maße von den Protagonisten der nur unwesentlich älteren Ilias. Nichts bringt deutlicher die Unterschiede in der Gesamtkonzeption und im Menschenbild der beiden Epen zum Ausdruck als ein Vergleich der beiden programmatischen Proömien. Der Dichter der Ilias bittet die Muse darum, ihm „des Peleussohnes Achilleus / unheilbringenden Zorn“ zu singen, „der tausend Leid den Achäern / Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß / Der Heroen“ und damit Zeus’ Ratschluss in Erfüllung gehen ließ (Il. 1,1-5). Die unerbittliche, trotzige Größe eines einzelnen, der in seiner Ehre verletzt wurde, bringt der Gesamtheit der Griechen Unheil und Tod. Dem in seinem Verhalten vom einem starren Adels- und Ehrencodex bestimmten Achilleus der Ilias steht in der Odyssee ein vielschichtiger und vielgestaltiger Mensch entgegen, wobei diese Eigenschaften des Odysseus bereits in der Ilias angelegt sind. Odysseus ist der Gegenpol zu Achilleus, er ist aber auch sein Nachfolger, erhält doch er und nicht der Achilleus in seinem Verhalten vergleichbare Aias von den Heerführern die Waffen des toten Achill zugesprochen.

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„Starrer Groll hier, und gewandte Anpassung dort; Zerstörung und Selbstzerstörung hier, und Erhaltung und Selbsterhaltung dort; der Götterwille hier, und die eigene Leistung oder der eigene Fehler dort. Die Odyssee trauert nicht mehr in romantischem Geiste einer versunkenen Welt nach, die an ihrem eigenen stürmischen Wesen schicksalhaft zugrunde ging, sondern sie feiert den männlichen Realisten einer neuen Gegenwart, der klug und zähe sein Geschick in die eigenen Hände nimmt, um sich allen Gewalten zum Trotz zu behaupten.“(3)

Die Charakteristika und Verhaltensweisen eines Helden wie Odysseus sind Ausdruck eines neuen Zeitgeistes; er verkörpert in geradezu idealer Weise Verhaltensweisen, die in der Zeit der aufkommenden Kolonisierung überlebensnotwendig waren: Gefahren auf sich zu nehmen, Strapazen auszuhalten, Erfindungsreichtum und Redegabe, sich von Neuem und Fremdem anziehen zu lassen, kurz: polytropía, „Vielgewandtheit“.

 

Metamorphosen des Odysseus in der griechischen Literatur

Polytropía, „Vielgewandtheit“, ist der Schlüssel zu Odysseus. Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig. Sie kann sich in Erfindungs- und Listenreichtum ausdrücken ─ Odysseus polyméchanos(4) oder in nachdenklicher Reflexion ─ Odysseus polýmetis, „der viel Sinnende“ ─ und einer Vielfalt von Ideen ─ Odysseus poikilométes, „der vielfältig Sinnende“. Ausdrucksformen der Vielgewandtheit sind aber auch seine Intelligenz, seine Redegwandtheit und Erzählgabe, sein Durchhaltevermögen – Odysseus polýtlas, „der große Dulder“ – und sein Wissensdurst. Polytropía ist jedoch ein doppeldeutiger Begriff, und die negativen wie positiven Aspekte der polytropía bestimmen denn auch die Rezeption der Odysseus-Gestalt von der Antike bis in die Gegenwart hinein.

Bereits im nachhomerischen epischen Kyklos, in den vielen, in der Antike Homer zugeschriebenen, sich um die Geschehnisse von Ilias und Odyssee rankenden Epen, scheint Odysseus’ vielfach einsetzbare Intelligenz negativ ausgedeutet worden zu sein.(5) Für uns greifbar wird das negative Odysseus-Bild in der Literatur des 5. Jahrhunderts v. Chr., in Pindars Nemeen 7 und 8 und in der Tragödie, in der das Paradebeispiel für Odysseus’ polytropía, sein Sieg im Waffenstreit mit Aias angeführt wird. Die Waffen des toten Achill werden nicht Aias, dem sie aufgrund seines Ruhms und seiner Kriegstaten, aber auch aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung – Aias ist der Vetter Achills – zugestanden hätten, sondern dem redegewandten Odysseus zugesprochen.(6)

Pindar, Nemeen 7,17-33 (485 ? v. Chr.):

Weise kennen den Wind, der in drei Tagen kommt,
und nehmen nicht Schaden durch Gewinnsucht;
arm und reich ─ zu des Todes
Grenzmal kehren sie hin! Ich vermute, größer ist
Die Geschichte von Odysseus als sein Widerfahrnis

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durch den süßredenden Homer geworden;
denn mit Täuschung und beschwingter Erfindung
liegt etwas Erhabenes auf ihm; Meisterschaft
betört, indem sie irreführt mit Worten. Blindes Herz hat
die große Masse der Männer. Wenn es nämlich so wäre, dass sie
die Wahrheit sähe, hätte kaum, der Waffen wegen in Zorn,
der starke Aias sich durchs Zwerchfell gerammt das breite Schwert;
den hatte als Stärksten, außer Achilleus, im Kampf
dem blonden Menelaos die Gattin zu holen, auf schnellen
Schiffen gebracht des geradblasenden Zephyros Geleit

zur Stadt des Ilos. Aber für alle gleich kommt ja
die Woge des Hades und fällt auf den Unansehnlichen
wie den Ansehnlichen; Ehre aber wird denen,
deren Nachrede ein Gott üppig mehrt nach dem Tod.

Pindar, Nemeen 8,20-34 (459 ? v. Chr.):

Vieles ist ja vielfach gesagt, aber Neues finden
und auf den Prüfstein geben zur Probe, ist voller
Gefahr; Leckerbissen sind Dichterworte dem Neidischen,
er macht sich an Edle immer, mit Niedrigen streitet er nicht.

Der hat auch Telamons Sohn zerfleischt
und in sein Schwert verstrickt.
Manchen, der zungefertig nicht ist, aber mutig im Herzen,
drückt Vergessen nieder im traurigen Streit; die größte Ehre
ist schillernder Lüge aufgespannt. Auf geheimen
Stimmstein waren die Danaer ja Odysseus zu Diensten;
Aias aber, der goldenen Waffen beraubt, rang mit dem Tod.

Wahrlich, ungleich waren die Wunden, die sie den Feinden
ins warme Fleisch schlugen, erzitternd
unter der mannabwehrenden
Lanze, so um Achilleus, den frischgefallenen,
und an anderer Kampfesmühen verlustreichen
Tagen. Boshafte Verdrehung gab es also auch früher,
mit Schmeichelreden einhergehend,
listensinnend, unheilstiftende Schande;
sie tut dem Strahlenden Gewalt an, aber für
Unscheinbares spannt sie hoch eine morsche Herrlichkeit.

Polytropía, Odysseus’ Vielgewandtheit, wird in diesen beiden Gedichten, in Verbindung mit seiner Redegabe, als skrupelloses Durchsetzungsvermögen interpretiert, das der Held entweder in eigener Sache wie im Waffenstreit mit Aias oder für das Gesamtwohl einsetzt – hier klingt die soziale Seite des Odysseus an, seine Sorge um die Gefährten (Euripides, Hekabe; Sophokles, Philoktet), allerdings umgedeutet zu einem an die Argumentation der Athener im thukydideischen Melierdialog (5,85 ff.) erinnernden, kompromisslosen Eintreten für die ‚Staatsräson’ ohne Rücksicht auf moralische Bedenken.(7)
Das Aufeinanderprallen grundsätzlich verschiedener Männer und Welten – auf der einen Seite das auf den Adelskodex, auf timé fixierte Denken des Aias, auf der anderen Odysseus’ gewandte Durchsetzungsfähigkeit – faszinierte die Tragödiendichter und die Sophisten des 5. und frühen 4. Jahrhunderts. Aischylos schrieb eine Hóplon krísis, einen Waffenstreit, Sophokles den Aias.

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Die Sophisten Antisthenes und Alkidamas verfassten fiktive Reden für Aias und Odysseus. Ovid nimmt sich der Auseinandersetzung in seinen Metamorphosen (12,620-13,398) an, ebenso der spätantike Epiker Quintus von Smyrna. Das negative Odysseus-Bild, das in der griechischen Tragödie angelegt ist, wird an das europäische Mittelalter durch zwei Prosaerzählungen über den Verlauf des trojanischen Kriegs weitergegeben, den Trojaromanen des Dares aus Phrygien und Diktys von Kreta; der eine schreibt troja-, der andere griechenfreundlich. Beide Texte, die wohl im 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden, sind in lateinischen Übersetzungen des 5. Jahrhunderts erhalten und beeinflussten stark die mittelalterlichen Trojaromane in Latein und den Volkssprachen.

Besonderer Ausdruck der negativen Seite der polytropía ist Odysseus’ Auseinandersetzung mit Palamedes. Als die Einberufung der Menelaos eidlich verpflichteten griechischen Fürsten ansteht, versucht sich Odysseus dem Feldzug zu entziehen, indem er sich verrückt stellt, stundenlang pflügt und in die Furchen Salz sät. Palamedes, der ähnlich wie Prometheus für die Menschen Nützliches erfand, vor allem die Schrift, entlarvt den vorgetäuschten Wahnsinn, indem er den kleinen Telemach vor die Pflugschar legt; Odysseus hebt den Pflug an, um den Sohn nicht zu verletzen, und muss sich den Griechen anschließen. Vor Troja nimmt Odysseus grausame Rache; er bezichtigt Palamedes des Hochverrats, der dafür hingerichtet wird. In der Antike wird die Episode als Beispiel für die Hinterlist und Tücke des Odysseus genommen. Von dem Sophisten Gorgias ist eine Verteidigungsrede des Palamedes erhalten, verloren ist leider der Palamedes des Euripides. Fr. 583 TrGF zeigt jedoch deutlich die negative Bewertung von Odysseus’ Beredsamkeit:

Wer gut zu reden versteht, sich aber für schändliche Dinge einsetzt, dessen Intelligenz werde ich niemals anerkennen.

Ebenso wird in der euripideischen Hekabe (239 ff.) die Skrupellosigkeit des Odysseus angeprangert. Obwohl die trojanische Königin Odysseus’ Leben rettete, verlangt er jetzt den Tod ihrer Tochter Polyxena, die am Grab Achills geopfert werden soll:

He. Du kamst doch einst als Späher in die Stadt,
zerlumpt, entstellt, und aus den Augen rann
Der Tränen Blutstrom über dein Gesicht?
Od. Ich weiß es wohl, es schnitt mir tief ins Herz.
He. Helena sah dich und verriet es mir.
Od. Noch denk ich an die äußerste Gefahr. 
He. Und du hast flehentlich mein Knie berührt?
Od. Die Hand erstarrte mir an deinem Kleid.
He. Ich ließ dich leben, schickte dich davon?
Od. So dass ich heute noch am Leben bin.
He. Was sprachst du, als du mein Gefangner warst?
Od. Viel schlaue Worte in der Todesangst.
He. Macht dich das Heute nicht zum schlechten Mann?
Für meine Guttat, deren du gedacht,
Zahlst du nur Böses, und aus voller Kraft.

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Wenn man sich fragt, warum gerade die negativen Seiten der polytropía des Odysseus in der griechischen Literatur des 5. Jahrhunderts so stark betont wurden, kann man dies wohl vor allem auf die Sophistik und die Sophistik-Kritik zurückführen, die insbesondere die dramatische Dichtung des ausgehenden 5. Jahrhunderts beherrschte. Odysseus stellt in allen seinen wesentlichen Eigenschaften, der Redegewandtheit, der Vielgewandtheit, der Fähigkeit, immer den rechten Augenblick, den Kairos, zu erkennen, den Prototyp des Sophisten dar.

Doch die polytropía hat auch andere Erscheinungsformen und konnte demnach auch in anderer Art und Weise rezipiert werden. Sich jeder Situation anzupassen kann auch bedeuten, immer zu sehen, was möglich, was machbar ist, was man zu seinem Vorteil durchsetzen kann. Das heißt, wenn man die Begrifflichkeit des 5., sophistisch-rhetorischen Jahrhunderts verwenden will, den Kairos, den rechten Augenblick für eine Entscheidung oder eine Handlung, zu erkennen. Wenn man dies berücksichtigt, fällt eine in der Forschung teilweise festgestellte und bemängelte Inkongruenz in den sophokleischen Odysseus-Gestaltungen weg. Während im 409 aufgeführten Philoktet Odysseus als skrupelloser Machtpolitiker erscheint, ist er im Frühwerk, dem wohl ca. 40 Jahre früher entstandenen Aias des Sophokles ein bedächtiger, maßhaltender Held. Angesichts des gebrochenen Helden Aias schwingt er sich nicht zu herablassenden, verhöhnenden Äußerungen auf, sondern bekundet sein Mitleid mit Aias, mag er auch sein Feind sein (118 ff.). Indem er jedoch betont, dass dieses Mitleid, ganz im aristotelischen Sinn, aus einer Furcht um seine eigene Person entspringt, dass ihm Ähnliches wie dem großen Helden widerfahren könne, wird auch hier sein ambivalenter Charakter deutlich: Mitleid entspringt nicht einem humanen Gefühl, sondern dem Egoismus. Der nicht minder sophistische und egoistische Agamemnon, der Aias nach dem Selbstmord die Bestattung verwehren will, wirft dies Odysseus auch an den Kopf (1317 ff.). Auf seine entrüstete Frage, ob ihm Odysseus tatsächlich den Rat gebe, den Feind zu bestatten, antwortet der: „Gewiss, denn auch ich selber komme dereinst in diese Lage. Ag.: Immer das gleiche! Jeder müht sich für sich selbst! Od.: Für wen liegt näher, mich zu mühn, als für mich selbst?“
Von dieser, von common sense und Egoismus getragenen Abgeklärtheit bedarf es nur einen kleinen Schritts, um in Odysseus eine melancholischen Zyniker und resignierten Melancholiker zu sehen; es ist dies ein Aspekt der Odysseus-Gestalt, der nicht erst seit Böcklins Gemälde Odysseus bei Kalypso präsent ist, sondern bereits im 5. Buch der Odyssee angelegt ist. Platon, der im Hippias minor (364/365) Odysseus als kalkulierenden Sophisten anführt, lässt ihn im Staat (619/620) als resignierten Weisen auftreten: Bei der Seelenwahl in der Unterwelt, so berichtet Platon, habe Odysseus als letzter eine Seele für die Wiedergeburt auswählen dürfen:

„Zufällig habe die Seele des Odysseus das allerletzte Los erhalten und sei herangetreten, um die Wahl zu treffen. Da sie aber in Erinnerung an ihre früheren Mühen und Leiden jeden Ehrgeiz aufgegeben habe, sei sie lange Zeit herumgegangen und habe dann das Leben eines Privatmannes, der sein Leben in Ruhe führt, gesucht und nur mit Mühe irgendwo eines gefunden,

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das die anderen unbeachtet hatten liegen lassen. Und als sie es gesehen habe, habe sie gesagt, sie würde genau dasselbe getan haben, wenn sie das erste Los bekommen hätte, und habe es mit Freude gewählt.“

Nicht als sophistischer, durchtriebener Redner, sondern als Erzähler, der in seinen Geschichten bunte Welten entstehen lässt und den Zuhörer verunsichert zurücklässt, ob diese Erzählungen denn wahr oder erdichtet sind, entspricht Odysseus nach Alkinoos’ oder Eumaios’ Worten (Od. 11,363-376; 17,513-527) in jeder Hinsicht dem höfischen Sänger, dem Aöden, der bis dahin Ungehörtes vorträgt und die Sinne seiner Hörer fesselt und betört (Od. 1,346-355). Indem Odysseus eigene Erlebnisse vorträgt, ist er gleichsam der Erfinder, nach den Kriterien der antiken Literaturgeschichtsschreibung der prótos heuretés, „Urerfinder“, autobiographischen Erzählens, der im Erzählen seines Lebens seine Identität findet und mit dem Zuhörer gleichsam einen „autobiographischen Pakt“(8) schließt, dass das Erzählte wahr sei. Besonders in der Literatur des 20. Jahrhunderts wird Odysseus als Erzähler ins Zentrum gerückt, so in G. Pascolis L’ultimo viaggio, wobei der Konzeption des Zyklus entsprechend das Verhältnis von dichterischer Ausgestaltung und tatsächlich Erlebtem thematisiert, d.h. das Grundproblem der Autobiographie angesprochen wird (X Die Muschel), oder in L. Malerbas Odysseus-Penelope-Roman Itaca per sempre.

Der duldende Odysseus (polýtlas), der allen Leiden zum Trotz unbeirrt seinen Weg zum ersehnten Ziel geht, wird in der Rezeption zunächst wie Hercules zum Modell des stoischen Weisen, zur Verkörperung der Standhaftigkeit des Philosophen (constantia sapientis, Horaz, Episteln 1,2,17-26; Seneca, De constantia sapientis 2) oder zum Sinnbild des homo viator (Epiktet 4,24,13).
 

Horaz (65-8 v. Chr.), Episteln 1,2,17-26:

Wiederum hält uns Homer als nützliches Vorbild, um zu zeigen, was Tugend und was Weisheit vollbringen kann, Odysseus vor Augen, der als Sieger über Troja, stets die Folgen bedenkend, Städte und Sitten vieler Menschen sah und in den Weiten des Meeres, während er sich, während er seinen Gefährten die Heimkehr zu verschaffen suchte, viel Bitteres ertrug, in den Wogen des Ungemachs jedoch nicht unterging. Du kennst der Sirenen Gesang und Kirkes Pokale; wenn er aus diesen gleich den Gefährten mit Unverstande und Gier getrunken hätte, wäre er der Dirne als seiner Herrin verfallen gewesen: er hätte gelebt in Schmutz und ohne Verstand als unsauberer Hund oder als dreckliebendes Schwein.

 

Seneca (Zeitenwende - 65 n. Chr.), Über die Standhaftigkeit des Weisen (De constantia sapientis) 2:

Denn einen Weisen könne weder ein Unrecht noch eine Schmach angetan werden; den Cato aber hätten die unsterblichen Götter uns als gültigeres Vorbild eines weisen Mannes gegeben als früheren Jahrhunderten Odysseus und Herakles. Denn diese beiden haben unsere Stoiker als Weise ausgegeben, die durch keine Mühe bezwungen werden konnten, stets die Lust verachteten und über alle Schrecken triumphierten.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 52
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Die christlichen Autoren der Spätantike nahmen eine interpretatio christiana der stoischen Odysseus-Deutung vor: Der Mastbaum des Schiffes, an den sich Odysseus fesseln lässt, wird zum Symbol für das Kreuz, an das der Christ sich binden soll, um allen Verlockungen der Welt zu widerstehen. Die allegorisierende Deutung der Odysseus-Gestalt wird im Ovid moralisé fortgeführt (14. Jh.), klingt unüberhörbar in Boccaccios Genealogie an und hält sich bis ins 18. Jh.; man lese nur den Eintrag „anderweitige Deutung“ im Odysseus-Lemma von B. Hederichs mythologischem Lexikon.

 

Giovanni Boccaccio, Stammbäume der heidnischen Götter (Genealogiae deorum gentilium) (1350-1375) XI 40:

(13) In der Tat will Homer in der Odyssee einen guten Mann vorstellen, und unter anderem will er aufzeigen, was uns bei der Geburt von der göttlichen Gnade gegeben worden ist; er schreibt von Aeolus, d.h. von Gott, seien ihm Winde, d.h. Wünsche und Triebe, gegeben worden, und zwar in einem ledernen Sack, d.h. in der Entscheidungsgewalt des Erwachsenenalters, das stark und beständig sein muss, wie es eben auch ein lederner Sack ist; die Winde sind durch eine silberne Kette (in den Sack) eingesperrt, d.h. durch die herausragende Harmonie der leuchtenden Tugend, durch die tatsächlich manche den Sack sicherer geschlossen halten als durch die Betrachtung der göttlichen Liebe. Trotzdem lösen die Kette die Gefährten des Odysseus, d.h. die Sinne des menschlichen Körpers, die mit Hilfe unserer Trägheit der Vernunft befehlen, in der Meinung, darin eine Beute zu finden, d.h. im Glauben, dass bei weitem besser und süßer ein ungehemmt lustvoll verbrachtes Leben sei als ein mit sicherer Vernunft und Lustkontrolle geführtes Dasein. (14) Wenn diese Lüste jedoch losgelassen sind und wir in diese und jene Ungezügeltheit hineinschlittern, wird unsere Seele von Unwettern heimgesucht, d.h. von Scham, Tadel, Gewissensbissen, seelischer Unruhe, Trauer, dem Gefühl der Ausweglosigkeit und tausend anderen Formen von Übel, die uns von der Heimat, d.h. von Ruhe und Gelassenheit, fernhalten.
 

Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon (1770), Sp. 2476:

Anderweitige Deutung. Dass er ein Muster eines vollkommen klugen Mannes sey, der sich aus den größten Gefährlichkeiten glücklich heraus zu wickeln wisse, ist etwas bekanntes. /../ Dabey stellet er aber auch vor, wie vielen Gefaehrlichkeiten ein Mensch in seinem Leben unterworfen sey, und wie er allen Witz und Verstand zusammen nehmen müsse, wenn er in denselben nicht erliegen wolle.

 

Säkularisierte Fassungen des standhaften Odysseus finden sich auch in der modernen Literatur. D’Annunzio stilisiert Odysseus zum archetypischen Heroen, der, seinem Alter trotzend, standhaft und unbeirrt den Kurs hält. Magnanimo cuore, „großgestimmtes Herz“, im letzten Vers der zitierten Partie D’Annunzios verweist eindeutig auf das stoische Ideal der magnitudo animi bzw. magnamitas, der Größe und Unbeirrbarkeit dessen, der sich von allem Äußerlichen frei gemacht hat.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 53
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Gabriele D’Annunzio, Laus vitae IV 2-42 (1903):

Wir trafen ihn,
den die Römer Ulysses nannten,
in den Fluten von Leukas,
unter den Furchen und weißen Felsen,
die die gefräßigen Fluten bedrücken,
nahe der dürren Insel
wie einem Körper, errichtet aus bloßem,
unzerstörbarem Gestein
und umgeben nur von einem silbernen Gürtel.
Ihn sahen wir
Auf dem gewölbten Schiff. Und er steuerte
Es, in der Faust die Schote,
Ausschau haltend nach Fahrt bringenden Winden,
stumm; und der Filz,
der Seeleute Kopfbedeckung,
verhüllte das weiße Haupt,
die kurze Tunica das eiserne Knie,
das Lied unmerklich den scharfen Blick;
und wachsam in jedem Muskel war
die unermüdbare Kraft des großgestimmten Herzens.

Odysseus als Heimatloser ist, soweit ich dies sehe, in den erhaltenen Texten der griechischen Literatur nicht nachweisbar, wohl aber seit Ovids Verbannungsgedichten, als Paradigma des im Exil lebenden Menschen, der sich in Sehnsucht nach der Heimat verzehrt (Tristien 1,5,49 ff.):

Vieles hab' ich ertragen, das schlimmer als glaublich und das doch,
was auch geschehn sein mag, niemandem möglich erscheint. 
Auch muss manches davon mit mir im Grabe versinken: 
wenn ich's verschweige, so bleibt's hoffentlich immer verhüllt.
Wär' meine Stimme auch stark, meine Brust noch fester als Eisen,
wäre mir vielfacher Mund; vielfache Zunge geschenkt,
würd' ich mich doch nicht bemühn, dies alles in Worte zu fassen:
reichten die Kräfte doch nie aus, zu erzählen mein Leid.
Statt von Odysseus schreibt von meinem Erdulden, gelehrte
Dichter: ich duldete weit mehr, als Odysseus erlitt.
Klein ist der Raum, den jener in vielen Jahren durchirrte
zwischen Dulichiums Strand und der trojanischen Stadt:
ganzen Gestirnen vorüber durchmaß ich entlegene Meere,
mich hat des Kaisers Zorn bis zu den Geten verbracht.
Jener hatte die treue Gefolgschaft, treue Gefährten:
mich, den Verbannten, jedoch ließen die Freunde im Stich.
Jener suchte mit Freuden als Sieger das Land seiner Heimat:
ich - aus der Heimat hinweg floh ich, besiegt und verbannt.
Nicht in Dulichium, Samos noch lthaka bin ich zu Hause:
ferne von ihnen zu sein - klein wär' die Strafe für mich,
sondern in ihr, der Stadt, die von sieben Hügeln umherschaut
auf eine Welt, als des Reichs Sitz und der Gottheiten, Rom.
Jener war kräftigen Leibes und all seinen Mühen gewachsen:
meine Kräfte sind schwach, wenig zu leisten imstand.
Jener ward ständig umhergetrieben in wütenden Kämpfen,
ich bin nur in der Kunst zarter Bemühung geübt.
Mich hat ein Gott geschlagen, und keiner erleichtert mein Leid mir:
Hilfe hat ihm in der Not streitbar die Göttin gebracht,
Schwächer als Juppiter ist der Herr der schwellenden Fluten:
jenen verfolgte Neptuns, mich aber Juppiters Zorn.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 54
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Seine Beschwerden sind schließlich zum größten Teil nur erfunden;
keinerlei Märchen jedoch ist bei dem Leid, das mich traf.
Endlich aber hat er die ersehnte Heimat betreten,
Fluren, die lang er gesucht, hat er doch endlich erreicht:
ich aber muss für immer die heimische Erde entbehren,
wenn der beleidigte Gott nicht seinem Zorne entsagt.

 

Einen besonderen Ausdruck findet diese Heimatsehnsucht in Ugo Foscolos Gedicht, Auf Zakynthos (1802/03):

Und niemals mehr werde ich die heiligen Gestade berühren,
An denen mein jugendlicher Körper ruhte,
Mein Zakynthos, das du dich in den Wogen spiegelst
Des griechischen Meeres, aus dem jungfräulich entstieg

Venus und fruchtbar machte jene Inseln
Mit ihrem ersten Lächeln, und so verschweigt auch nicht
Deine hellen Wolken und deine Wälder
Der berühmte Vers dessen, der die Fluten

Besang, die schicksalshaften, und das Exil an vielen Orten,
bis er, herrlich an Ruhm und an Leid,
Sein felsiges Ithaka küsste – Odysseus.

Du wirst nichts anderes als den Gesang deines Sohnes erhalten,
O mein Vaterland; uns hat verhängt
Das Schicksal ein unbeweintes Begräbnis.

Ist für Ovid Odysseus glücklicher als er, da der Heros nach langen Irrfahrten in die Heimat zurückkehrte, während er die Heimat verlassen muss, wird für moderne Autoren Heimat ein doppeldeutiger Begriff. Sie kann gefährlich sein, da man in ihr seines Lebens nicht sicher ist (H. Heine),(9) sie kann den Forscherdrang lähmen und träge machen ( so bei Kavafis). Vor allem stellt sich die Frage, wie eine Heimkehr nach 20 Jahren möglich ist, nach einer Zeit der Unruhe, Abenteuer und Liebesgeschichten. Diese Frage regt zum Weiterdichten an ─ man denke an G. Pascolis L’ultimo viaggio oder N. Kazantzakis Odyssee ─, sie macht die Odyssee zu einem Buch mit offenem Ende.

An dieses Konzept schließt die Rezeptionslinie an, die aus dem unstillbaren Wissensdrang des Odysseus, der so weit gehen kann, dass er wider den Rat der Vernunft dem Drang, das Kyklopenland kennenzulernen, nachgibt und das Leben der Gefährten aufs Spiel setzt, Grenzüberschreitung macht. Die Szene, die den Wissensdurst am besten zum Ausdruck bringt, ist die Sirenen-Episode (Od. 12,36-54, 153-200), die seit Cicero (De finibus bonorum et malorum) 5, 48 f. als Ausdruck des menschlichen Erkenntnisdranges gedeutet wird. Anschließend an die Metamorphosen Ovids (14,435-440)(10) verbindet Dante die Wissbegier mit dem Motiv der Ruhelosigkeit. Der Grenzüberschreiter Odysseus scheitert (Dante), geht ins Nichts ein (Pascoli), im Untergang wird sein Geist befreit (Kazantzakis). Odysseus wird jedoch auch zum Idealbild des utopisch denkenden Menschen, der sich mit dem Gegebenen nicht arrangiert, sondern sich immer neue Ziele setzt (Bloch), Odysseus wird zum Überwinder des Mythos (Horkheimer/Adorno).

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 55
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Die Resignation ─ Odysseus ist nach all seinen Taten müde, desillusioniert ─, die die moderne Literatur anzieht, ist vorgezeichnet in Platons Staat (619e6-620d2), im Mythos von der Wahl des künftigen Lebensweges der Seelen. Bescheiden wählt Odysseus’ Seele das zurückgezogene Leben eines Privatmannes, nicht das eines Heroen. Resignation ist auch das Thema des großen Odysseus-Zyklus von Giovanni Pascoli L’ultimo viaggio (1904). Der greise Odysseus macht sich nochmals auf große Fahrt, um seine Abenteuer nachzuerleben, und erlebt eine Desillusionierung nach der anderen: die Kyklopen sind freundliche Bauern, die Sirenen antworten nicht auf seine Rufe. Die Erinnerung wird unsicher, Odysseus gerät in eine Identitätskrise ─ das Thema der menschlichen Unsicherheit, des Rollenspiels ist schon in der Odyssee angelegt ─, von der Meeresströmung getrieben wird er an Land gespült. Kalypso findet nur noch seinen Leichnam.

2700 Jahre ungebrochener Faszination, die von Odysseus ausgehen, 2700 Jahre ungebrochener Rezeption der Odysseus-Gestalt in Literatur, Bildender Kunst und Musik: keine andere Figur des griechischen Mythos verdeutlicht eindrucksvoller, wie sehr die Mythen der Griechen als Folie und Vehikel des Weltverständnisses und der Welterklärung zu den Grundlagen der Kultur gehören.

 

Prof. Dr. Bernhard Zimmermann
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Seminar für Klassische Philologie
Platz der Universität 3
D-79085 Freiburg

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(1) Telemach: 16,186-213; Argos: 17,290-327; Eurykleia: 19,382-398, 467-479; Eumaios, Philoitios: 21,193-225; Freier : 22,1-121 ; Penelope: 23, 1-240; Laertes: 24, 204-347.

(2) 213,265ff.; 14,191 ff.; 17,415ff.; 19,165ff., 261ff.

(3) H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 31969, S.95.

(4) Auch das Epitheton „Städtezerstörer“, ptolíporthos, das Odysseus in der Ilias mit Achill teilt (Il. 15,77) und ihm in der Odyssee allein vorbehalten ist (Od. 8, 3; 16, 442), hängt eng mit der „Vielgewandtheit“ (polytropía) zusammen.

(5) Aus dem Kyklos stammt auch die mythologische Variante, Odysseus sei Sohn des Erzschelmes Sisyphos, der Antikleia verführt und sie danach mit Laertes verheiratet habe.

(6) Alle folgenden Texte stammen aus dem von mir herausgegebenen Band Mythos Odysseus, Leipzig 2004 (Reclam).

(7) Diese Linie läuft in der Rezeption über Senecas Troerinnen z.B. zu Racines Iphigenie oder Heiner Müllers Philoktet.

(8) Begriff nach Ph. Lejeune in G. Niggl, Die Autobiographie, Darmstadt 1989, 214-257.

(9) Noch deutlicher kommt dieses Gefühl in Heines Gedicht „Denk ich an Deutschland in der Nacht / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“ (Neue Gedichte, Zeitgedichte XXIV).

(10) In Macareus’ Erzählung: „Vieles dergleichen habe ich im Laufe eines langen Jahres erzählen hören und selbst gesehen. Durch langes Sitzen faul und durch mangelnde Übung träge geworden, bekommen wir den Befehl, wieder in See zu stechen, wieder die Segel zu setzen. Von gar unsicheren Wegen, von einer langen, langen Reise und von Gefahren, die uns auf dem wilden Meer bevorstehen, hatte die Titanentochter gesprochen. [440] Ich bekam Angst ─ das gebe ich zu ─, kam an diesen Strand und blieb hier.“