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Paul Barone

Europa und die griechische Aufklärung
Eine Bildungsaufgabe des Griechischunterrichts


„Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes“(1) - in seiner Berliner Grundsatzrede zur Bioethik vom 18. Mai 2001 bekannte sich der damalige Bundespräsident Johannes Rau entschlossen zum Erbe der Aufklärung. Angesichts der schwerwiegenden ethischen Probleme, die der biotechnische Fortschritt aufwirft, setzt Rau seine Hoffnungen in das alte Projekt der „Aufklärung“: sie soll der zukünftigen Gesellschaft die geistige Orientierung bieten, die erforderlich ist, um die Menschheit vor den Gefahren zu schützen, die ein blinder Fortschrittsglaube, aber auch eine irrationale Fortschrittsfeindlichkeit heraufbeschwören könnten. Denn Aufklärung richte sich „gleichermaßen gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische Machbarkeitsphantasien“.(2) Nur eine öffentliche Diskussionskultur, die auf vernünftige Verständigung zielt, kann uns ermöglichen, den Fortschritt „nach menschlichem Maß“ selbst zu gestalten und der Zukunft ein menschenwürdiges Antlitz zu geben.

Seither hat Raus Plädoyer für eine Wiederherstellung der Aufklärung nichts an Aktualität eingebüßt. Im Zeitalter globaler Vernetzung vollzieht sich der technisch-ökonomische Fortschritt nicht nur auf dem Gebiet der Biowissenschaften mit einer sich ständig beschleunigenden Dynamik. Gerade die Entwicklungen in der Kommunikations- und Informationstechnologie führen gegenwärtig den Übergang in eine globalisierte Medien- und Informationsgesellschaft herbei. Um dieser Revolutionierung unserer Lebensverhältnisse gewachsen zu bleiben, brauchen wir kritische Maßstäbe. Diese Maßstäbe können wir freilich nicht der Logik dieser globalen Dynamik selbst entnehmen, sofern sie uns zu kritisch prüfender Distanz befähigen sollen. Nur eine Rückbesinnung auf unsere gemeinsame kulturelle Identität kann uns zuverlässige Maßstäbe der Kritik liefern. Eine dieser bleibenden Orientierungsmuster, die zum Kernbestand der europäischen Kultur gehören, ist aber, wie Rau richtig sieht, die Aufklärung.

Daraus ergibt sich eine besondere pädagogische Verantwortung unserer Bildungsinstitutionen, kommt diesen doch die Aufgabe zu, die heranwachsende Generation darauf vorzubereiten, die Herausforderungen der globalisierten, technisierten und mediatisierten Welt zu bewältigen, und ihr zu helfen, das vernünftige Maß zwischen blinder Fortschrittsgläubigkeit und -feindlichkeit zu bewahren.


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Wer Raus Plädoyer für „Aufklärung im besten Sinn des Wortes“ zustimmt, wird „Aufklärung“ auch als Bildungsziel definieren müssen. Der Schule kommt in ihrer Verantwortung für die zukünftige Gesellschaft die Aufgabe zu, der heranwachsenden Generation Aufklärung als eine geistige Orientierung zu vermitteln.(3) Die Grundwerte der Aufklärung haben sich aber erstmals im antiken Griechenland herausgebildet. Hier liegen die Ursprünge der europäischen Aufklärung. Damit stellt sich die Frage, wie der Griechischunterricht dazu beitragen kann, jungen Menschen das Erbe der Aufklärung zu vermitteln.

 

1. Das Projekt Aufklärung

Diesem Verständnis von Aufklärung als einem Kernelement europäischer Identität steht allerdings ein Einwand entgegen: Aufklärung scheint nämlich eine zeitlich begrenzte Epoche der neuzeitlichen Geistesgeschichte zu sein, die, grob gesprochen, das 18. Jahrhundert umfasst. Als Beginn der Aufklärung kann die Glorious Revolution aus dem Jahre 1688 angesetzt werden, die Einrichtung der parlamentarischen Demokratie in England, die die freie Ausübung der Religionskritik garantierte. Das Ende der Aufklärung scheint mit der Französischen Revolution im Jahr 1789 oder mit deren Beendigung durch den Machtantritt Napoleons im Jahr 1798 erreicht zu sein.(4) Wie kann Aufklärung sich dann aber als ein aktuelles, zukunftsweisendes Bildungsziel zu Beginn des 21. Jahrhundert eignen? Um diesen Einwand zu entkräften, ist es sinnvoll, vom Selbstverständnis der historischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts auszugehen. In ihrer Spätphase hat Immanuel Kant, der bereits aus kritischer Distanz auf ihre Anfänge zurückblicken konnte, in seiner Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren? Aufklärung mit knappen Worten wie folgt definiert: „die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung(5).


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Kant setzt Aufklärung prägnant mit der Maxime des Selbstdenkens gleich. Dies bedeutet aber, dass er Aufklärung gerade nicht als Epoche begreift, sondern als Grundsatz des Handelns und Denkens - ein Grundsatz, nach dem sich die Menschheit offensichtlich zu allen Zeiten richten kann. Dasselbe Verständnis von Aufklärung begegnet uns in Kants berühmter Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“(6)

Aufklärung wird hier als Prozess aufgefasst, der sich das Ziel der Mündigkeit, des selbstständigen Vernunftgebrauchs, setzt. Selbstdenken ist damit kein ad hoc realisierbarer Zustand, sondern das Endziel einer schrittweisen Selbstbefreiung, einer kontinuierlichen Emanzipation des Individuums und der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Aufklärung ist nach Kant ein Projekt.

Welches die Leitgedanken des Projekts „Aufklärung“ sind, lässt sich durch eine Auslegung von Kants Aufklärungsbegriff aufzeigen, der bis heute unser Verständnis von Aufklärung bestimmt.(7) Den oben zitierten Kernaussagen zufolge ist die Forderung, selbst zu denken, der Grundsatz der Aufklärung. Was aber bedeutet Selbstdenken? „Selbstdenken“ heißt zunächst, den eigenen Verstand zu gebrauchen oder, wie Kant schreibt, „den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“.(8) Selbstdenken setzt also voraus, den eigenen Verstand als die höchste Norm der Wahrheit zu betrachten, nicht die Autorität oder Tradition. Diese sollen vielmehr auf ihre Legitimität hin geprüft werden. Selbstdenken ist für die Aufklärung demnach wesentlich kritisches Denken. Als die Forderung, die eigene Vernunft zu gebrauchen, verlangt das Selbstdenken aber nicht nur die Ausrichtung an der Norm der kritischen Vernunft; sie setzt auch Freiheit voraus. Denn den eigenen Verstand zu gebrauchen, bedeutet selbstständig zu denken, d. h. geistig frei zu sein von der Macht der Autorität und der Tradition. Freiheit und kritischer Vernunftgebrauch sind die beiden Grundvoraussetzungen der aufklärerischen Maxime des Selbstdenkens. Aufklärung hat somit eine doppelte Dimension: eine emanzipatorische und eine rationalistische.(9)


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Vor allem der Freiheitsbegriff ist von Missverständnissen fernzuhalten. Im Gegensatz zu einem heute verbreiteten Freiheitsverständnis haben Kant und die Mehrzahl der Aufklärer die Freiheit des Selbstdenkens als eine vernünftig normierte Freiheit verstanden, also gerade nicht als die ungebundene, regellose Freiheit, nach Belieben zu tun oder zu denken, was man will. Die Freiheit soll vielmehr, wie das obige Zitat belegt, an die Wahrheit der kritischen Vernunft gebunden bleiben, d. h. die durch die eigene Vernunft erkannte und kritisch geprüfte Wahrheit soll der Freiheit ihr Gesetz vorschreiben. Freiheit als Autonomie bzw. Freiheit als vernünftige Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung ist das Ideal der Aufklärung, nicht Freiheit als Anarchie: Durch den Gebrauch seiner Vernunft soll der Mensch sich ein eigenes Gesetz des Handelns geben und somit zur Freiheit gelangen. Daher lässt sich resümierend sagen, dass der Endzweck der Aufklärung die Selbstbefreiung des Menschen durch die kritische Vernunft ist.

Um die Leitvorstellungen des Projekts „Aufklärung“ in ihrer epochenübergreifenden Relevanz eingehender verstehen zu können, ist es aufschlussreich, sich zu vergegenwärtigen, wie dieses Projekt oder Leitbild von der Philosophie des 20. Jahrhunderts verstanden wurde. Karl Raimund Popper - neben Jürgen Habermas zweifellos einer der einflussreichsten Wortführer der Aufklärung im 20. Jahrhundert - erläutert in seiner Schrift Woran glaubt der Westen? das Projekt der Aufklärung vor allem unter zwei Gesichtspunkten: Zur Aufklärung gehöre erstens der Rationalismus, verstanden als Glaube „an die Wahrheit und die Vernunft“. Die Aufgabe der Vernunft beschränkt Popper dabei hauptsächlich auf „die Rolle der kritischen Überlegung, der kritischen Diskussion“(10) - womit er Allmachtsansprüche der Vernunft explizit zurückweist: „Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder vom Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, daß wir durch Kritik lernen können“(11). Zweitens verbinde sich mit der Aufklärung „die Hoffnung einer Selbstbefreiung durch das Wissen“(12). Für Popper orientiert sich das Projekt der Aufklärung also an denselben beiden Idealen, die wir auch an Kants Aufklärungskonzeption herausgearbeitet haben: erstens an der kritischen Vernunft, zweitens an der Freiheit.

 

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Deutlicher als Kant, aber zweifellos in dessen Sinne(13) betont er, dass die Kritik sich in zwei Richtungen entfalten muss: erstens als „kritische Diskussion“, zweitens als „Selbstkritik“. Mit besonderem Nachdruck insistiert er darauf, dass ein offener Dialog die Grundvoraussetzung aufklärerischer Kritik und Selbstkritik ist. Die aufklärerische Vernunft ist für Popper also wesentlich dialogisch verfasst.(14)

Das Projekt der Aufklärung, so können wir abschließend festhalten, wird durch einen Horizont von Leitvorstellungen gebildet: Die beiden Grundrichtungen des Aufklärungsprojekts werden durch die Leitideale der Vernunft und der Freiheit markiert. Sie bilden eine Einheit im Grundsatz des Selbstdenkens. Das Ideal der Vernunft konkretisiert sich in den Grundwerten der Kritik, des Dialoges, der Wahrheit, das der Freiheit in Werten wie Autonomie, Selbstbefreiung usw.

 

2. Die Griechische Aufklärung

Wird Aufklärung als Projekt und nicht bloß als Epoche verstanden, macht es auch Sinn, nach den antiken Ursprüngen der europäischen Aufklärung zu fragen. So blickt auch Popper gerade aus einem Interesse an der Entwicklung eines aufklärerischen Ethos für die Gegenwart zurück auf dessen antike Quellen. „Was war das Geheimnis der Alten? Ich vermute, es war eine neuentstandene Tradition - die Tradition der kritischen Diskussion“, heißt es in seinem Vortrag Zurück zu den Vorsokratikern. Popper glaubt die Anfänge der „kritischen Einstellung“ in der auf Thales zurückgehenden Ionischen Schule entdecken zu können: Sie habe - soweit wir historisch zu erkennen vermögen - als erste Kritik zugelassen und vermutlich sogar ermutigt, d. h. sie habe als erste ihre Aufgabe nicht mehr in der reinen Bewahrung der Lehre ihres Begründers, des Meisters, gesehen. So habe Anaximander offene Kritik an seinem Lehrer Thales geübt. Xenophanes schließlich komme zur Einsicht, dass seine eigene Lehre wie jedes menschliche Wissen nur Vermutung, nur vorläufige Suche nach Wahrheit ist. Er wird für Popper damit zum Begründer einer Tradition der Kritik und der Selbstkritik, die ihn mit der modernen Aufklärung verbindet: „Xenophanes war der Gründer einer Tradition, einer Denkrichtung, zu der unter anderen Sokrates, Montaigne, Erasmus, Voltaire, Hume, Lessing und Kant gehörten.“(15)


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Nachdem die Vorsokratiker das Tor zur Aufklärung geöffnet hatten, konnte Sokrates die von ihnen begründete kritische Tradition fortführen und auf den Bereich der Ethik anwenden. Ihn leitete die Überzeugung, dass eine rationale Neubegründung der Moral nur auf dem Weg der kritischen Diskussion erreicht werden könne, einer kritischen Diskussion, die im ständigen Wissen unseres Nichtwissens auf der Suche nach Wahrheit sei.(16) Popper betont zu Recht, dass Sokrates damit den Wert der Gedankenfreiheit entdeckt und eingefordert habe. Sein Leben und sein Sterben hat die Idee der geistigen Freiheit zu einem ersten Höhepunkt in der Geschichte der europäischen Aufklärung geführt. In seiner Gedächtnisrede zu Kants 150. Todestag stellt Popper ihn daher dem Königsberger Philosophen, dem „letzten großen Vorkämpfer“(17) der Aufklärung, unmittelbar zur Seite: „Wenn wir weiter in die Vergangenheit zurückgehen, um einen noch umfassenderen Blick auf Kants Platz in der Geschichte zu erlangen, so können wir ihn wohl mit Sokrates vergleichen. Beide wurden beschuldigt, die Staatsreligion verdorben und die Jugend geschädigt zu haben. Beide erklärten sich für unschuldig, und beide kämpften für Gedankenfreiheit. Freiheit bedeutete ihnen mehr als Abwesenheit eines Zwanges: Freiheit war für sie die einzig lebenswerte Form des menschlichen Lebens. Die Verteidigungsrede und der Tod des Sokrates haben die Idee des freien Menschen zu einer lebendigen Wirklichkeit gemacht. Sokrates war frei, weil sein Geist nicht unterjocht werden konnte; er war frei, weil er wußte, daß man ihm nichts anhaben konnte. Dieser Sokratischen Idee des freien Menschen, die ein Erbgut unseres Abendlandes ist, hat Kant auf dem Gebiete des Wissens wie auf dem der Ethik eine neue Bedeutung gegeben.“(18)

Das Projekt der modernen Aufklärung hat ihre Wurzeln in der griechischen Antike: Diese Einsicht hat Popper in seinen kühnen Rückblicken auf die Anfänge der europäischen Geistesgeschichte lebendig werden lassen. Die beiden Leitideale der modernen Aufklärung, kritische Vernunft und Freiheit, sind - darin ist Popper zweifelsohne zuzustimmen - in der Antike vorgebildet; eine herausragende traditionsbildende Stellung kommt hierbei Xenophanes und Sokrates zu. Sowohl die rationalistische als auch die emanzipatorische Aufklärungstradition haben ihren Ursprung im Denken der beiden Philosophen. Die aufklärerischen Grundwerte prägten aber auch das geistige Klima einer ganzen Epoche, vor allem des Perikleischen Zeitalters. In ihm erblickt Popper, wie viele vor ihm, „einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“: „gerade zu dieser Zeit [...] entstand ein neuer Glaube an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brüderlichkeit aller Menschen - der neue und, wie ich glaube, einzig mögliche Glaube der offenen Gesellschaft.“(19)


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Ausgehend von Poppers Aufklärungsbegriff haben wir die geistige Landkarte der Griechischen Aufklärung umrisshaft abgesteckt. Damit haben wir zugleich die Möglichkeit gewonnen, das vorherrschende Verständnis einer „Griechischen Aufklärung“ kritisch zu prüfen.(20) Zum einen wird dieser Ausdruck zur Bezeichnung der Geschichte des griechischen Denkens im Allgemeinen gebraucht. Diese sehr weit gefasste Begriffsverwendung hat den Nachteil, dass sie überaus deutungsarm ist. Zum anderen hat sich der Terminus zur Bezeichnung der Sophistik eingebürgert. Dabei wird das Hauptaugenmerk meist auf die sophistische Religions- und Traditionskritik einschließlich deren Vorläufer (z. B. Xenophanes) gerichtet.(21) Unter diesem Gesichtspunkt geraten vor allem die radikalen, häufig destruktiven aufklärerischen Tendenzen in den Blick - bis hin zum sophistischen Relativismus und Individualismus, der somit als Zielpunkt der Griechischen Aufklärung erscheint. Ein besonders markantes Beispiel ist der von O. Gigon verfasste Artikel „Aufklärung“ im Lexikon der Alten Welt: Nachdem er unterschiedliche Beziehungen zwischen Einsicht und Tradition aufgezählt hat, heißt es: Aufklärung „im strengen Sinne“ sei nur „die aggressive Destruktion von Torheit und Aberglaube“, „wo die destruktive Polemik alle andern Motive überdeckt“(22)

Die Konsequenz dieser Sichtweise ist ein negativ, u. U. auch polemisch gefärbter Aufklärungsbegriff. Aufklärung erscheint, gewollt oder ungewollt, als eine gefährliche, pathologische Erscheinung des griechischen Denkens. Die konstruktiven, freiheitlichen Dimensionen der Aufklärung werden dagegen verkannt. Es wird nicht hinreichend beachtet, dass Kritik an der Autorität und Tradition nicht notwendigerweise deren polemische Destruktion zum Ziel hat, sondern umgekehrt auch zu deren rationaler Neubegründung oder -interpretation führen kann (z.B. im Bereich der Religion). Gerade diese konstruktiven Tendenzen der Aufklärung lassen sich aber nicht auf die Sophistik eingrenzen. Sie wirken sich vielmehr in vielfältigen Bereichen des geistigen Schaffens vor allem des fünften Jahrhunderts v. Chr. aus.(23) Vor dem Hintergrund dieser umfassenderen Aufklärung erscheinen die radikalen, relativistischen und destruktiven Spielarten der Sophistik (die nur einen Teil dieser Bewegung ausmachen) eher als „Missbrauch der Aufklärung“(24) (Moses Mendelssohn) – ähnlich wie bestimmte Formen radikaler Aufklärung im 18. Jahrhundert, so z.B. bei den französischen Materialisten d’Holbach und Lamettrie.


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3. Das Bildungsziel „Aufklärung“ im Griechischunterricht

Das Bildungsziel „Aufklärung“ lässt sich dem erarbeiteten Begriffshorizont entsprechend nach verschiedenen Richtungen hin spezifizieren. Oberstes Ziel ist es, die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Selbstdenken zu fördern und zu stärken. Hieraus ergibt sich, dass die Schule sowohl eine Kultur des kritischen Dialoges und des methodisch-kritischen Denkens als auch eine Kultur der Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ausbilden soll. Sie soll Schüler darin stärken, sich im selbstständigen Gebrauch ihrer Freiheit an den Normen der kritischen Vernunft zu orientieren - hierzu gehört insbesondere die Selbstbegrenzung der individuellen Freiheit in der Anerkennung ethischer Grundsätze, insbesondere der universalen Freiheits- und Menschenrechte.

Dieses Bildungsziel „Aufklärung“ kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden. Eine Möglichkeit neben anderen ist die unmittelbare Begegnung der Schüler mit der aufklärerischen Tradition - sowohl der antiken als auch der neuzeitlichen. Auf diesem Weg kann den Schülern die europäische Aufklärung als Orientierungsmodell(25) vermittelt werden, das ihnen Impulse für das eigene Denken und Handeln geben und ihnen Deutungshorizonte der Selbsterkenntnis eröffnen kann.

Wie kein anderes Unterrichtsfach bietet das Fach Griechisch die Möglichkeit, die Ursprünge der europäischen Aufklärung in der griechischen Antike zu thematisieren. Dieses Ziel kann auf unterschiedlichen Ebenen verfolgt werden: Bereits in der Lehrbuchphase bieten sich viele Anknüpfungspunkte, in unterschiedlichen Kontexten Grundfiguren aufklärerischen Denkens zur Sprache zu bringen. In späteren Lektüreeinheiten können diese Grundeinsichten vertieft werden. Schließlich bietet es sich an, in der Oberstufe eine Unterrichtseinheit explizit zu diesem Thema durchzuführen. Eine solche themenorientierte Einheit soll im Folgenden vorgestellt werden.


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Der spezifisch methodische Ansatz dieser Unterrichtseinheit besteht darin, den Horizont perspektivisch von der griechischen Antike über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart zu öffnen. Neben den antiken Texten werden deshalb auch schwerpunktmäßig moderne mit einbezogen. Eine für diese Einheit grundlegende Unterrichtsmethode ist somit der Textvergleich, insbesondere der Vergleich zwischen antiken und modernen Texten. Nur auf diese Weise kann den Schülern das Weiterleben aufklärerischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart bewusst werden; nur so können sie Aufklärung als ein Kernelement der europäischen Geistesgeschichte und damit der kulturellen Identität Europas kennenlernen.

Da eine derartige Unterrichtseinheit es erforderlich macht, ein größeres Corpus sowohl antiker als auch moderner Texte zu behandeln, ist es unverzichtbar, mit zweisprachigen Texten zu arbeiten. Aus Zeitgründen können nicht alle griechischen Texte übersetzt werden. Die zweisprachige Lektürearbeit bietet dabei auch die didaktische Chance, die Schüler anzuleiten, den griechischen Originaltext sinnbetont zu erschließen, d.h. auf den griechischen Text dann zurückzugreifen, wenn sie bestimmte, anhand der Übersetzung in einem ersten Vorverständnis bereits erschlossene Begriffe und Gedankengänge durch einen vertiefenden Blick in das griechische Original genauer verstehen wollen.

 

4. Bausteine für eine Unterrichtseinheit „Europa und die griechische Aufklärung“

Eine Unterrichtseinheit zum Thema „Europa und die griechische Aufklärung“ kann sich aus mehreren Bausteinen zusammensetzen, die jeweils ein Kernelement der Aufklärung und zugleich der europäischen Identität umreißen. Im Folgenden werden fünf dieser Bausteine unterschieden, die sich auch als Bausteine des „gemeinsamen Hauses“ Europa (Friedrich Maier) verstehen lassen, auf dessen zukünftige Ausgestaltung unsere Bildungsinstitutionen die Schüler vorbereiten sollen.(26) Das Ziel der vorgestellten Unterrichtseinheit ist es, den Schülern bedeutende Wegmarken der griechischen Aufklärung aufzuzeigen und diese als Ursprung und geschichtliche Basis der kulturellen Identität Europas sichtbar werden zu lassen.


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Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt dementsprechend darauf, eine Auswahl an Schlüsseltexten der griechischen Aufklärung vorzustellen, sie den oben genannten Leitidealen der Aufklärung zuzuordnen und das Nachwirken ihrer jeweiligen Kerngedanken in der Neuzeit herauszuarbeiten. Auf methodische Hinweise zum konkreten Einsatz dieser Texte im Unterricht muss dagegen aus Platzgründen weitgehend verzichtet werden.

 

Baustein 1: Die kritische Diskussion

Die Sinnmitte eines aktuellen Verständnisses von Aufklärung bildet, wie wir gesehen haben, die Forderung nach einer kritischen Gesprächs- und Diskussionskultur. Zum ersten Mal in der europäischen Geistesgeschichte wird dieses Gesprächsmodell in Platons sokratischen Dialogen thematisiert. Besonders prägnant werden die Grundvoraussetzungen eines rationalen Dialoges im Kriton benannt. Nachdem Sokrates den moralischen Grundsatz aufgestellt hat, unter keinen Umständen Unrecht vergelten zu dürfen – der Geburtsstunde einer aufgeklärten Moral, die mit der traditionellen Rachemoral bricht –, erläutert er seinem Gesprächspartner Kriton die Verfahrensweise eines kritischen Gesprächs (Text 1, siehe Anhang): Jeder Gesprächspartner hat ein Recht auf freie Meinungsäußerung; jeder Gesprächspartner versucht den anderen durch Argumente zu überzeugen (Kritik), ist aber zugleich bereit, sich widerlegen zu lassen (Selbstkritik); niemand soll eine Meinung gegen seinen Willen annehmen. Ziel aller Gesprächsteilnehmer ist die gemeinsame Wahrheitssuche; am Ende soll eine gemeinsame Lösung, d.h. ein vernünftiger Konsens gefunden werden.

Dass dieses sokratische Modell des kritischen Gesprächs auch unserem heutigen, für moderne Demokratien grundlegenden Verständnis entspricht, zeigt ein Vergleich mit Poppers Plädoyer für einen Rationalismus, dessen geistige Mitte eben dieses Modell der kritischen Diskussion bildet (Text 2). Schülern diese rationale Einstellung zu vermitteln, stellt ohne Frage eine der Hauptaufgaben des Bildungsziels „Aufklärung“ dar.


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Baustein 2: Methodisch-kritisches Denken (am Beispiel der Religionskritik)

Der zweite Baustein versucht diese rationale Einstellung am Beispiel der Religionskritik weiter zu vertiefen. Wie Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft feststellt, tendiert Religion häufig dazu, sich der rationalen Prüfung entziehen zu wollen (Text 3) – eine Beobachtung, die sich auch heute z.B. in der Kreationismus-Debatte bestätigt findet. In der griechischen Antike hat sich die Kritik der Philosophen insbesondere gegen die mythologische und kultische Religion gerichtet, wie sich beispielhaft an Xenophanes‘ Kritik an anthropomorphen Göttervorstellungen aufzeigen lässt (Text 4).

Am Beispiel der aufklärerischen Religionskritik können die Schüler eine wichtige Einsicht gewinnen, die für eine pluralistisch verfasste, offene Gesellschaft grundlegend ist. Da rationale Kritik Ausdruck einer vorurteilsfreien Einstellung sein will, ist sie in ihren Ergebnissen a priori offen: Kritische Prüfung muss nicht notwendigerweise zur Widerlegung des Geprüften führen, sie kann auch lediglich zu dessen vernünftiger Rechtfertigung und Begründung führen. Mit anderen Worten: Aufklärerische Kritik ist nicht notwendigerweise destruktiv und traditionsfeindlich – wie ein verbreitetes Missverständnis unterstellt. Die geistige Offenheit rationaler Kritik lässt sich exemplarisch an der Religionskritik von Prodikos, Protagoras und Xenophanes aufzeigen: Aus der Kritik an der mythologischen Religion gewinnt Prodikos eine atheistische, Protagoras eine agnostische und Xenophanes eine aufgeklärt monotheistische Position (Text 5). Ebenso offen ist das Spektrum der Religionskritik im 18. Jahrhundert, wie sich an drei Vertretern der neuzeitlichen Aufklärung aufweisen lässt: Die Kritik an Aberglaube und Fanatismus führt bei d’Holbach zu einem atheistischen, bei Lichtenberg zu einem agnostischen und bei Voltaire zu einem monotheistischen Standpunkt (Text 6). Die Erfahrung der Pluralität unterschiedlicher Meinungen, die eine Folge der aufklärerischen Kritik an Tradition und Autorität ist, führt auch zum Bewusstsein der Grenzen unseres Erkennens besonders in religiösen Fragen. Auch diese Selbstkritik unserer Vernunft findet sich bereits bei Xenophanes (Text 7).

Die Herausbildung der rationalen Einstellung hat in der Griechischen Aufklärung den Übergang vom Mythos zum Logos bewirkt. Im Methodenkapitel aus Thukydides‘ Geschichtswerk Der Peloponnesische Krieg wird diese Entwicklung am Beispiel der Historiographie bewusst reflektiert (Text 8). Zugleich wird hier ein weiteres Wesensmerkmal abendländischer Rationalität formuliert: die Normen der Klarheit, Deutlichkeit und Genauigkeit (τὸ σαφές, ἀκρίβεια), die in der Neuzeit durch Descartes zum methodischen Prinzip der Wissenschaft erhoben wurden.


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Baustein 3: Freiheits- und Menschenrechte

Aufklärung umfasst, wie oben gezeigt wurde, sowohl eine rationalistisch-kritische als auch eine emanzipatorische Tendenz. Nachdem in den Bausteinen 1 und 2 der thematische Schwerpunkt auf dem Aspekt der Vernunftkritik in ihren unterschiedlichen Ausprägungen gelegen hat, tritt in den Bausteinen 3 und 4 die Norm der Freiheit in den Vordergrund. Eine der politisch bedeutendsten Errungenschaften der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist die Formulierung der Menschenrechte. Das Menschenrechtsdenken hat eine Vorgeschichte, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Zum ersten Mal haben die Sophisten ein universales Naturrecht (φύσει) auf Freiheit postuliert und damit die Unterscheidung zwischen Sklaven und Freien einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. In drei Fragmenten wird diese aufklärerische Sprengkraft sophistischen Denkens für uns greifbar (Text 9). Ein Vergleich mit Artikel 1 der Déclaration des Droits de l’homme von 1789, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 (Text 10 und 11) macht bewusst, dass wir der Griechischen Aufklärung erstmals die Anerkennung des fundamentalsten aller Menschenrechte, dem für alle Menschen gleichen Recht auf Freiheit verdanken - neben den Normen des offenen Gesprächs und der rationalen Kritik ein dritter unverzichtbarer Baustein europäischer Identität.

Aber nicht nur das Recht auf Freiheit, auch andere Menschenrechte haben ihren Ursprung im antiken Denken, wie ein Vergleich zwischen der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 und dem Epitaphios des Perikles in Thukydides‘ Peloponnesischem Krieg zeigt. In dieser idealisierten, utopisch gefärbten Lobrede Athens sind neben dem Grundrecht auf Freiheit u.a. auch das Recht auf Gleichheit, auf gleichberechtigten Ämterzugang, auf Schutz vor Unterdrückung und auf politische Selbstbestimmung vorgebildet (Text 11 und 12). Der Unterschied zu späteren Menschenrechtserklärungen besteht allerdings darin, dass diese Rechte in Athen nur den freien Bürgern zugesprochen wurden, dass sie von den athenischen Demokraten also noch nicht als universale Menschenrechte, sondern nur als Bürgerrechte konzipiert wurden. In diesem Punkt waren die Sophisten zweifellos radikaler. Dennoch hat die Entstehung von Bürgerrechten in der athenischen Demokratie den Grundstein für die später universalistisch konzipierten Menschenrechte gelegt.


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Baustein 4: Freiheit und Selbstbestimmung

Thema des vierten Bausteines ist das Freiheitsverständnis der Aufklärung. Aufgrund ihrer Orientierung an der Norm kritischer Rationalität kann die Aufklärung Freiheit nicht subjektivistisch verstehen als die Freiheit, nach Belieben das zu tun, was man gerade will (nach dem Motto „anything goes“), sondern als eine durch ein selbstgegebenes Vernunftgesetz bestimmte Freiheit. Nach einem genuin aufklärerischen Verständnis ist Freiheit als Autonomie, d.h. als ein Handeln nach einem eigenen, selbstbestimmten Gesetz bzw. als selbstbestimmtes Handeln aus eigener Einsicht, zu verstehen. Daraus ergibt sich als Leitidee der Aufklärung die Einheit von kritischem Denken und selbstbestimmtem Handeln, die Einheit von Gedanke und Tat, von Wort und Tat.

Dieses Selbstverständnis der Aufklärung lässt sich exemplarisch nicht erst für die Neuzeit, sondern bereits im Epitaphios des Perikles nachweisen. Perikles sagt dort über die Bürger Athens: „und nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch, denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, sondern vielmehr, sich nicht durch das Wort vorher belehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht. Aber auch dadurch zeichnen wir uns aus, dass wir kühnen Mut und kluge Überlegung bei allem, was wir anfassen, in uns vereinen [...]“ (Text 13, Herv. v. Vf.).

Der perikleische Gedanke, dass Selbstdenken den Mut zur freien Tat erfordert, findet sich in vergleichbarer Weise in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung wieder. Unter dem Eindruck der terreur, in die die Französische Revolution trotz ihrer fortschrittlichen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit umgeschlagen ist, stellt Schiller fest, dass „Energie des Muts“ erforderlich sei, um die durch die Aufklärung gewonnenen Einsichten auch im praktischen und politischen Handeln umzusetzen. (Text 14).

Diese Einheit von kritischem Denken und selbstbestimmtem Handeln verkörpert in mustergültiger Weise die sophokleische Antigone, die neben Sokrates den Schülern als eine weitere Symbolgestalt der Aufklärung vorgestellt werden kann. Antigone widersetzt sich dem Befehl Kreons, ihren gefallenen Bruder Polyneikes unbestattet liegen zu lassen, unter Berufung auf die ἄγραφοι νόμοι. Auf den ersten Blick scheint sie damit heteronom zu handeln. Die ἄγραφοι νόμοι sind aber, wie eine genaue Lektüre des Dramas zeigt, den Menschenrechten äquivalent (die ja auch theologisch begründet werden können). Antigone bezeichnet sie als ἀσφαλῆ [...] νόμιμα (V. 454f.), d.h. als unveräußerliche und unverlierbare Rechte, die kein Sterblicher aufzuheben vermöge. Sie haben für Antigone zeitlose Geltung (456f.), im Gegensatz zu den positiven Gesetzen des Tyrannen (Text 15).

Es ist das Bewusstsein, im Einklang mit dem Naturrecht der ἄγραφοι νόμοι zu handeln, das Antigone den Mut zum Widerstand gegen Kreon gibt. Aus diesem Grund kann der Chor Antigone auch als αὐτόνομος und αὐτόγνωτος (V. 821/875) bezeichnen. Er erblickt den Grund ihres Scheiterns darin, dass sie nach eigenem Gesetz und aus eigener Einsicht gehandelt hat: „Doch gehst du ruhmvoll so und mit Lob / In diese Kammer der Toten! / Dich schlugen verzehrende Krankheiten nicht /


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Noch empfingst du das Handgeld der Schwerter, / Sondern nach eigenem Gesetz (αὐτόνομος) / Gehst lebend du / Als einzige unter den Sterblichen / Hinab in das Reich der Toten! /[...]/ Dich aber hat vernichtet / Dein eigenwilliges Streben (αὐτόγνωτος ὀργά).“ (V. 817ff., Text 16) Am Beispiel der Gestalt der Antigone kann den Schülern somit vermittelt werden, dass Selbstdenken, so wie Antigone es in ihrem herrschaftskritischen und selbstständigen Denken verkörpert, die Entschlossenheit zum autonomen Handeln fordert, dass aufklärerische Gesinnung zum Widerstand gegen illegitime Macht führt. Gleichzeitig kann ihnen bewusst werden, dass umgekehrt die Freiheit gerade in der Orientierung an einem Gesetz – in diesem Fall den ἄγραφοι νόμοι – ihren Sinn finden kann.

 

Baustein 5: Achtung vor ethischen Grundsätzen

Der Chor wirft Antigone Härte und Unnachgiebigkeit vor: „Es zeigt des harten Vaters harte Art / Sich an dem Kind. Kein Nachgeben kennt sie im / Üblen.“ (V. 471f., Text 14). In diesen Worten schwingt eine ambivalente Einschätzung der Antigone zwischen Bewunderung und Skepsis mit. Diese Aussage des Chors öffnet den Blick auf ein Grundproblem der Aufklärung, das bereits Sophokles reflektiert hat: das Problem einer Dialektik bzw. eines Missbrauchs von Aufklärung. „Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie“, schrieb Moses Mendelssohn im Jahre 1784 (Text 17). Der „Hartsinn“ der Antigone, ihre Kompromisslosigkeit und Monomanie(27), lässt sich unter diesem Gesichtspunkt auch als Kehrseite ihres Autonomiestrebens interpretieren.

Zur Aufklärung gehört seit ihren Anfängen das Streben nach Fortschritt. Durch fortschreitende Naturbeherrschung versucht der aufgeklärte Mensch, sich von der Macht der Natur zu emanzipieren und souveräne Selbstständigkeit zu erlangen. Gerade der technische Fortschritt ist aber in seinen Folgen für die Menschheit ambivalent: Εr lässt sich nicht nur zum Nutzen des Menschen anwenden, sondern auch zu dessen Schaden - in solchem Maße, dass er zu einer gefährlichen und zerstörerischen Deformation von Aufklärung degenerieren kann. Dieses Problem einer „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno / Horkheimer) trat aber nicht erst in der Moderne zu Tage, vielmehr hat es bereits Sophokles im ersten Stasimon der Antigone eindringlich reflektiert. Das Chorlied führt die unterschiedlichen Bereiche menschlichen Fortschritts vor Augen, durch die der Mensch Herrschaft über die Natur gewonnen hat (Strophe 1: Herrschaft über Land und Meer durch Schifffahrt und Ackerbau; Strophe 2:


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Herrschaft über die Tierwelt durch Jagd und Viehzucht; Strophe 3: Herrschaft über Krankheiten und Schutz vor Naturgefahren durch Medizin und Hausbau). Durch diesen Fortschritt kann der aufgeklärte Mensch außerordentliche Macht gewinnen, die er zum Guten wie zum Bösen gebrauchen kann: „In dem Erfinderischen der Kunst / Eine nie erhoffte Gewalt besitzend,/ Schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.“ (V. 365-367, Text 18). Der Chor setzt dem Menschen in seinem Fortschrittsstreben deshalb eine doppelte ethische Norm: die Gesetze des Landes und das göttliche Recht („Achtet er die Gesetze des Lands / Und das bei den Göttern beschworene Recht: / Hoch in der Stadt!“, V. 368-370). Der Chor fordert vom aufgeklärten Menschen also doppelten Respekt: Achtung vor den Gesetzen der πόλις und Achtung vor den ἄγραφοι νόμοι der Götter, modern gesprochen: Achtung vor den ethischen Grundlagen der Staats und vor dem Naturrecht.

Als Abschluss der Unterrichtseinheit bietet sich ein Auszug aus Johannes Raus eingangs erwähnter Grundsatzrede zur Bioethik Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß vom 18. Mai 2001 an (Text 19). Bei seinem Versuch, ein humanes Maß für den technischen Fortschritt zu formulieren, blickt Rau auf das erste Stasimon der Antigone zurück. In ihm komme bereits dasselbe Staunen, auch dasselbe Erschrecken über die „ungeheuren Leistungen“ des menschlichen Fortschritts zum Ausdruck, das auch wir heute empfinden. Auch die Antwort, die Rau auf die Frage nach den ethischen Grenzen des Fortschritts gibt, entspricht im Kern der sophokleischen. Rau konstatiert, dass „bestimmte Möglichkeiten und Vorhaben der Bio- und Gentechnik im Widerspruch zu grundlegenden Wertvorstellungen vom menschlichen Leben stehen.“ Diese Wertvorstellungen, die sich „in einer mehrtausendjährigen Geschichte“ herausgebildet haben, liegen nach Rau „dem schlichten Satz zu Grunde, der in unserem Grundgesetz allem anderen vorangestellt ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Achtung vor den Menschenrechten bzw. den über Jahrtausende hinweg tradierten Grundrechten des Menschen sollen für Rau das Maß des Fortschritts bilden - ebenso wie dieser eine normative Regelung erfahren soll durch „eine fundierte und gewissenhafte öffentliche Diskussion, in der nichts unausgesprochen bleibt: Weder die Absichten noch die Ziele, weder die Hoffnungen noch die Ängste, die sich mit den neuen Möglichkeiten verbinden. Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische Machbarkeitsphantasien.“(28)

Achtung vor gemeinsamen, in einem öffentlichen Diskurs gewonnenen ethischen Grundsätzen und Achtung vor der Menschenwürde – dies bildet für Rau den Kern einer „Aufklärung im besten Sinne des Wortes“. Es ist eine Aufklärung, die aus der europäischen und – wie Rau zu Recht betont – auch aus der außereuropäischen Geschichte das bewahrt, was Orientierung in unserer Gegenwart bieten kann.

StR Dr. Paul Barone
Brachfeldstraße 21i
77654 Offenburg



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Anhang

Vorbemerkung: Die griechischen Texte werden im Folgenden nur in der deutschen Übersetzung zitiert, da es sich in der Regel um gut zugängliche, zum Kanon der Schullektüre gehörende Texte handelt.

 

Text 1: Platon: Kriton (48e-49a und 49c-d)

Sokrates: Wir wollen die Sache gemeinsam untersuchen, mein Bester, und wenn du etwas widerlegen kannst von dem, was ich sage, dann widerlege es, und ich werde dir folgen. Wenn du das nicht kannst, dann höre endlich auf, du Redlicher, mir immer wieder mit demselben Gedanken zu kommen, daß ich gegen den Willen der Athener von hier weggehen soll. Denn ich lege großen Wert darauf, mich mit deinem Einverständnis so zu verhalten, und nicht gegen deinen Willen. Faß jetzt den Anfang der Untersuchung ins Auge, ob meine Worte dich befriedigen, und versuche, mir auf meine Fragen nach bestem Wissen zu antworten. [...]

Sokrates: Man darf also kein Unrecht vergelten noch einem Menschen Böses tun, und wenn man noch so schwer von ihm zu leiden hatte. Und sieh dich vor, Kriton: wenn du hierin mit mir übereinstimmst, dann darfst du das nicht gegen deine Überzeugung tun; denn ich weiß, daß nur wenige hiervon überzeugt sind, jetzt und in Zukunft. Zwischen denen aber, die diese Überzeugung haben, und denen, die sie nicht haben, gibt es keine Gemeinsamkeit des Standpunktes, und mit Notwendigkeit verachten sie einander, wenn sie ihre beiderseitigen Standpunkte betrachten. Sieh also ganz genau zu, ob du hier mitmachen kannst und derselben Meinung bist wie ich und wir bei unserer Beratung davon ausgehen dürfen, daß es niemals richtig ist, Unrecht zu tun oder Unrecht zu vergelten oder sich, wenn man Böses erlitten hat, zur Wehr zu setzen, indem man selbst wieder Böses tut - oder wirst du abtrünnig und machst du schon bei diesem Ausgangspunkt nicht mit? Denn ich war schon immer davon überzeugt und bin es auch jetzt noch, doch du, wenn du eine andere Überzeugung hast: sprich und gib Auskunft. Wenn du aber an deiner früheren Ansicht festhältst, dann höre das weitere. [...]

Platon, Apologie des Sokrates / Kriton, hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1987, 47-49.

 

Text 2: Karl Raimund Popper: Woran glaubt der Westen?

Ich möchte mich [...] zuallererst als einen ganz altmodischen Philosophen vorstellen - als einen Anhänger jener längst überwundenen und verschwundenen Bewegung, die Kant »Aufklärung« nannte und andere »Aufklärerei« oder auch »Aufkläricht«. Das bedeutet aber, daß ich ein Rationalist bin und an die Wahrheit und die Vernunft glaube. Es bedeutet natürlich nicht, daß ich an die Allmacht der menschlichen Vernunft glaube. Ein Rationalist ist keineswegs, wie unsere anti-rationalistischen Gegner oft behaupten, ein Mensch, der ein reines Vernunftswesen sein möchte und der andere zu reinen Vernunftswesen machen möchte. Das wäre ja höchst unvernünftig. Jeder vernünftige Mensch, und daher auch, hoffe ich, ein Rationalist, weiß sehr gut, daß die Vernunft im menschlichen Leben nur eine sehr bescheidene Rolle spielen kann. Es ist die Rolle der kritischen Überlegung, der kritischen Diskussion. Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder vom Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, daß wir durch Kritik lernen können - durch kritische Diskussion mit anderen und durch Selbstkritik. Ein Rationalist ist also ein Mensch, der bereit ist, von anderen zu lernen, nicht dadurch etwa, daß er jede Belehrung einfach hinnimmt, sondern dadurch, daß er seine Ideen von anderen kritisieren läßt und daß er die Ideen anderer kritisiert. [...] nur die kritische Diskussion kann uns helfen, eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen. [...]


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Die rationale Einstellung kann vielleicht am besten durch den Satz ausgedrückt werden: Vielleicht hast Du recht, und vielleicht habe ich unrecht; und wenn wir auch in unserer kritischen Diskussion vielleicht nicht endgültig entscheiden werden, wer von uns recht hat, so können wir doch hoffen, nach einer solchen Diskussion die Dinge etwas klarer zu sehen als vorher. Wir können beide voneinander lernen, solange wir nicht vergessen, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr darauf, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Denn es geht uns ja beiden vor allem um die objektive Wahrheit.

Karl Raimund Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 132004, 232f.

 

Text 3: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede A

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.

Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. W. Weischedel, Darmstadt 1983, Band II, 13.

 

Text 4: Fragmente von Xenophanes

Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet, / was bei Menschen übelgenommen und getadelt wird: / stehlen und ehebrechen und einander betrügen. (DK 21 B 11)

Sie haben soviel Missetaten der Götter aufgezählt als möglich: / stehlen und ehebrechen und einander betrügen. (DK 21 B 12)

Die Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, / die Thraker blauäugig und blond. (DK 21 B 16)

Aber die Menschen nehmen an, die Götter seien geboren, / sie trügen Kleider, hätten Stimme und Körper – wie sie selbst. (DK 21 B 14)

Wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten / und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen,/ so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, / die Rinder in der von Rindern, und sie würden solche Statuen meißeln, / ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend. (DK 21 B 15)

Die Vorsokratiker I. Griechisch / Deutsch, hg. v. Jaap Mansfeld, Stuttgart 1983, 220-223.



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Text 5: Fragmente von Xenophanes, Prodikos und Protagoras

1 Xenophanes
Ein einziger Gott ist unter Göttern und Menschen der Größte, / weder dem Körper noch der Einsicht nach den sterblichen Menschen gleich. (DK 21 B 23)

Als ganzer sieht er, als ganzer versteht er, als ganzer hört er. (DK 21 B 24)

 [...] ohne Anstrengung des Geistes lenkt er alles mit seinem Bewußtsein. (DK 21 B 25)

Die Vorsokratiker I. Griechisch / Deutsch, hg. v. Jaap Mansfeld, Stuttgart 1983, 224f.

2 Prodikos von Keos
Prodikos aus Keos sagt, daß die Sonne, den Mond und die Flüsse, Quellen und überhaupt alles, was unserem Leben nützt, die Alten für Götter hielten wegen des daraus entspringenden Nutzens, wie die Ägypter den Nil, und deshalb glaubten sie, daß Demeter das Getreide sei, der Wein Dionysos, das Wasser Poseidon, das Feuer Hephaistos und vollends jedes von den gutgebräuchlichen Dingen.

Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch / Deutsch, hg. und übers. von T. Schirren und T. Zinsmaier, Stuttgart 2003, 244-247.

3 Protagoras
Als erster behauptete er [Protagoras], daß es zu jeder Sachlage zwei Einschätzungen gebe, die einander entgegengesetzt seien [...] In einer anderen Schrift begann er folgendermaßen: „Über die Götter kann ich weder sagen, daß sie sind, noch auch, daß sie nicht sind, vieles nämlich steht dem Wissen hindernd im Wege: Die Undeutlichkeit der Sachlage und daß das Menschenleben kurz ist.“

Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch / Deutsch, hg. und übers. von T. Schirren und T. Zinsmaier, Stuttgart 2003, 36f.

 

Text 6: d’Holbach, Lichtenberg und Voltaire zur Gottesfrage

Wenn die Unkenntnis der Natur die Götter erzeugt hat, dann ist die Naturerkenntnis dazu bestimmt, sie zu vernichten.
Paul Heinrich Dietrich von Holbach (1723-1789)

Ist denn wohl unser Begriff von Gott etwas anderes als personifizierte Unbegreiflichkeit?
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Wir besitzen keine angemessene Vorstellung von der Gottheit, wir bewegen uns nur mühsam von einer Vermutung zur anderen, von einer Wahrscheinlichkeit zur anderen und gelangen nur zu sehr wenigen Gewissheiten. Es gibt etwas, also gibt es etwas Ewiges, denn nichts kommt aus dem Nichts. Das ist eine gesicherte Wahrheit, auf die unser Geist sich verlässt. Jedes Werk, das Mittel und Zweck erkennen lässt, kündet von einem Schöpfer; also deutet das Weltall, zusammengesetzt aus Kräften und Mitteln, die alle ihren Zweck haben, auf einen allmächtigen und allwissenden Urheber. Das ist eine Wahrscheinlichkeit, die größter Gewissheit nahe kommt. Aber ist dieser höchste Schöpfer unendlich, ist er überall oder an einen Ort gebunden? Wie können wir diese Frage mit unserem beschränktem Verstand und unseren geringen Kenntnissen beantworten?
Voltaire (1694-1778)

zitiert aus: Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. Geschichte der Philosophie in 14 Bänden, München 1984, Band VIII, 225.



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Text 7: Fragmente von Xenophanes

Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat / hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre. / Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, / würde er sich dessen trotzdem nicht bewusst sein: bei allen Dingen gibt es nur Annahme. (DK 21 B 34)

Die Götter haben den Menschen durchaus nicht gleich am Anfang alles enthüllt, / sondern im Lauf der Zeit suchen und finden sie [die Menschen bzw. die Götter] Besseres hinzu. (DK 21 B 18)

Die Vorsokratiker I. Griechisch / Deutsch, hg. v. Jaap Mansfeld, Stuttgart 1983, 222-225.

 

Text 8: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg (I,22,2-4)

Die Taten freilich, die in diesem Krieg vollbracht wurden, glaubte ich nicht nach dem Bericht des ersten Besten aufschreiben zu dürfen, auch nicht nach meinem Dafürhalten, sondern ich habe Selbsterlebtes und von anderer Seite Berichtetes mit größtmöglicher Genauigkeit in jedem einzelnen Falle erforscht. Schwierig war die Auffindung der Wahrheit, weil die jeweiligen Augenzeugen nicht dasselbe über dasselbe berichteten, sondern je nach Gunst oder Gedächtnis. Zum bloßen Anhören wird vielleicht durch das Fehlen des erzählerischen Elements meine Darstellung weniger erfreulich scheinen. Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.

Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, übers. und hg. H. Vretska und W. Rinner, Stuttgart 2000, 23-24.

 

Text 9: Sophistische Fragmente

Alkidamas, Schüler des Gorgias, Sophist
Der Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt.

Das Fragment stammt aus einem Scholion zu Aristoteles‘ Rhetorik, 1373b18 (Aristotelis Ars Rhetorica, hg. R. Kassel, Berlin u.a. 1976, 342). Ebenfalls abgedruckt in: Die Sophisten (2003), 342 (vgl. die kritischen Anmerkungen der Herausgeber).
Übersetzung zitiert aus: Der Neue Pauly, Stuttgart 1996, Bd. 1, 503 (Art. „Alkidamas“).

Antiphon, Sophist  
Es läßt sich beobachten, daß die Dinge, die zum Bereich des von Natur aus Seienden gehört, bei allen Menschen notwendig und allen vermöge derselben Fähigkeiten verfügbar ist; und in eben diesem ist niemand, ob Barbar oder Hellene, von uns verschieden. Denn wir blasen alle den Atem durch den Mund und durch die Nase in die Luft, und wir lachen, wenn wir uns im Herzen freuen, oder weinen, wenn wir traurig sind [...]

Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch / Deutsch, hg. und übers. von T. Schirren und T. Zinsmaier, Stuttgart 2003, 194f.



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Text 10

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (Artikel 1)
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Nizza 2000) (Artikel 6)

Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

K. Peter Fischer, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten, Paderborn u. a. 2004, 208 und 344.

 

Text 11: Die Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers in der französischen Nationalversammlung vom 6. August 1789

Artikel 1. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.
Artikel 2. Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unverzichtbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung.
Artikel 3. Der Ursprung aller Souveränität liegt wesenhaft in der Nation. Keine Körperschaft und kein einzelner darf eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.
Artikel 4. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen hat also nur die Grenzen, die den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß eben dieser Rechte sicherstellen. Diese Grenzen dürfen nur durch das Gesetz bestimmt werden. [...]
Artikel 6. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger sind berechtigt, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es nun beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger in seinen Augen gleich sind, können sie nach ihrer Fähigkeit gleichermaßen zu allen öffentlichen Würden, Stellen und Ämtern zugelassen werden, ohne anderen Unterschied als den ihrer Tugenden und ihrer Talente. [...]
Artikel 10. Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Natur, belästigt werden, solange ihre Äußerungen nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stören.

K. Peter Fischer, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten, Paderborn u. a. 2004, 193f.

 

Text 12: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg

Epitaphios des Perikles (II,37,1-3 und II,40,2-3)

Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als dass wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht, nach der Würdigkeit aber genießt jeder - wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht - in den Angelegenheiten des Staates weniger aufgrund eines regelmäßigen Wechsels (in der Bekleidung der Ämter), sondern aufgrund seiner Tüchtigkeit den Vorzug. Ebenso wenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung daran gehindert.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/2 (2008), 21
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Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt. Wie ungezwungen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch - in Gehorsam gegen Amtsträger und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt. [...]

Mit derselben Sorgfalt widmen wir uns dem Haus- wie dem Staatswesen, und ist auch jeder von uns seinen eigenen Arbeiten zugewandt, so zeigt er doch im staatlichen Leben ein gesundes Urteil. Einzig und allein bei uns heißt doch jemand, der nicht daran teilnimmt, nicht untätig, sondern unnütz; und nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch, denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, sondern vielmehr, sich nicht durch das Wort vorher belehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht.
Aber auch dadurch zeichnen wir uns aus, dass wir kühnen Mut und kluge Überlegung bei allem, was wir anfassen, in uns vereinen, während die anderen Unkenntnis verwegen, Überlegung bedenklich macht. Die größte Seelenstärke sprechen wir mit Recht denen zu, die das Furchtbare und das Angenehme am klarsten erkennen und gerade deshalb keiner Gefahr ausweichen.

Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übers. und hg. H. Vretska und W. Rinner. Stuttgart 2000, 138-140.

 

Text 14: Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (Achter Brief)

[...] woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück - woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?
Es muß also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemütern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdrucke versteckt: sapere aude.
Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muts gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegensetzen. Nicht ohne Bedeutung läßt der alte Mythus die Göttin der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen [...]

Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980ff., Band V, 591.



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/2 (2008), 22
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Text 15: Sophokles: Antigone (V. 449-472)

KREON
Und hast gewagt, dieses Gesetz zu übertreten?

ANTIGONE sehr schlicht
Es war nicht Zeus, der mir dies ausgerufen,
Noch sie, die mitwohnt bei den unteren Göttern, Dike,
Die beide dies Gesetz den Menschen aufgestellt.
Auch meint ich nicht, daß deine Ausgebote
So mächtig seien, daß die ungeschriebenen
Und wankenlosen Satzungen der Götter
Einer, der sterblich wäre, überholen könnte.
Denn nicht seit heut und gestern sind sie: diese leben
Von je her, und weiß niemand, woher sie gekommen.
Indem ich diese bräche, mocht ich nicht, aus Furcht
Vor irgendeines Mannes Dünkel, vor den Göttern
Strafe erleiden. - Daß ich sterben würde:
Ich wußt es wohl - wie nicht? -, auch wenn du nicht
Es öffentlich verkündigt hättest. Aber sterbe
Ich vor der Zeit: ich acht es als Gewinn.
Denn wer, wie ich, in vielen Übeln lebt,
Wie fände der im Tode nicht Gewinn?
So ist für mich, daß ich dies Schicksal leide,
In nichts ein Schmerz. Doch meiner Mutter Sohn
Im Tode dulden ohne Grab, den Toten,
Das schmerzte mich. Dies aber schmerzt mich nicht. -
Schein ich dir aber töricht jetzt in meinem Tun,
Mag mich ein wenig wohl ein Tor der Torheit zeihen.

ÄLTESTER
Es zeigt des harten Vaters harte Art
Sich an dem Kind. Kein Nachgeben kennt sie im Üblen.

Sophokles, Tragödien, übers. Wolfgang Schadewaldt, hg. Bernhard Zimmermann, Düsseldorf / Zürich 2002, 153f.

 

Text 16: Sophokles: Antigone (V. 817-822, V. 853-856 und V. 872-875)

CHOR
Doch gehst du ruhmvoll so und mit Lob
In diese Kammer der Toten!
Dich schlugen verzehrende Krankheiten nicht
Noch empfingst du das Handgeld der Schwerter,
Sondern nach eigenem Gesetz [αὐτόνομος]
Gehst lebend du
Als einzige unter den Sterblichen
Hinab in das Reich der Toten!
[...]

Vorschreitend bis zum Äußersten der Kühnheit,
Bist an der Dike hohem Sockel
Du tief gefallen, o Kind!
Doch büßest du väterlichen Kampf.
[...]   

Die Toten ehren, ist Frömmigkeit
Auf eine Art.
Doch Macht - wem immer die Macht gehört -,
Die ist auf keine Weise zu übertreten.
Dich aber hat vernichtet
Dein eigenwilliges Streben.

Übers. Wolfgang Schadewaldt

Griechischer Text: Sophokles, Dramen. Griechisch und deutsch, Hg. und übers. Wilhelm Willige, Nachwort von Bernhard Zimmermann, München 21985.



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/2 (2008), 23
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Text 17: Moses Mendelssohn: Über die Frage: Was heißt aufklären? (1784)

„Missbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie.“

Moses Mendelssohn, Ästhetische Schriften in Auswahl, hg. Otto F. Best, Darmstadt 31994, 269.

 

Text 18: Sophokles: Antigone (Erstes Stasimon, V. 312-383)

CHOR
Viel Ungeheures ist, doch nichts
So Ungeheures wie der Mensch.
Der fährt auch über das graue Meer
Im Sturm des winterlichen Süd
Und dringt unter stürzenden Wogen durch.
Und der Götter Heiligste, die Erde,
Die unerschöpfliche, unermüdliche,
Plagt er ab,
Mit wendenden Pflügen Jahr um Jahr
Sie umbrechend mit dem Rossegeschlecht.

Und der leicht-sinnigen Vögel Schar
Holt er mit seinem Garn herein
Und der wilden Tiere Völker und
Die Brut des Meeres in der See
Mit netzgesponnenen Schlingen:
Der alles bedenkende Mann. Er bezwingt
Mit Künsten das draußen hausende Wild,
Das auf Bergen schweift,
Und schirrt das rauhnackige Pferd
An dem Hals unters Joch
Und den unermüdlichen Bergstier.

Auch die Sprache und den windschnellen
Gedanken und städteordnenden Sinn
Bracht er sich bei, und unwirtlicher Fröste
Himmelsklarheit zu meiden und bösen Regens
Geschosse, allerfahren. Unerfahren
Geht er in nichts dem Kommenden entgegen.
Vor dem Tod allein
Wird er sich kein Entrinnen schaffen.
Aus Seuchen aber, unbewältigbaren,
Hat er sich Auswege
Ausgesonnen.

In dem Erfinderischen der Kunst
Eine nie erhoffte Gewalt besitzend,
Schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.
Achtet er die Gesetze des Lands
Und das bei den Göttern beschworene Recht:
Hoch in der Stadt! Verlustig der Stadt,
Wem das Ungute sich gesellt
Wegen seines Wagemuts! -
Sitze mir nicht am Herd
Noch habe Teil mit mir am Rat,
Wer so tut!

Übers. W. Schadewaldt



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/2 (2008), 24
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Text 19: Johannes Rau: Wird alles gut? - Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß

Heute möchte ich dazu beitragen, daß wir in all unseren Debatten Ausschau halten nach dem, was ich das menschliche Maß nenne. [...]
Wer von »Maß« spricht, der spricht von Grenzen. Ohne Grenzen, ohne Begrenzung, gibt es kein Maß. Aber ist das nicht ein Widerspruch: von Fortschritt und zugleich von Grenzen zu sprechen? [...] Denken - forschen, wissen, entdecken - das heißt überschreiten.
Wir wissen aber auch: Jedes Überschreiten von Grenzen stellt uns immer wieder vor neue - vor Grenzen der Erkenntnis, vor Grenzen dessen, was wir Menschen können, vor Grenzen dessen, was wir verantworten können. Dafür brauchen wir Maßstäbe, die uns unterscheiden helfen, was wir tun dürfen und was wir nicht tun dürfen. Wir müssen uns die nur scheinbar einfache Frage vorlegen: Was ist gut für den Menschen?
Was aber ist dem Menschen gemäß? Was ist das »Menschliche« am »menschlichen Maß«? Ist nicht gerade »das Menschliche« eine sehr vieldeutige Kategorie? In seinem Schauspiel Antigone hat Sophokles vor fast 2 500 Jahren die großen Leistungen und Erfindungen der Menschheit benannt. Und er faßt sein Staunen darüber so zusammen: »Ungeheuer ist viel, nichts aber ist ungeheurer als der Mensch.«
Heute staunen wir wieder - wie damals Sophokles - über die ungeheuren Leistungen, die uns Menschen möglich sind - und manches Mal halten wir erschreckt inne.
Die Antworten auf die Frage: »Was ist gut für den Menschen?« finden wir weder in der Natur noch in unseren technischen Möglichkeiten. Wir können sie nur finden, wenn wir ethische Grundsätze für unser persönliches Leben und für das Zusammenleben von Menschen formulieren, achten und selber leben. [...] Ethische Grundsätze zu formulieren, das bedeutet, sich auf Maßstäbe und auf Grenzen zu verständigen. [...]
Was in der Biotechnologie und in der Fortpflanzungsmedizin geschieht oder möglich ist, hat in einem wesentlichen Punkt eine völlig neue Qualität: Da geht es nicht mehr allein um technologische Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt. Zum erstenmal scheint die Menschheit fähig, den Menschen selber zu verändern, ja ihn genetisch neu zu entwerfen.
Angesichts der moralischen Dimension dieser Fragen wird es niemanden erstaunen, daß die Kirchen hier besonders engagiert sind. Es wäre aber ein Irrtum, zu glauben, es handelte sich dabei um bloße kirchliche Sondermoral. Man muß ja wahrlich kein gläubiger Christ sein, um zu wissen und um zu spüren, daß bestimmte Möglichkeiten und Vorhaben der Bio- und Gentechnik im Widerspruch zu grundlegenden Wertvorstellungen vom menschlichen Leben stehen. Diese Wertvorstellungen sind - nicht nur bei uns in Europa - in einer mehrtausendjährigen Geschichte entwickelt worden. Sie liegen auch dem schlichten Satz zu Grunde, der in unserem Grundgesetz allem anderen vorangestellt ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar. [...]


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/2 (2008), 25
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Wir brauchen eine fundierte und gewissenhafte öffentliche Diskussion, in der nichts unausgesprochen bleibt: Weder die Absichten noch die Ziele, weder die Hoffnungen noch die Ängste, die sich mit den neuen Möglichkeiten verbinden. Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische Machbarkeitsphantasien.
Wir müssen uns gemeinsam immer wieder neu darauf verständigen, welche Richtung wir dem Fortschritt geben wollen. Wir müssen immer wieder neu entscheiden, welche Grenzen wir überschreiten und welche Grenzen wir akzeptieren wollen. Wir müssen immer wieder wägen und entscheiden, welche Möglichkeiten unser Leben wirklich freier machen und welche Möglichkeiten uns bloß neuen Zwängen unterwerfen oder gar in das Leben anderer eingreifen.
Die Zukunft ist offen. Sie ist kein unentrinnbares Schicksal und kein Verhängnis. Sie kommt nicht einfach über uns. Wir können sie gestalten - mit dem, was wir tun, und mit dem, was wir nicht tun. Wir haben viele, wir haben große Möglichkeiten. Nutzen wir sie für einen Fortschritt und für ein Leben nach menschlichem Maß.

Johannes Rau, Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Berliner Rede des Bundespräsidenten am 18. Mai 2001, Frankfurt a.M. 2001, 9-12, 17-18, 37-38.

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(1) Johannes Rau, Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß, Frankfurt a. M. 2001, 38.

(2) Rau (2001), 38.

(3) Für diese Bildungsaufgabe tritt Hartmut von Hentig in seinem Buch Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung (Stuttgart 2003) engagiert ein. In seiner Einführung in die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts begreift Rainer Nickel Aufklärung vor allem unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Emanzipation als fachspezifische Aufgabe des Griechisch- und Lateinunterrichts (Darmstadt 1982, 237-240).

(4) Einführend zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts: Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, München 22001; Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 2001; Peter-André Alt, Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart / Weimar 1996.

(5) Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. W. Weischedel, Darmstadt 1983, Band III, 283.

(6) Kant (1983), Band VI, 53.

(7) Eine fundierte Orientierung zum Aufklärungsbegriff bietet der von Horst Stuke verfasste Artikel: „Aufklärung“. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff., Band 1, 243-342.

(8) Kant (1983), Band III, 283.

(9) Vgl. Schneiders (2001), 7.

(10) Karl Raimund Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 132004, 232.

(11) Popper (2004), 232.

(12) Popper (2004), 233.

(13) Vgl. hierzu Kants Ausführungen über den privaten und öffentlichen Vernunftgebrauch in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

(14) Diesen Aspekt der Aufklärung hebt auch Jürgen Mittelstrass in seinem Standardwerk Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie besonders hervor (Berlin/New York 1970).

(15) Popper (2004), 217.

(16) Popper (2004), 41ff. Zu Poppers Sokrates-Interpretation vgl.: Klaus Disselbeck: „Sokrates als Vorbild. Der Ursprung der Kritik aus dem Wissen des Nichtwissens“, in: Ethik & Unterricht 1/02, 2-12.

(17) Popper (2004), 138.

(18) Popper (2004), 147.

(19) Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons, Tübingen 71992, 220.

(20) Knapper Überblick bei Jochen Schmidt (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, 4; Mittelstrass (1970), 56f.

(21) Dieses Verständnis der Griechischen Aufklärung liegt der Textsammlung von Günther Heil zugrunde: Die sog. „Griechische Aufklärung“ / Die Kyniker - eine antike Protestbewegung. Textsammlungen zusammengestellt und bearbeitet von Günter Heil und Klaus Döring, Stuttgart 1986. Zu dieser Textsammlung ist ein didaktischer Kommentar erschienen: Günther Heil: Die sog. „Griechische Aufklärung“. Orientierungskurs in Klasse 11, in: AU 6/1985, 5-19.

(22) O. Gigon, Artikel „Aufklärung“, in: Lexikon der Alten Welt. Zürich/Stuttgart 1965, 398.

(23) Ein Verständnis der Griechischen Aufklärung, das dem hier im Anschluss an Popper entwickelten nahe kommt und ihre konstruktiven Seiten in den Vordergrund rückt, findet sich bei Schmidt (1989), 4 und Mittelstrass (1970).

(24) Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften in Auswahl, hg. Otto F. Best, Darmstadt 31994, 269.

(25) Zum didaktischen Begriff des „Modells“ vgl.: Nickel (1982), 190-195.

(26) Europäische Identität ist natürlich immer eine konstruierte: Im geschichtlichen Bewusstsein entwerfen und konstruieren wir kollektive Identität im Rückgriff auf das, was in der gemeinsamen europäischen Geschichte aus heutiger Sicht als bewahrenswert anzusehen ist. Dies schließt nicht aus, dass eben dies – man denke nur an die Menschenrechte – im Laufe der Jahrhunderte immer wieder negiert wurde. Wer Aufklärung demnach als Kernelement europäischer Identität ansieht, wird nicht leugnen wollen, dass es im Laufe der europäischen Geschichte viele ‚dunkle‘, von gegenaufklärerischen Tendenzen beherrschte Zeiten gab. Im Gegenteil: Aufklärung bildet sich oft erst im Widerspruch gegen Erfahrungen des Irrationalen, der Unterdrückung usw. heraus. Zum Problem der europäischen Identität vgl.: Julian Nida-Rümelin / Werner Weidenfeld (Hg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007.

(27) Siehe hierzu: Bernhard Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2000,  80-83.

(28) Rau (2001), 37f.