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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift IX/1 (2009), 92

Benedikt Simons

Die Matrix – Platons Ideen in einer virtuellen Welt der Zukunft

Der so genannte „Blockbuster“ Matrix gilt als „ein Meilenstein in der Filmgeschichte. Kino total – und kultverdächtig“ (TV Hören + Sehen), insbesondere durch seine Tricktechnik, deren Grundlage – die fortschreitende Technisierung der Gesellschaft und ihre technologische Abhängigkeit – der Film einer deutlichen Kritik unterzieht: Er erzählt die Geschichte des Computerhackers „Neo“, der von dubiosen Agenten um Mr. Smith angeblich wegen Computerverbrechen gejagt wird und nach dem Verhör durch den geheimnisvollen „Morpheus“ und seine Truppe in die Geheimnisse der „Matrix“ eingeführt wird. Zu dieser Truppe gehört auch eine herbe Schönheit mit Namen „Trinity“, die am Ende des Films Neo ihre Liebe gesteht. Sie, Morpheus und ihre Freunde sind davon überzeugt, dass Neo derjenige ist, der sie und die Menschheit insgesamt von der Matrix befreien wird, der „Auserwählte“. Denn die Matrix – das gibt Neo schon bei der ersten Begegnung mit Trinity zu erkennen – liegt der Welt, so wie er sie kennt, zugrunde, doch näher weiß er sie nicht zu definieren, bis Morpheus ihn über die Matrix aufklärt. Sie ist letztlich ein Computerprogramm, das, von Maschinen mit künstlicher Intelligenz konstruiert, die Wahrnehmungen der Menschen bestimmt und damit die Realität, in der die Menschen leben. Morpheus übernimmt danach die Ausbildung Neos und versucht, ihn auf seine messianische Bestimmung vorzubereiten, die Menschen zu befreien, nämlich von der Matrix und ihren Bindungen.

Den wesentlichen Beitrag dazu aber soll das „Orakel“ leisten. Das Orakel soll Neo dahin führen, seine Bestimmung von sich aus anzuerkennen. Neo jedoch nimmt die Auskünfte der Orakelseherin als Bestätigung für seine eigene Vermutung wahr, dass er eben nicht der Auserwählte sei. Der weitere Verlauf des Films jedoch zeigt das Gegenteil.

Auf der Rückfahrt werden Morpheus und die anderen von dem Verräter ihrer Truppe an den Agenten Smith verraten, die meisten werden getötet, Morpheus gefangengenommen, Trinity und Neo können entkommen und versuchen dann, Morpheus zu befreien. Durch die erfolgreiche Befreiungsaktion bewährt sich Neo und nimmt seine Bestimmung im finalen Kampf gegen Agent Smith an. Er stirbt und erhebt sich nach seinem Tod, unbesiegbar für die Agenten, auserwählt, die Menschheit zu retten.

Schon diese grobe Übersicht zeigt die zentrale Bedeutung der Orakelszene in dem Film Matrix. Sie ist eine Zäsur, die deutlich zwei Teile scheidet, die zudem nahezu gleichlang dauern, einen ersten, in dem Morpheus Neo in die Geheimnisse der Matrix eingeführt und ausgebildet hat, und einen zweiten, in dem Neo sich bewähren und seine Bestimmung annehmen wird.

 

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Das Orakel soll andererseits Neo einen letzten Hinweis auf ebendiese Bestimmung geben und damit die Ausbildung Neos gleichsam abschließen, seine Prophezeiung ist auch die Motivation Neos, Morpheus zu befreien. Da der Film sich bei dieser zentralen Szene explizit eines Orakels bedient, einer typisch antiken Einrichtung, fällt dem Betrachter hier die Rezeption der Antike direkt ins Auge. Je tiefer aber man die Orakelszene des Films Matrix untersucht, desto mehr wird deutlich, welche weitreichende Wirkung antikes Denken auf den Film gehabt hat. Wie an anderer Stelle dargelegt (1), zeigt sich diese nicht nur in der äußeren Szenerie des Orakels, sondern gerade auch in der inhaltlichen Bedeutung seiner Aussagen und der Struktur der Matrix an sich. An diesen Stellen setzt meine Unterrichtsreihe an, die ich nach zweieinhalb Jahren bei zwei Schülergruppen in Arbeitsgemeinschaften mit 2 Wochenstunden gleichsam als Abschluss ihrer Beschäftigung mit dem Griechischen vor der unmittelbaren Vorbereitung zum Abitur durchgeführt habe.

Neos Mentor Morpheus führt den Helden mit der Erklärung zum Orakel, seine Seherin sei sehr alt, „she´s the guide, she can help you to find the path.(2) Nachdem er zum Orakel vorgelassen worden ist, beweist dort die alte Prophetin zunächst leichthin ihre prophetische Kraft, da sie den Sturz einer Vase entschuldigt, bevor Neo sie einen Augenblick später herumreißt. Während eines lockeren Gesprächs, in dem die alte Frau mit allem Charme plaudert und Andeutungen macht über eine Frau, die Neo liebt, fragt sie ihn unvermittelt, was er selbst über seine Bestimmung denke. „Honestly, I don´t know“, antwortet Neo. Ohne weiteren Kommentar nimmt die Seherin diese Antwort hin und bittet Neo, sich herumzuwenden und die Inschrift auf dem Türsturz der Küchentür zu studieren: „That´s latin, meens: know yourself!“ Denn dort steht „Temet nosce!“ Daraufhin teilt sie Neo das „Geheimnis“ über das Wesen des Auserwählten mit: „Being the one is just like being in love.“ Erst nach dieser Antwort beginnt, so scheint es Neo, die Sitzung; die Seherin prüft seine Augen, liest aus seinen Händen und stellt traurig bedauernd fest: „Sorry, you´ve got the gift, but you are waiting for something, maybe for your next life.(3)

Damit sieht Neo seinen Verdacht bestätigt, er sei nicht der Auserwählte. Aufgrund des weiteren Verlaufs jedoch wird klar, dass er ebendieser Auserwählte ist. Die Orakelszene und die ihr zugewiesene Bedeutung würden also durch den Filmverlauf zu einer ironischen Absurdität, hätte die alte Frau in freundlicher Senilität sinnlos Sätze aneinandergereiht. Zudem weiß sie, dass Neo die Vase herunterreißt, sie weiß von Trinitys Liebe zu Neo, diese und die anderen Angehörigen der Gruppe um Morpheus sprachen nur in großer Hochachtung vom Orakel, das „Vorzimmer“ des Orakels wäre auch nicht so voll, hätte sich seine Weisheit nicht schon bewährt, und Morpheus betonte, dass die Seherin Hilfe bietet, jedoch nur als ein Wegweiser. Nüchtern betrachtet besteht auch kein Anlass zu glauben, das eigentliche Orakel sei der eine Satz der Seherin und beginne nicht schon früher. Diese Interpretation ergibt sich letztlich nur daraus, dass die Seherin wie eine alte Zigeunerin Neo aus den Händen liest. Da Neo aus Gewohnheit Prophezeiungen damit verbindet, meint er auch, nur der letzte Satz sei das Orakel. Dieser Eindruck aber ist kein hinreichender Einwand dagegen, dass die Hilfe des Orakels viel früher einsetzt, nämlich in dem Augenblick, als er das Innere des Orakels betritt und der Seherin gegenübersteht.

 

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Demzufolge hat sich Neo geirrt und die dunklen Aussagen der Seherin wegen seiner eigenen Zweifel und seiner eigenen Voreingenommenheit falsch gedeutet.(4) Die Äußerungen des Orakels müssen einen inhaltlichen Bezug haben. Besteht also zwischen den Äußerungen der Seherin über die Selbsterkenntnis, die „Liebe“ und Neos neues Leben, auf das er wartet, ein Zusammenhang?
Diese Fragen ergeben sich nur, wenn zum einen der gesamte Film gesehen und auf seinen Aufbau hin untersucht worden ist, so dass die zentrale Position der Orakelszene und der Widerspruch zwischen Neos Deutung und dem weiteren Verlauf herausgearbeitet werden können. Und zum anderen muss ebendiese Szene genau untersucht werden. Der erste Arbeitsauftrag bietet sich für eine Hausaufgabe über eine Woche geradezu an, deren Ergebnisse in einem Tafelbild (Kasten 1) gesichert werden können.(5) Zur Vertiefung wird die ca. 10 Minuten lange Orakelszene noch einmal im Unterricht mit dem Auftrag gezeigt, die Aussagen der Seherin zu sammeln. Beides ist in einer Schulstunde leicht zu bewältigen, so dass in der Folgestunde die Aussagen in einem Tafelbild5 gesammelt werden können (Kasten 2).

Zentrale Bedeutung innerhalb der Orakelszene haben einerseits der Hinweis der Seherin auf den lateinischen Spruch über dem Türsturz, temet nosce, und ihre Definition des „Auserwählten“ als eines „being in love.“ Denn Temet nosce ist die lateinische Übertragung von γνῶθι σαυτόν, das wohl Chilon aus Sparta (6) auf dem Türsturz des Apollontempels im delphischen Orakelheiligtum angebracht hat. Ursprünglich als Mahnung an den Menschen aufzufassen, sich selbst in der Begrenztheit vor dem göttlichen Kosmos zu erkennen, dürfen wir „es nach den Berichten bei Plato und Xenophon (vgl. memorab. 4, 2, 25f.) als feststehend annehmen, dass das delphische γνῶθι σαυτόν zu den Bestandstücken der sokratischen Unterredungskunst gehörte.“(7) Die Weisung des Gottes von Delphi nimmt Sokrates in Platons Dialog „Charmides“ (164e–165b) zum Anlass, eine Definition der σωφροσύνη zu geben. Letztlich gilt es auch hier, den Kern des menschlichen Wesens zu erkennen. In sokratischem wie delphischem Sinne bestimmt Platon diese Tugend als die Erkenntnis, als Mensch kein substantielles Wissen zu haben. Diese Passage wird in einem vom Lehrer gelenkten Unterrichtsgespräch gemeinsam durch das Konstruktionsverfahren ins Deutsche übertragen. Dieses Vorgehen hat sich bei einer Anfängergruppe bewährt, weil die methodische Einführung an einem vergleichsweise übersichtlichen und sprachlich nicht allzu anspruchsvollen Text eine solide Basis für die spätere Übersetzungstätigkeit bei der wichtigen Stelle aus der Politeia und damit die Möglichkeit freierer Arbeitsformen dort bieten kann. In einer abschließenden Partnerarbeit sollen die Schüler die Definition der σωφροσύνη anhand des Textes in Stichworten festhalten.

 

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Bei der Sicherung hat sich bis jetzt jedes Mal die Frage auf Seiten der Schüler ergeben, was denn jetzt die Erkenntnis des Menschen (in seiner Begrenztheit) mit Neo und seiner Mission zu tun habe. Diese Frage lässt sich zuspitzen auf den Zusammenhang zwischen dem Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen und eines „being in love.“ Denn wenn das Wesen des „Auserwählten“ so gekennzeichnet ist, Neo aber der Auserwählte ist, was hat dieser Weg der Selbsterkenntnis mit „Liebe“ zu tun?
Diese Frage beantwortet Platon. Im „Symposion“ definiert Sokrates den „Eros“ als das Streben zum Schönen (200e–201c). Als das Schönste schlechthin bestimmt er später durch den Mund Diotimas die Weisheit, so dass er zwischen den Weisen und Unverständigen stehe (204a–c). Nach einer detaillierten Übersetzung der sprachlich gesehen vergleichsweise einfachen Passagen in drei Stunden lassen sich die Ergebnisse in einem Tafelbild festhalten (Kasten 3).

Geht man vom platonischen Gebrauch des delphischen Spruches und der umfassenden Liebe, dem Eros, aus, entsteht ein Band zwischen den drei „dunklen“ Äußerungen der Seherin: Sie weist Neo durch den delphischen Spruch an, erkenne Dich selbst und die Grundlagen Deines Seins, denn der Auserwählte gibt sich vollkommen der Liebe hin, dem Streben nach der Weisheit schlechthin, so definiert sich das „neue Leben“, auf das Neo nach dem Orakel wartet, das des Auserwählten nämlich. Diese Weisheit ist dadurch gekennzeichnet, dass er die Wahrheit der eigenen und der menschlichen Existenz erkennt. Die drei Aussagen zeigen Neo also drei Stationen seines „platonischen“ Weges, die Suche nach der Weisheit, die Erkenntnis über die Liebe zu ebendieser Weisheit und damit das Ziel seines Wartens, das neue Leben als Auserwählter. So erfüllt die Seherin die Charakterisierung durch Morpheus, sie zeigt Neo den Weg. Doch gehen muss ihn Neo selbst.

Platons Denken also beeinflusste die Weisung des Orakels in Matrix stark, Neo solle sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben und damit sein Wesen finden. Wenn diese Suche aber so entscheidend ist für Neos Selbst, ist es für ihn wie für den Zuschauer von existenzieller Bedeutung, die Antwort auf folgende Frage zu kennen: Was ist denn die Wahrheit? Mit dieser Frage wird der Übergang geschaffen zum dritten Teil der Reihe, der erneut mit dem Auftrag in einer Hausaufgabe einsetzt, nämlich den Film im Hinblick daraufhin zu untersuchen, wie und mit welchen Begriffen die Wahrheit der menschlichen Existenz definiert wird.

Neo müsste die Antwort schon vor seinem Besuch des Orakels kennen. Denn die Wahrheit über die menschliche Existenz wird schon im ersten Teil des Films deutlich bestimmt. Ein Priesterjunge im Vorraum fasst es durch seine Bemerkung, „realize the truth, it´s not a spoon“, nur noch einmal zusammen (Kap. 21). Morpheus hatte Neo zuvor ständig die wahren Grundlagen der menschlichen Existenz vor Augen geführt. Allerdings war Morpheus von Beginn an bewusst, dass Neo noch nicht bereit war zu sehen, was er ihm zeigen wollte. Zweimal, bei ihrer ersten direkten Kontaktaufnahme via Mobiltelephon (Kap. 5) und bei der ersten Begegnung, betont er das (Kap. 8): Neo sei „a man who accepts, what he sees, because he´s exspecting to wake up. Ironically this is not far from the truth.“

 

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Was diese Welt bestimmt, die Matrix, das konnte Neo zwar von Anfang an benennen (Kap. 4), aber kaum mit einem Inhalt füllen. Ihr Wesen bestimmte denn auch erst Morpheus (Kap. 8): Sie sei überall, sie konstruiere „a world that is pulled over your eyes, to blind you from the truth.“ So mache sie die Menschen zu „Sklaven“ und sei ein „Gefängnis für den Geist“ („prison for your mind“). Da man aber die Matrix selbst schlecht beschreiben könne, müsse Neo sie selbst erleben. Schließlich offeriert Morpheus den Abschied von der Welt, die er bisher kannte, einer Traumwelt, und nichts weniger als die Wahrheit. „All I´m offering, is the truth“ (Kap. 9).

Neo entschied sich dafür, die Wahrheit zu sehen, und wurde wiedergeboren; dabei führte der Film ihn und den Zuschauer auf eine futuristische Achterbahnfahrt durch eine mechanisierte Welt abstruser Maschinenmonstren. Danach begann Morpheus Neos Ausbildung (Kap. 12): Zu Beginn zeigte er Neo die wahre Welt, in dem vollen Bewusstsein, dass es für Neo nicht leicht sein werde, die Wahrheit zu sehen („It´s not easy for you, but it´s the truth“); ausgehend vom Begriff der „Realität“, die man mit seinen Sinnen („taste“, „feel“, „see“, „smell“) „electrical signals interpreted by your brain“, wahrnehme, dozierte Morpheus zunächst über die Grundlagen dieser „Realität“: die elektrischen Signale seien von der Matrix gesteuert, „a neuro-interactive simulation“, „a computer generated dreamworld, built to keep us under control.“ Denn in Wahrheit seien die Menschen nichts weiter als Energieversorger für Maschinen künstlicher Intelligenz, für die wahren Herrscher der Welt, die den Kampf gegen die Menschen im 21. Jahrhundert gewonnen hätten. Um diese Wahrheit über die Grundlagen der diesseitigen Welt zu erkennen, müsse der Geist sich von der bisherigen Wahrnehmung und damit von den Bindungen an die Realität der Matrix lösen. So könne Neo die Macht der Matrix brechen und die Menschen befreien. Wie es Morpheus zu Beginn schon vorausgesehen hatte und am Ende der ersten Ausbildungssequenz noch einmal betonte („I didn´t say, it would be easy, I just said, it would be the truth.“), überforderte diese Erkenntnis Neo tatsächlich, geradezu hysterisch brach er die erste Ausbildungseinheit ab und übergab sich.

Das folgende Training hatte zum Ziel, Neo langsam an die Wahrheit heranzuführen, er sollte sie annehmen und sich über die Regeln der Matrix erheben, seinen Geist befreien (Kap. 15). „Free your mind“ ist denn auch eine Phrase, die Morpheus in dieser Situation häufig gebrauchte (Kap. 16). Ständig führte er Neo vor Augen, dass seine eigene Überlegenheit bzw. Neos Schwächen eben darauf zurückzuführen waren, dass Neo sich geistig noch nicht von der (Schein-)realität gelöst und die Wahrheit über seine menschliche Existenz noch nicht angenommen hat. Deswegen unterlag Neo Morpheus im Karatekampf. Deswegen scheiterte er mit einem augenscheinlich unmöglichen Sprung von einem Wolkenkratzer zum nächsten. Stets zeigte ihm Morpheus den Gegensatz zwischen der wahrgenommenen Realität der Scheinwelt und der wahren Welt, zwischen Matrix und Wahrheit (Kap. 17).

 

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In Wahrheit gibt es in Matrix also zwei Welten, die Realität und die wahre Welt. Die Realität wird erfahren durch sinnliche Wahrnehmungen („taste“, „feel“, „see“, „smell“), von ihnen interpretiert und bietet daher keine letzte Sicherheit – alles nämlich kann verändert werden durch den entsprechenden Code der Matrix. Denn sie ist eine „Traumwelt“, eine Scheinwelt („simulation“) und ein „Gefängnis“ („prison“) für den Menschen, konstruiert durch die Matrix. Die Wahrheit („truth“) sieht man nur, wenn man sich von den Bindungen durch die Matrix und von sinnlichen Wahrnehmungen löst und sich ganz auf die Kraft des Geistes („mind“) verlässt; diese Erkenntnis wiederum ist absolut, die Wahrheit über die Maschinenwelt unumstößlich. Der Geist führt einen aus diesem Gefängnis hin zur Wahrheit. Den beiden Welten, der „simulation“ der Matrix und der Wahrheit („truth“) der menschlichen Existenz, teilt der Film also eindeutige Formen der Erkenntnis zu, durch die Sinne („feel“, „believe“) und durch den Geist („mind“, „know“). Dieser Gegensatz zwischen dem Schein der Realität und dem Sein der Wahrheit ist im ersten Teil des Filmes stets präsent. Diese Ergebnisse ließen sich leicht in einer Tabelle festhalten (Kasten 4). Es hat sich dabei für die spätere Gegenüberstellung mit Platons Vorstellungen bewährt, sie auf einer Folie, sei es über OHP, sei es über Computer und Beamer, in einer Spalte aufzulisten.

Dem klassischen Philologen fällt natürlich sofort die Parallelität mit Platons Höhlengleichnis im 7. Buch der Politeia auf. Die Beschäftigung mit der Passage baut zunächst auf der arbeitsteiligen Übersetzung der Passage in Gruppen auf. Drei Gruppen sollen die Passagen 514a – 515c; 515c – 516a; 516a – 516d übersetzen und mit der wahren Existenz in Matrix vergleichen (2 – 3 Std.).(8) Der bisherige Verlauf der Reihe bot für eine derart eigenständige Arbeit eine entlastende Grundlage, weil die Schüler Erfahrungen mit Textarbeit gemacht hatten und natürlich mit einer gewissen Erwartungshaltung an den Text herangingen, nämlich die Trennung zwischen jenseitiger Wahrheit und dem Gefängnis der diesseitigen Scheinwelt durch Platon bestätigt zu sehen. Übersetzung und Bearbeitung der anspruchsvolleren Passage 517b – 518c, die Erklärung des Höhlengleichnisses, geschah gemeinsam im Unterricht (2 Std.).
Die sprachlichen und inhaltlichen Parallelen zwischen Film und Text sind so offensichtlich, dass sich in einem Fall eine Sicherung auf Wunsch der Schüler hin erübrigte. Im anderen Fall wurden in der Tabelle (Kasten 4) Gemeinsamkeiten und parallele Begriffe gegenübergestellt.

Platons Dualismus von Scheinwelt und wahrer Welt bestimmt die Vorstellung in Matrix, in beiden Fällen ist die „Realität“ eine Scheinwelt, der in Wahrheit eine zweite Welt zugrunde liegt, der Film und Platon weisen den beiden Welten jeweils dieselben Formen der Wahrnehmung zu, nämlich durch die Sinne bzw. durch den Geist. Bei Platon und in Matrix ist die diesseitige Welt abhängig von den subjektiven Interpretationen des Einzelnen und bietet keine Sicherheit, auf der anderen Seite steht in beiden Vorstellungen die Existenz der jenseitigen Welt als absolute Wahrheit fest.

 

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Letztlich wirkt Platons Höhlengleichnis bis in die Sprache des Films, da die Realität der Matrix oft genug als „Gefängnis“ bezeichnet wird, in dem die Menschen von der Wahrheit abgehalten werden, und Platon die Höhle, in dem die Menschen nur Schattenbilder erkennen, als „Gefängnis“ bezeichnet, in dem die Menschen von der Wahrheit ferngehalten werden. Platon beschreibt auch die Situation desjenigen, der von den Fesseln befreit ist und die Wahrheit der Dinge unter Anleitung eines anderen, eines Ausbilders also, sehen kann: Da er die (Schein-)Realität so gewohnt ist, dürfte die Erkenntnis der Wahrheit schmerzhaft sein, zuerst würde er sie ablehnen. Deswegen bedürfe es der „Gewöhnung“, um den Kandidaten zur Erkenntnis der Wahrheit zu führen. So bestimmt Platon letztlich als Ziel der Erziehung, den Menschen von den Fesseln der Scheinwelt zu „lösen“, und präsentiert auch einen Erzieher, der den befreiten Menschen anleiten soll. Morpheus ist Neos Ausbilder oder Erzieher, der Neo zur Wahrheit führen will.(9) Und dieser Erzieher war schon zu Beginn unsicher, ob Neo bereit ist, die Wahrheit zu sehen. Tatsächlich rief die erste Ausbildungssequenz bei Neo eine heftige körperliche Abwehrreaktion hervor, und seine Fehlinterpretation des Orakels ist gerade auf seine Zweifel an der Wahrheit zurückzuführen. Das Training Neos zielte genau darauf ab, ihn an die Wahrheit und damit an die Scheinhaftigkeit der Matrix zu gewöhnen, um damit seinen Geist zu befreien („free your mind“). Und erst als er sich während seiner Bewährung im zweiten Teil vollkommen an sie gewöhnt hat, kann er sich über die Bindungen an die Matrix erheben.

Platons dualistische Lehre von den Ideen und die Schlussfolgerungen für die Ziele der Erziehung, die er im Höhlengleichnis veranschaulichte, sind die Grundlage für das dualistische Bild, das in Matrix die Wahrheit über die menschliche Existenz definiert, und für Neos Ausbildung. Jedoch bestimmt sie nicht die jenseitige Welt; sie nämlich ist in Matrix abstoßend, sie ist die der Maschinen, die das menschliche Sein zur Produktion von Energie degradiert haben. Bei Platon hingegen ist die absolute Grundlage allen Seins die „Idee des Guten“ (Politeia B. 6, 509 b; B. 7, 517 b f u. ö).(10)

Aber letztlich ist diese Frage für den Film Matrix nicht ausschlaggebend, wichtig ist in einem Film mit einem solchen Titel die Befreiung Neos von den Bindungen der Scheinwelt, der Matrix. Wichtige Stadien dieser Entwicklung Neos zum „Auserwählten“ sind aber nicht ohne Platon verständlich; Neos Ausbildung folgt jenem Weg, den Platon im Höhlengleichnis vorgibt, und gerade der Sinn der „dunklen“ Weisungen in der Orakelszene erschließt sich erst durch Platons Definition des Eros und des delphischen Γνῶθι σαυτόν. Ja, letztlich ist die Welt der Matrix selbst die Übertragung der platonischen Scheinwelt in die digitale Sprache der Gegenwart.

Natürlich haben die Schüler nie detailliert im Einzelnen alle diese Ergebnisse erzielt, aber, wie der Blick auf das Tafelbild zeigt (Kasten 4), sie arbeiteten die Gemeinsamkeiten und den maßgeblichen Unterschied in den Grundzügen heraus. Dies geschah in einem Unterrichtsgespräch mit den Schülern zusammen, dessen Ergebnisse von mir gesammelt und gegenübergestellt wurden.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Schüler sich auf diese Weise intensiv mit zentralen Gedanken der platonischen Lehre auseinander setzten, zum ersten Mal einen vergleichsweise leichten Einstieg in griechische Originallektüre erhielten, ohne vom Lektüreschock allzu sehr verschreckt zu werden, nicht zuletzt die Bedeutung der Alten Sprachen erkannten und später offen für diese eintraten. Sowohl meine AG als auch die Latein-Grundkurse, die es an meiner Schule seit 25 Jahren nicht mehr gab, erfahren durch die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ stete Wiederauferstehung.

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Kasten 1) Struktur des Films „Matrix“

1. Teil – Neos Einführung in die „Matrix“ (ca. 63´)

  • Jagd auf Trinity und Neo
  • Neos erster Kontakt mit Rebellen (Trinity)
  • Neos erster Kontakt mit Agent Smith
  • Neos zweiter Kontakt mit Rebellen (Morpheus):
  • Einweisung durch Morpheus
  • Lösung von der „Matrix“
  • Theoretische Einweisung
  • Praktische Einweisung (Trainingsprogramme)

Orakelszene (ca. 10´)
2. Teil – Neos Bewährung und Sieg über die „Matrix“ (ca. 63´)

  • Gefangennahme von Morpheus und Vernichtung vieler Mitglieder der Rebellengruppe
  • Befreiung von Morpheus durch Trinity und Neo
    • Neos zweiter Kontakt mit Agent Smith
    • Neos Tod und Auferstehung
    • Neos Sieg über die Matrix

 

Kasten 2) Orakelaussagen der Seherin in „Matrix“

  • Identifikation Neos, ohne dass er sich vorstellen muss.
  • Einschätzung von Neos grundsätzlich skeptischer Haltung (kein Stuhl)
  • Vorhersage des Vasensturzes
  • Wissen von Trinitys Zuneigung, ohne deren Namen zu nennen
  • Entlarvung von Neos Zweifeln im Dialog
  • Hinweis auf den Auftrag der Selbsterkenntnis in „temet nosce“
  • Definition des Auserwählten als „being in love“, der ganz erfüllt ist von diesem Gefühl
  • Absage, dass Neo der Auserwählte ist, aber Zusage, dass er die Gabe hat und auf etwas wartet
  • Vorhersage über den Tod von Morpheus oder Neo

 

 

Kasten 3) Definitionen der Liebe, des „Ἔρως“ im Symposion

  • Definition des „Ἔρως“ als ein Streben nach etwas, dessen man bedarf („ἔνδεια“) (200 e)
  • Definition des „Ἔρως“ als ein Streben nach schönem („καλά“) und nach der Schönheit („κάλλος“) (201 a/b)
  • Definition des „Ἔρως“ als ein Streben nach Schönem („καλά“) und damit nach Gutem („ἀγαθά“) (201 c)
  • Die Weisheit gehört zum schönsten („ἔστιν γὰρ δὴ τῶν καλλίστων ἡ σοφία“) (204 b).
  • Definition des „Ἔρως“ als einem Streben nach der Weisheit (204 b)
  • „Ἔρως“ daher ein anderes Wesen („ἰδέα“) als von Sokrates angenommen, nicht passiv, sondern aktiv, das nach etwas strebt (204c).

 

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Kasten 4)

Die Wahrheit über die menschliche Existenz in Matrix
  • Zwei Welten: die „Realität“ gegenüber der wahren Welt
  • „Realität“ bestimmt durch sinnliche Wahr­neh­mungen: „taste“, „feel“, „see“, „smell“ oder Gefühle („fear“)
  • „Realität“ bietet keine letzte Sicherheit und ist veränderbar
  • „Realität“ eine „simulation
  • „Realität“ ein „Gefängnis“ für den Menschen, konstruiert durch die Matrix
  • Wahre Welt („truth“) nur gelöst von Matrix und sinnlichen Wahrnehmungen erkennbar
  • Wahre Welt nur durch die Kraft des Geistes („mind“) erkennbar
  • Die wahre Welt zu erkennen bedeutet absolutes Wissen („know“), die Wahrheit über die Maschinenwelt ist unumstößlich
  • Wahre Welt abstoßend und dunkel
  • Erwerb der geistigen Erkenntnis schmerzhaft und nur durch Training möglich
Die Wahrheit über die menschliche Existenz („φύσις“) in der Politeia
  • Menschen gefangen („ἐν δεσμοῖς“) (514 a/b)
  • Menschen nehmen nur Schattenbilder wahr („σκιαί“) und das nur durch die sinnliche Wahrnehmung („ἑορακέναι“) (515b/c))
  • Erkennen des wahren Zustands wegen der Helligkeit des Feuers schmerzhaft (515c – 516a)
  • Es gibt zwei Welten, die sinnlich wahr­nehm­bare Welt („ἡ δι’ ὄψεως φαινομένη“), ein Gefängnis („δεσμωτήριον“), und eine der Erkenntnis („νοητός τόπος“)
  • Höhlengleichnis bildet den Aufstieg der Seele in die Welt der Erkenntnis ab (517b).
  • Idee des Guten Herrscherin von Wahrheit und Vernunft („ἀλήθεια“, „νοῦς“)) in der erkennbaren („νοητόν“) Welt (517c)
  • Idee des Guten Erzeugerin der Ursachen von Gutem und Schönem („ἀγαθά“, „καλά“) in der sichtbaren („ὀφθεῖσα“) Welt (517c)
  • Diesseitige Schattenwelt also abhängig von sinnlicher Wahrnehmung
  • Wahre Welt durch geistige Erkenntnis zugänglich

 

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Anmerkungen:

(1)  Die Unterrichtsreihe basiert auf einer Untersuchung, die ich für ein Bildungsprojekt für Erwachsene im Rahmen des SOKRATES-Programms der EU durchgeführt habe (Internet-/CD-Rom-Publikation „Rezeption der Antike in der modernen Alltagswelt“ (Projet 7086 3-VP-1-1999-1-FR; Leitung: Prof. P. Pommier, Bordeaux) 2001: http://www3.unict.it/mytho/al/cine.htm)

(2) Die Szene ist zu finden in Kapitel 21f. der DVD.

(3) Es zeigt sich hier, dass die Betrachtung im Unterricht in der englischen Originalfassung, ggf. mit deutschen Untertiteln erfolgen muss. Man sollte auch bei den Hausaufgaben darauf hinweisen. In der deutschen Synchronisation geht zu viel von maßgeblichen Hinweisen verloren, insbesondere die Formulierung „being the one is just like being in love“, das in der deutschen Übersetzung zu dem harmlosen Satz „Auserwähltsein heißt Verliebtsein“ reduziert wird. So geht der entscheidende Hinweis auf den platonischen Eros verloren.

(4) Das Missverständnis des (delphischen) Orakels aufgrund der eigenen Voreingenommenheit ist ebenfalls ein antikes Motiv: Als Kroisos, der König von Lydien, einem Königreich in Kleinasien, Persien angreifen wollte und in Delphi anfragte, ob dieser Entschluss richtig sei, antwortete das Orakel, er werde ein großes Reich zerstören. Diese Antwort legte Kroisos zu seinen Gunsten aus (Herodot 1, 53f.), aber die Perser vernichteten sein Reich (Herodot 1, 71; vgl. a. 7, 140–144). Ähnlich missverstand Pyrrhos das Orakel von Dodona und unterlag schließlich den Römern (Cass. Dio, 9, 40, 6). In beiden Fällen beruht das Missverständnis auf der Einstellung der Bittsteller, Pyrrhos wie Kyros wollten angreifen und sehen das Orakel als Bestätigung für ihren Angriff, Neo ist voller Zweifel über seine „Mission“ und sieht das Orakel als Bestätigung seiner Zweifel.

 

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(5) Dieses Tafelbild ist nur als Vorschlag zu verstehen, um die entscheidenden Ergebnisse zu illustrieren. Die Art der Sicherung und die Sammlung weiterer Ergebnisse sind natürlich jedem überlassen.

(6) Er lebte wohl Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. und galt als einer der Reformer des lakedaimonischen Gemeinwesens. Näheres dazu bei Tränkle, H., Gnothi seauton. Zu Ursprung und Deutungsgeschichte des delphischen Spruchs. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge. 11, 1985, 19–31.

(7) Kuhn, H., Sokrates. Versuch über den Ursprung der Metaphysik, München 1959, 51.

(8) Notwendig ist eine Phase der Hausarbeit zwischen den Arbeitsstunden in der Schule. Als Alternative wäre bei einer entsprechend geübten Gruppe auch ein Wochenplan zu 514a – 516d und ggf. 517b – 518a möglich: Die Pflichtaufgaben bestanden in der Übersetzung des Textes und dem Vergleich mit dem Film, die Wahlpflichtaufgaben in der Sammlung kennzeichnender Begriffe oder in der Visualisierung des Höhlengleichnisses. Als Wahlaufgabe hatte ich die Möglichkeit eingeräumt, christliche Motive in Matrix zu suchen. Abgesehen vom Ostererlebnis selbst, bei dem der Messias vom Tode aufersteht, liegt die Rezeption christlichen Gedankenguts besonders in der Namengebung vor: Denn mit seiner Auferstehung beginnt für „Neo“, den neuen Menschen, die „neue Existenz“ des Menschen, die nicht mehr an die Matrix gebunden ist und die er nun den Menschen verkünden will. So kennzeichnet auch der Apostel Paulus das neue Leben des Menschen nach dem Beispiel Christi, (1. Brief an die Thessal. 4, 13–18). Besonders wird der Bezug deutlich im Namen „Trinity“; die „Trinität“ bezeichnet die Dreieinigkeit Gottes, wie die Zahl drei (Morpheus, Neo, Trinity und auf der anderen Seite Mr. Smith und seine beiden Partner) im Film überhaupt eine wichtige Rolle spielt.

(9) Schon die antike Namengebung weist auf sein Wissen über die Traumwelt der Matrix hin; denn Morpheus ist in der Antike der Gott des Traumes, der simulator figurae, der Traumbilder produziert (vgl. Ovid, Metamorphosen, 11, 633 - 670). Morpheus führt Neo hinter die „Traumwelt“ der Matrix, indem er während der Ausbildung Szenen und Figuren simuliert.

(10) Nach Platons Lehre ist die Suche nach der Idee des Guten als der wahren Grundlage allen Seins eine durchaus erstrebenswerte Tätigkeit (dazu Plat. Phaidr. 352 d). Doch in Matrix findet der Verräter unter Morpheus´ Getreuen die Existenz in der Scheinwelt der Matrix viel angenehmer als die Plage in der wahren Welt der Maschinen; die Verweigerung der wahren Erkenntnis („ignorance“) ist für ihn eine Wonne („bliss“), und Morpheus selbst bezeichnet die wahre Welt als „desert of the real.“ In Matrix darf man die Frage stellen, ob es sich überhaupt lohnt, die Menschen zu befreien und ihnen die jenseitige Welt zu zeigen.