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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 112

Joachim Latacz

Kein gewöhnlicher Sandalenfilm

(Neue Züricher Zeitung am Sonntag, 23. Mai 2004)

Homer hat mich 52 Jahre lang begleitet, seit der Gymnasialzeit. Als Hochschullehrer habe ich 26 Jahre lang über ihn und seine „Ilias“ geschrieben und gesprochen. Homer ist ständig in mir.

Mit einem solchen Wissenshintergrund geht man nicht ohne Vorbehalte und vorwegnehmende Ironie in einen Film aus Hollywood mit Namen „Troja“. Ich bin eines Besseren belehrt worden. Der Film ist mehr als wildes Kampfgetümmel. Sein Regisseur Wolfgang Petersen hat den Kern der „Ilias“ verstanden. Sicher, Petersen macht - besonders in den Actionszenen und in den Technikspielchen - Konzessionen an Publikum und Auftraggeber, wie man das von einem 200-Millionen-Dollar-Projekt nicht anders erwarten darf. Trotzdem gelingt es Petersen, sich auf die Substanz der „Ilias“ zu konzentrieren: „In unserer Geschichte geht es um menschliche Grundwerte ... Schwarzweißmalerei hat da keinen Platz ..: Das wäre zu altmodisch.“

Das sind keine leeren Worte. Petersen hat die „Ilias“ schon als Gymnasiast am Hamburger Johanneum auf Griechisch gelesen. Jetzt hat er sich erneut mit ihr befasst. Was herausgekommen ist, nötigt Achtung ab. Es ist eine Deutung Homers, die vieles, was in der „Ilias“ angelegt ist, dezent verdeutlicht. Ebenso dezent, wie der Hinweis im Abspann klingt: „Inspired by Homer's Iliad“. Inspiriert durch die „Ilias“, nicht: die „Ilias“ nacherzählt! Das muss bedenken, wer sich über dieses filmische Ereignis mokieren will.

Schon Homer hatte eine uralte Geschichte, die er nicht selbst erfunden hat, neu gedeutet, hatte gegenüber der Tradition vieles versetzt, verschoben, anders motiviert. Petersen nimmt sich das Recht, es ihm nachzutun. Wenn er etwa drei Akteure mit Namen belegt, die in der „Ilias“ fehlen: Triopas, Boagrios und ein obskurer Velior; wenn er Paris nicht allein nach Sparta fahren lässt, sondern zusammen mit seinem Bruder Hektor; wenn er die Kriegsgefangene Briseis zur Apollon-Priesterin und zur Verwandten Hektors macht und sie so mit Kassandra verschmilzt; wenn Hektor Menelaos tötet (bei Homer kehrt Menelaos mit Helena nach Hause zurück); wenn Achilleus mitten in Trojas Brand von Paris´ Pfeil fällt (das Original lässt ihn lange vorher fallen); vor allem aber, weil er dem Film nicht die „Ilias“ allein zugrunde legt, sondern die gesamte Troja-Geschichte, aus der die „Ilias“ ja nur einen 51 Tage langen Ausschnitt darstellt, während die Vor- und Nachgeschichte in späteren Epen hinzugedichtet wurden.

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Petersen weiß das freilich und hat ganz im Sinne der antiken Rezeption das Richtige getan: Das erste Publikum der „Ilias“ kannte die Vor- und Nachgeschichte, ihm brauchte man sie nicht zu erzählen. Schon hundert Jahre nach der „Erstveröffentlichung“ aber war die Gesamtgeschichte nicht mehr allen gegenwärtig. Darum ergänzten andere Dichter, was Homer nur angedeutet hatte, in eigenen Gedichten. Petersen hat auch diese einbezogen. So ist der Titel des Films, „Troja“, durchaus begründet: Es ist wenn auch in Kurzform - die Gesamtgeschichte Trojas, die hier vorgeführt wird.

Nur einen Fehlgriff kann man Petersen nicht ganz verzeihen: Er lässt den Oberfeldherrn Agamemnon schon vor Trojas Mauern fallen. In Interviews hat er das selbst schon halb bereut. Zu Recht, denn damit ließ er sich eine hochbrisante Pointe entgehen: Agamemnon, König einer Großmacht, erobert ein fernes Land, kommt als Triumphator heim - und wird im Bade von der eigenen Frau ermordet.

Das bringt uns zur Substanz des Films. Die liegt nicht in der historisch präzisen Imitation von Bauten, Waffen und Gewändern - obwohl auch hier durchaus Anerkennenswertes, wenn auch nicht immer Richtiges, geleistet wurde. So führt zwar Ägypten als Vorbild für die Bauten in die Irre; die heute rekonstruierbare Alltagsrealität Trojas im 13. Jahrhundert v. Chr. hätte jedes gute archäologische Institut vermitteln können. Aber dass Petersen auch hier erstaunlich tief gegraben hat, zeigt der angstvolle Ausspruch, den er Agamemnon in den Mund legt: „Hinter den Trojanern warten die Hethiter!“ Davon konnte Homer, der rund 400 Jahre nach dem Untergang Trojas dichtete, nichts mehr wissen. Dafür weiß es die Troja-Forschung, und offensichtlich hat Petersen, der Manfred Korfmanns Grabung kennt, auch diese konsultiert.

Doch auch solche historische Details sind nicht der Kern des Films. Dieser liegt vielmehr in den oft eindrücklich gespielten Szenen menschlicher Begegnung: etwa zwischen den Brüdern Hektor und Paris, die nach dem Friedensschluss mit Sparta nach Troja zurücksegeln. Paris zeigt seinem Bruder die im Schiffsbauch versteckte Helena, die Frau des Königs von Sparta, Menelaos, die er aus Liebe mitgenommen hat. Ihr Verschwinden würde in Sparta als Frauenraub angesehen werden. Das aber würde Krieg bedeuten. Entsetzt will Hektor sie darum sofort zurückbefördern lassen. Paris: „Dann gehe ich mit ihr!“ Das aber wäre sein Tod. Hektor gibt nach - Bruderliebe siegt über Staatsräson.

Eine andere Szene zeigt uns Achilleus und Briseis in Achilleus' Zelt. Sie widersetzt sich ihm: „Du achtest die Götter nicht!“ Er: „Haben die Götter dir geholfen? Die Götter bewundern uns Menschen, weil wir sterblich sind. Wir können jeden Augenblick genießen, weil wir wissen, dass wir sterben müssen.“ Briseis: „Ich hielt dich für einen Rohling. Einem Rohling hätte ich verziehen.“ Da sieht man nebenbei, wie wenig Petersen der Vorwurf trifft, er habe verständnislos die Götter fortgelassen. Die Götter sind durchaus präsent. Sie sind in den Menschen.

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Und dann Achilleus. Man ahnt nichts Gutes. Brad Pitt? Der Mädchenschwarm? Auch hier eine angenehme Überraschung. Natürlich tötet er die Gegner reihenweise - ganz wie Achilleus bei Homer. Doch er tötet mit gequältem Gesichtsausdruck - wie übrigens auch Hektor. Den in sich gespaltenen Einzelgänger vermittelt er beachtlich. Und er macht, getreu Homer, anschaulich, wie der Krieg Achilleus nicht gänzlich nehmen konnte, was ihn erst zum Helden macht: Großmut. Er gibt dem greisen König Priamos den Leichnam seines Sohns zurück, von der Größe dieser Vaterliebe überwältigt.

Er schickt Briseis, als er schon im Sterben liegt, von sich fort: Er muss sterben, so oder so, doch sie soll leben.

Nein, dies ist kein üblicher Sandalenfilm. Viele, wohl besonders in den USA, wird er irritieren. Nicht zuletzt durch seine aktuelle Botschaft: Frieden ist besser als Krieg. Aber er wird auch viele Freunde finden - die über manches Banale, Naive und Unstimmige hinwegsehen werden. Denn Petersen hat Homer verstanden. Das ist wichtiger als die Frage, ob der Trojanische Krieg stattgefunden hat oder nicht. Wir haben kein gewöhnliches Historiengemälde bekommen, sondern einen achtbaren Versuch, hohe Literatur ins Medium Film zu transportieren.

© Joachim Latacz 2004. Abdruck nur mit Genehmigung des Autors.