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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 90

Ina Lehmann

Die Handpuppe „Charlotte
als philosophierende und motivierende Vermittlerin.


Lebendige Einführung des Passivs in einer 6. Klasse

 „Lebendige Einführung des Passivs“: Das hört sich in Zeiten, in denen der handlungs- und erlebnisorientierte Unterricht hoch im Kurs steht, nach einem pädagogischen Lockruf an. Und so mag der eine oder andere Leser eine Vielfalt an Sozialformen oder ein Feuerwerk an Medien erwarten, mit deren Hilfe die Autorin die Einführung des neuen sprachlichen Stoffs umgesetzt und das vielleicht nicht nur stilistische Oxymoron eines lebendigen Passivs aufgelöst haben könnte. Jedoch wird der gesamte Titel der hier vorzustellenden Unterrichtseinheit Zweifel an jenen didaktischen Erwartungen und womöglich auch an der Ernsthaftigkeit des Themas aufkommen lassen: Werden wir hier mit einem Projekt aus dem – bildungspolitisch noch fiktiven – lateinisch-deutschen Kindergarten konfrontiert? Im Folgenden möchte ich meine durchaus ernsthaften Absichten bei der Erarbeitung der Lektionen 37 und 38 aus Roma BI skizzieren und anhand von zwei ausgewählten Beispielen die praktische Umsetzung veranschaulichen.



Thema und Umfang der Unterrichtseinheit

Für die Entscheidung, die besagten Roma-Lektionen nicht in einem ‚normalen' Unterrichtstempo zu passieren, sondern ihnen in einem überdurchschnittlichen Maße auf den Grund zu gehen, gab es zwei Gründe: Einerseits konnte ich aus meinen bisherigen Unterrichtserfahrungen in dieser sechsten Klasse davon ausgehen, dass die 14 Schülerinnen und Schüler die für die geplante inhaltliche Vertiefung nötige Aufgeschlossenheit und Wissbegierde mitbringen würden. Andererseits schienen mir die Lektionen 37 und 38 auf sprachlicher wie auf inhaltlicher Ebene ergiebig zu sein: In sprachlicher Hinsicht handelt es sich um die Einführung eines grammatikalischen Phänomens, bei der eine Verbindung aus Theorie und Praxis mit vielfältigen Übungsformen angeraten und möglich ist. In inhaltlicher Hinsicht werden die Sachthemen Philosophie (Lektion 37) und römische cena (Lektion 38) in ansprechenden Lesestücken präsentiert.

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Während die Begründung meiner Annahme, bei der Behandlung antiker Essgewohnheiten auf das Interesse der Klasse zu stoßen, wegen der leichten Zugänglichkeit und Aktualisierbarkeit des Themas wohl keiner weiteren Worte bedarf, sind diese sicher bei meinem Experiment, mit Kindern zu philosophieren, erforderlich. Daher möchte ich an dieser Stelle in einem knappen Exkurs zu der Frage Stellung nehmen: „Sind Kinder Philosophen?“. Wenn man diesen Frage- in einen Aussagesatz umformt, hat man den Titel eines Buches von Hans-Ludwig Freese vor sich: „Kinder sind Philosophen“ (1). Anhand von Fallbeispielen, Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie oder Zitaten großer Philosophen sucht er seine These plausibel zu machen. Da auch ich dem geplanten Philosophie-Experiment mit der sechsten Klasse optimistisch entgegensah, werde ich mich im Folgenden teils auf Freese berufen, teils aus eigener Erfahrung sprechen.

Da die Philosophie heutzutage – nicht zuletzt durch die fast vollständige Verdrängung aus dem Bildungskanon – oft den Anschein erweckt, eine abstrakte, hoch komplexe Beschäftigung zu sein, wird sie Kindern nicht vorbehaltlos zugetraut. Aber sind nicht gerade Kinder prädestiniert zum Philosophieren, weil sie noch fähig sind, zu staunen und Fragen zu stellen, die auf den Grund der Dinge zielen (2)? Müssen nicht geradezu Kinder jene Fragen stellen, da diese für sie von existentieller Bedeutung sind, von Erwachsenen aber gar nicht mehr in ihrem Problemhorizont erfasst werden? Meiner Erfahrung nach sind es besonders die Fragen nach der Entstehung und Struktur der Welt, die auch schon Fünf- oder Sechsjährige beschäftigen. Freese führt hierzu u.a. unter Berufung auf die Entwicklungspsychologie eine Vielzahl von Beispielen an (3) und stellt fest, dass Gott bei diesen Fragen ein bevorzugter Denkgegenstand sei (4). Da Kinder nicht nur Fragen stellen, sondern auch Antworten bekommen wollen, muss ein geeigneter Rahmen hierfür geschaffen werden. Ich denke dabei vor allem an ein Gespräch zwischen Kindern und Erwachsenen, an einen sokratischen Dialog, um Meinungen zu formulieren und zu begründen, zu kritisieren und zu ändern und schließlich auf diesem dialektischen Weg zu Erkenntnissen – mögen sie auch vorläufig sein – zu gelangen (5). Wenn man also die Philosophie nicht in erster Linie als Mittel zur moralischen Erziehung und Instrument zur Schulung des Verstandes sieht, sondern den Blick auf ihren metaphysischen Bereich richtet, kann man zu der These namhafter Philosophen gelangen, dass die Philosophie sich selbst metaphysischen Urerlebnissen in der Kindheit und kindlichen Fragen verdankt (6).

Dieser kleine Exkurs soll mein Philosophie-Experiment auf psychologischer wie pädagogischer Ebene rechtfertigen (7): Die Schülerinnen und Schüler sahen sich nicht nur mit Fragen konfrontiert, sondern erhielten die Möglichkeit, ihren Fragen über „Gott und die Welt“ im Rahmen eines Unterrichtsgesprächs nachzugehen. Dass die Legitimation einer Philosophie-Einheit im Lateinunterricht einer sechsten Klasse in entscheidendem Maße von der Methodik abhängt, klang in den oben ausgeführten Aspekten „Fragen“ und „Gespräch“ bereits an und wird später näher erläutert werden.

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Die eben dargelegten Gedanken zum Thema prägten auch die Struktur der Unterrichtseinheit. Denn wegen der hohen pädagogischen Bedeutung, die ich besonders der Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen zuschrieb, sollten in jeder Stunde neben Unterrichtszielen auf sprachlicher Ebene, die infolge ihrer Vielzahl einen Großteil der Zeit beanspruchten, auch solche im Bereich der Sachthemen verfolgt werden; in der ersten Doppelstunde war sogar eine direkte Verknüpfung von Sprache und Philosophie mittels des Tagebucheintrages geplant. Der Umfang dieser Unterrichtseinheit belief sich auf 16 Stunden. Aus den Übungen und den das jeweilige Lesestück umrahmenden Texten wurde eine Auswahl getroffen. Zusätzlich brachte ich etliches „Selbstproduziertes“ mit in den Unterricht ein. Nach Beendigung von Lektion 38 gab eine Klassenarbeit über den erzielten Lernerfolg der Klasse Auskunft. Eine Exkursion ins Kurpfälzische Museum in Heidelberg, in dem wir uns hauptsächlich nochmals dem Themenkomplex ‚Römische cena' widmeten, bildete einen geselligen Schlusspunkt der Einheit.

Folgende didaktisch reduzierte Kernthesen bildeten die fachliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen:

- Die Bezeichnung „Philosoph“ wird für einen Menschen verwendet, der aus einem inneren Erkenntnisstreben heraus ständig auf der Suche nach Antworten auf seine Fragen ist. Für die Lösung dieser Probleme stellt der sokratische Dialog eine bewährte Methode dar: Im Gespräch wollen die Teilnehmer des Dialogs durch beharrliches und präzises Fragen zu den Problemlösungen gelangen. Der Vergleich dieser Fragetechnik mit der Hebammenkunst geht auf Sokrates zurück.

- Ein Bereich philosophischen Fragens bezieht sich auf die Entstehung und Struktur der Welt: Wer oder was ist das oberste Prinzip, die arché oder das movens , von dem sich alles andere in seiner Existenz ableitet? Diesem metaphysischen Problem kann man sich auf unterschiedliche Weise nähern: entweder auf einem im weitesten Sinne philosophischen bzw. religiösen Weg, indem man eine irgendwie geartete natürliche bzw. göttliche Kraft als oberstes Prinzip ansetzt, oder mit Hilfe eines naturwissenschaftlichen Ansatzes, der z. B. einen Urknall als Entstehungsursache des Kosmos postuliert.

- Das typische Bild, das man sich in der Antike von einem Philosophen machte, zeigt ihn als einen bärtigen, mit Himation (Mantel) und Sandalen bekleideten bzw. barfuß dargestellten Mann, der häufig im Freien und in Gemeinschaft philosophische Probleme erörterte.

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Übersicht über den Verlauf der Unterrichtseinheit

Stunde Inhalte
1/2 Die erste „Begegnung“ mit dem Philosophen und dem Passiv
3/4 Die philosophische Bedeutung eines Dialogs. Beginn von Lektion 37
5 Philosoph – Hebamme. Weitere Bearbeitung von L 37 und ausgewählte Übungen
6 Philosophische Vorbereitung zur Interpretation von L 37.Abschluss von L 37
7/8 „Woher kommt der Regen?“. Grammatik-Paragraph zum genus verbi
9/10 Die Theorie des Urknalls. Römische cena . Beginn von Lektion 38
11 Bild 1 zur römischen cena . Weitere Bearbeitung von L 38 und ausgewählte Übungen
12 Bild 2 zur römischen cena . Weitere Bearbeitung von L 38 und ausgewählte Übungen
13/14 Bild 3 zur römischen cena . Abschluss von L 38. Übungsblatt
15 Letztes Training für die Klassenarbeit
16 Klassenarbeit

Grobziele der Unterrichtseinheit:

Die Schülerinnen und Schüler sollten

- die in den Texten auftretenden passivischen Verbformen induktiv erschließen, ihre charakteristischen Bestandteile erfassen und auf die Paradigma-Verben laudare und monere anwenden.
- die in den Lektionen 37 und 38 eingeführten passivischen Verbformen in lateinischen Sätzen erkennen, übersetzen sowie aktiv bilden,
- die Texte in angemessenes Deutsch übersetzen,
- den Begriff genus verbi inhaltlich erarbeiten,
- erarbeiten, wie sie im Lateinischen einen aktivischen in einen passivischen Satz verwandeln,
- den Begriff „Philosoph“ kennen lernen und mittels einer Bildbeschreibung und –interpretation einen Eindruck von philosophischen Gesprächsrunden in der Antike gewinnen,
- die philosophische Bedeutung eines Dialogs erfassen und den sokratischen Vergleich eines Philosophen mit einer Hebamme verstehen,
- die umstrittenen Fragen der Entstehung und Struktur der Welt erkennen, erörtern und anhand einer Gegenüberstellung des naturwissenschaftlichen und des philosophischen bzw. religiösen Ansatzes problematisieren.

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Didaktisch-methodische Überlegungen

Bei den Ausführungen zur Methodik dieser Unterrichtseinheit möchte ich mich auf „Charlotte“, ihr Tagebuch und den „Herrn Philosophen“ beschränken.

a) Motivationspsychologische Überlegungen

Der Begriff „Motivation“ kann als eine „Sammelbezeichnung für alle Prozesse und Konstrukte, mittels derer das ‚Warum‘ menschlichen Verhaltens zu klären versucht wird (8), verwendet werden. In diesem Sinne ist es möglich, die Handpuppe Charlotte dann als motivierende Vermittlerin zu bezeichnen, wenn die Schülerinnen und Schüler durch sie veranlasst werden, ein bestimmtes Verhalten, wie z. B. Mitarbeiten, Lernen oder Aufpassen, zu zeigen. Meine Erfahrungen aus einer früheren Unterrichtseinheit ließen mich vermuten, dass es eine Verbindung aus spielerischer Identifikation mit Charlottes Meinungen, Sympathie mit ihrer Rolle und dem Reiz ihres ‚niedlichen' Äußeren war, die die Kinder faszinierte und motivierte: Sie freuten sich stets über Charlottes Unterrichtseinsätze, die aus purer Anwesenheit, nie aus einem aktiven Puppenspiel bestanden und die die Aufmerksamkeit und Beteiligung zu erhöhen vermochten. Es entwickelte sich sogar ein kleiner Briefwechsel zwischen der Klasse und Charlotte, die u. a. gefragt wurde, ob sie Schwestern hätte, die man käuflich erwerben könnte. Auf Grund dieser motivationspsychologischen Beobachtung traute ich der Stoffechse auch weiterhin die Rolle einer motivierenden Vermittlerin zu. Zugleich sollte Charlotte auf den Unterricht, aber auch auf die Schülerinnen und Schüler lebendig im Auftrag ihrer „lebendigen Einführung“ wirken. Die Grundvoraussetzung zur Erfüllung dieses Auftrags konnte dadurch erreicht werden, dass sie die Distanz zw ischen Schüler und Lehrer zu überbrücken half: Sie wurde von mir unter Zuhilfenahme gezielter Lernimpulse eingesetzt und von den Kindern in einer für ihre Motivation fruchtbaren Mischung aus Ernst und Spiel akzeptiert. Die Handpuppe Charlotte konnte zwar für die Schülerinnen und Schüler nicht wirklich lebend, aber doch lebendige Fiktion sein und den Unterrichtsstoff entsprechend anschaulich vermitteln.

b) Praktische Umsetzung

Die „Lebendigkeit“ Charlottes kam in der Praxis unterschiedlich zum Ausdruck:

Bei der Einführung des Passivs ist sie die Verfasserin des ersten Textes, gibt durch ihre Tagebucheinträge Interpretationshilfen bei den Lesestücken, verleiht durch ihre Anwesenheit Sicherheit bei der Klassenarbeit und taucht in den unterschiedlichen Übungen zum Passiv auf; dort denkt sie sich Formen oder Sätze aus, lässt Kärtchen aus ihrer Eischale ziehen oder bestimmt Kinder zu ihrer Assistentin.

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Dagegen fungiert Charlotte bei der Vermittlung der Sachthemen (9), insbesondere der Philosophie, allein als unterhaltsame Schreiberin der Tagebucheinträge. Diese sind in einem bewusst umgangssprachlichen, heiteren, detailverliebten Stil verfasst. Es wurde stets versucht, den Schulalltag der Kinder einzubeziehen. Oft spricht Charlotte die Klasse direkt an und richtet Fragen an sie, die ins Unterrichtsgeschehen einführen oder eine Stoffwiederholung bezwecken. In dieser Hinsicht ist das Tagebuch die didaktische Umsetzung der Fiktion: Dort kann Charlotte alles sagen und denken, was sie will – ein unschätzbarer didaktischer Vorteil! Denn könnte die Lehrerin tatsächlich die Vermutung aufstellen, dass die Wörter „Urknall“ und „Armbanduhr“ etymologisch miteinander verwandt sind (wie sie in einer Stunde die Kinder glauben machen wollte)? Andererseits ist das Tagebuch jedoch auch das von mir gewählte Medium, um mit den Schülerinnen und Schülern ins philosophische Gespräch zu kommen und einen „sokratischen Dialog auf Kinderniveau“ nachzuspielen. Überdies hat das Schreiben eines Tagebuches philosophische Kraft: „Ich fixiere meine Gedanken, indem ich sie in eine sprachliche Form bringe, und ich werde dabei zur Reflexion und Selbstreflexion gezwungen, die nötig erscheint, um die Welt und mich besser zu verstehen.“

Zur Umsetzung dieser Dialoge habe ich zusätzlich die Figur des Herrn Philosophen erfunden, an den Charlotte ihre vielen Fragen richtet, der ab und zu geheimnisvolle Antworten gibt, die die Neugierde von ihr nur noch mehr anstacheln, und mit dem sie bis in die Nacht über Gott und die Welt philosophiert. Die Kinder sollten mittels der Tagebucheinträge langsam an philosophische Fragestellungen herangeführt und Schritt für Schritt Problemlösungen oder Problemlösungsansätzen näher gebracht werden. Dabei war vorgesehen, dass ihr Erkenntnisprozess parallel zu dem von Charlotte verläuft. Denn wie und in welchem Tempo sich deren Beziehung zum Herrn Philosophen entwickelte - von anfänglicher Ablehnung bis hin zu einem freundschaftlichen Vertrauen - so sollte die Klasse zu philosophischen Fragen Zugang finden - von anfänglichem Unverständnis bis hin zu gewissen Erkenntnissen. Diese bewegten sich, soweit man bei diesem Thema überhaupt von Erkenntnissen sprechen kann, innerhalb des Problemhorizontes der Kinder und gelangten natürlich nie zu einer erschöpfenden Problemlösung.

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Exemplarische Beispiele aus der praktischen Umsetzung im Unterricht

1) Die erste und zweite Stunde: Die erste „Begegnung“ mit dem Philosophen und dem Passiv

Unterrichtsziele:

Die Schülerinnen und Schüler sollten

- sich Inhalt und „Moral“ des Ikaros-Mythos vergegenwärtigen.
- sich die grundsätzliche Unterscheidung in eine aktivische und passivische Handlungsart des Verbs bewusst machen.
- den Begriff „Philosoph“ kennen lernen sowie einen ersten Einblick in philosophische Fragestellungen erhalten.
- den Text „Meine erste Begegnung mit einem Philosophen“ in angemessenes Deutsch übersetzen.
- die Formen des Präsens Indikativ Passiv aus dem Text erschließen,
- die Bildungsregeln für das Präsens Passiv vertiefen.

Methodische Überlegungen:

a) Zu den Tagebucheinträgen

Die Einträge knüpften thematisch an eine frühere Unterrichtseinheit an (Lektion 26: Ikaros-Mythos), zum anderen bieten sie einen kindgerechten Einstieg in philosophische Fragestellungen, wobei auf die damaligen Interpretationsergebnisse zurückgegriffen werden konnte (Wunsch des Menschen, fliegen zu können; Übermut des Ikaros; Fliegen als für den Menschen unnatürliche Fortbewegungsweise: sprachliche Entsprechung durch den Ausdruck „geflogen werden mit Flügeln“). Überdies sollte der zweite Tagebucheintrag die Klasse mit dem Begriff „Philosoph“ vertraut machen, der aus dem Text heraus und nachdrücklich (durch die häufige Wiederholung des Wortes „weise“) erklärt wird.

b) Zu dem selbst verfassten Text „Meine erste Begegnung mit einem Philosophen“

Aus folgenden Gründen hatte ich mich entschieden, der Lektion 37 den selbst verfassten Text „Meine erste Begegnung mit einem Philosophen“ voranzustellen. Er schließt gedanklich direkt an die Tagebucheinträge an (Fiktion „Charlotte und Philosoph“) und schafft somit einen weicheren Übergang zu der philosophischen Thematik in L37, als es beispielsweise die Einzelsätze aus E 37, die aus diesem Grunde nicht behandelt wurden, leisten könnten. Darüber hinaus vermittelt er den Schülerinnen und Schülern einen oberflächlichen Eindruck von sokratischer Gesprächsführung (Bedeutung des Fragens; genaue Analyse einzelner Worte wie agitare oder tolerare ; Stiftung von Verwirrung bei Zuhörern), der meines Erachtens auch Elfjährigen schon fasslich sein kann und Angebot bzw. Grundlage für eine intensivere Beschäftigung mit Philosophie darstellen könnte. An eine tiefere inhaltliche Problematisierung des Textes an dieser Stelle war jedoch von vornherein nicht gedacht.

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Verlauf der Doppelstunde:

Dauer Inhalt Methode / Medien Sozialform
ca. 15 Min. Begrüßung; Einstieg: Vorlesen der Tagebucheinträge vom 18. und 21.10.00 Tagebuch Lehrervortrag
ca. 10 Min. Problematisierung von „fliegen – geflogen werden“: Abgrenzung Aktiv – Passiv anhand deutscher Beispiele; Erkennungsmerkmale des Passivs im Deutschen Tafel Unterrichtsgespräch
ca. 13 Min. Erarbeitung: Übersetzung des Textes „Meine erste Begegnung mit einem Philosophen“ Textblatt gelenktes Unterrichtsgespräch
ca. 7 Min.  Problematisierung des Textinhalts und Ergebnissicherung: erste Charakteristik des Philosophen Tafel Diskussion
Pause      
ca. 15 Min. Erarbeitung: Erschließung und Systematisierung der Formen des Präsens Indikativ Passiv Textblatt, Tafel gelenktes Unterrichtsgespräch
ca. 7 Min. Ergebnissicherung: Eintrag der neuen Formen in die Leerschemata Heft / Leerschema Stillarbeit
ca. 8 Min. Übung / Verinnerlichung: Aufsagen (u.a. auswendig) der neuen Formen; Übersetzung und Bestimmung von fünf lateinischen Passivformen Heft, Tafel Schüleraktivität, Stillarbeit
ca. 15 Min. Besprechung der Vokabeln L 37 und Stellen der HA: Lernen der neuen Formen, schriftl. Übersetzung des Textes, Lernen der Vokabeln L 37 Tafel gelenktes Unterrichtsgespräch
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Fazit

Die beiden ersten Stunden der Unterrichtseinheit ließen vermuten, dass sich die Handpuppe Charlotte tatsächlich als lebendige Vermittlerin des Passivs eignet: Die Kinder freuten sich über die Ankündigung von Charlottes erneutem Unterrichtseinsatz, hörten den Tagebucheinträgen gespannt zu und spielten das Spiel mit der zum Leben erweckten Handpuppe weiter mit. Diese Fiktion schien also immer noch in die Vorstellungswelt der Schülerinnen und Schüler zu passen und sie zusätzlich in der Weise motivieren zu können, wie ich es in den didaktisch-methodischen Überlegungen dargelegt habe. Überdies stieß wohl auch der Stil, in dem die Tagebucheinträge verfasst sind, auf Zuspruch, wie ich es aus der Aufmerksamkeit und dem Lachen der Kinder schloss. Da das Gros der Klasse interessiert, jedoch während der Übersetzung des Textes leicht verwirrt auf die philosophische Thematik reagierte, achtete ich in den folgenden Stunden verstärkt darauf, die philosophischen Aspekte der Klasse möglichst anschaulich nahe zu bringen.

Als erste Charakteristik des Philosophen wurden folgende spontane Eindrucksäußerungen an der Tafel festgehalten: „kompliziert, umständlich, fragt viel, redet um den heißen Brei herum, beantwortet die Fragen nicht richtig.“

2) Die siebte und achte Stunde: Theorie zum Passiv und zur Frage: „Woher kommt der Regen?“

Unterrichtsziele:

Die Schülerinnen und Schüler sollten

- Routine in der Unterscheidung des Präsens Passiv vom Futur Aktiv im Deutschen bekommen.
- den Begriff genus verbi kennen lernen und inhaltlich verstehen.
- erarbeiten, wie sie im Lateinischen einen aktivischen in einen passivischen Satz verwandeln.
- sich die Möglichkeit, Naturphänomene entweder rein naturwissenschaftlich oder philosophisch bzw. religiös erklären zu können, bewusst machen.
- die Struktur und Entstehung des Kosmos, wie sie in der Fabel ROMA B 1, L 37 beschrieben werden, nachvollziehen.
- den Begriff dominus mundi (L 37, Z. 11, 14, 16) problematisieren, indem sie Alternativen zu dem in L 37 gesetzten deus entwickelten.

Methodische Überlegungen

In der vorigen Stunde hatte Charlotte gefragt, ob sie mit der Frage, woher der Regen komme, zum Philosophen oder eher zu einem Meteorologen gehen müsse. Eine knappe Präsentation der Schülerantworten auf diese Frage sollte die Interpretation und Diskussion der Struktur bzw. der Entstehung des Kosmos thematisch einleiten. Der einhellige Rat der Klasse an Charlotte war, einen Meteorologen zu besuchen, weil er der Wetterexperte sei, der Philosoph jedoch nur Fragen stelle, zu komplizierte Antworten gebe und sich ohnehin lediglich mit den wichtigen Problemen, woher z. B. die Welt komme, beschäftige.

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Die fiktive Antwort des von Charlotte aufgesuchten Meteorologen, die ich der Klasse „übermittelte“, erschöpfte sich in einer rein naturwissenschaftlichen Erklärung („Regen fällt, wenn eine bestimmte Menge an Wassertröpfchen bei einer bestimmten Temperatur, einem bestimmten Luftdruck und einer bestimmten Wolkenbildung zusammenkommt.“), die wiederum Charlotte zu der Nachfrage veranlasste: „Aber woher kommen dann die Wolken?“ Konfrontiert mit dieser Nachfrage, sollten die Schülerinnen und Schüler die Ratlosigkeit Charlottes verstehen oder sogar zu der Kenntnis gelangen, dass die naturwissenschaftliche Erklärung hier an ihre Grenzen stößt und vielleicht doch der Philosoph oder ein anderer Fachmann gehört werden sollte. An diese Aporie knüpfte nun nahtlos die Interpretation des Textes in L 37 an, der genau den alternativen Erklärungsweg anhand einer Fabel darstellt. Folgende Schritte sollten dabei zur Entwicklung der Gedanken und des Tafelbildes aufeinander folgen: Skizzierung der Hierarchie von arbor bis deus, Beschriftung der Pfeile mit den entsprechenden Infinitiven von agitare, Finden einer passenden Überschrift bzw. Suche nach der übergeordneten Frage dieser Fabel, Beantwortung dieser Frage und Begründung, schließlich Problematisierung der Antwort deus solus.

Verlauf der Doppelstunde:

Dauer Inhalt Methode / Medien Sozialform
ca. 5 Min. Einstieg: „Aufwärmtraining“: Übung zur Unterscheidung des Präsens Passiv vom Futur Aktiv Hinsetzen - Aufstehen Schüleraktivität
ca. 7 Min. Ergebnissicherung: Nachtrag zur letzten Stunde (s.o.) Heft / Leerschema Stillarbeit
ca. 8 Min. Erarbeitung I: Beschreibung der Folie „Männer und Schiff“, Erarbeitung des Unterschieds zwischen den Bildern und Verallgemeinerung auf sprachwissenschaftl. Ebene Folie gelenktes Unterrichtsgespräch
ca. 20 Min. Ergebnissicherung I: Anschreiben des Grammatik-§ „Das genus verbi “ durch L. an der Tafel, Übernahme in Grammatikhefte durch S. Tafel, Heft Lehreraktivität, Stillarbeit
ca. 5 Min.  Wiederholung: Vergleich der HA: L 37, Z. 8-18 Buch, Heft gelenktes Unterrichtsgespräch
Pause      
ca. 10 Min. Wiederholung: Vergleich der HA: L 37, Z. 8-18/Fortsetzung Buch, Heft gelenktes Unterrichtsgespräch
ca. 20 Min. Erarbeitung II und Problematisierung: Vorstellung und Diskussion der Antworten auf : „Woher kommt der Regen?“, Interpretation von L 37, Visualisierung an der Tafel und Problematisierung des Begriffs deus mundi Charlotte, Tafel Unterrichtsgespräch, Schüleraktivität
ca. 5 Min. Ergebnissicherung II: Übernahme des Tafelbildes in die Hefte Tafel, Heft Stillarbeit
ca. 10 Min. Erklären und Stellen der HA (erst zum 12.2. wegen eines Lesewettbewerbs): schriftl. Bearbeitung und Übersetzung von Ü 37 c), 1-4 Tafel gelenktes Unterrichtsgespräch
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Fazit

Die Interpretationsphase der zweiten Stunde überzeugte mich einmal mehr von der durch die Handpuppe Charlotte geweckten Offenheit der Klasse für philosophische Themen und von der Pfiffigkeit, dabei zu ihrem Alter gemäßen Fragen und ‚Erkenntnissen' zu gelangen. Bei der oben beschriebenen Nachfrage von Charlotte erkannten die Kinder sogleich die Sackgasse der Erklärung und schlugen vor, den Philosophen zurate zu ziehen. Ebenso routiniert entwickelten sie das Tafelbild, beschrifteten die Pfeile mit den richtigen Infinitivformen (neben agitari schlug eine Schülerin auch parere vor), erschlossen den Sinn der Fabel, setzten diesen als Überschrift und beantworteten die Frage mit deus solus , da dieser ganz oben stehe und – nachdem ich ihren Blick nochmals auf die Pfeile gelenkt hatte – als einziger non agitur . Als eine Schülerin spontan anmerkte, dass dieses Thema eher in den Religionsunterricht gehöre, antwortete ihr eine Mitschülerin, dass dies doch auch eine philosophische Geschichte sein könne, da es um die Frage gehe, woher die Welt komme. An diese Äußerung schloss ich meinerseits die Frage an, ob sie sich statt deus eine andere Kraft vorstellen könnten, die der dominus mundi sei. Zuerst meldeten sie sich zögerlich, dann schlugen sie viele andere Götter (Zeus, Jupiter, Gott des Weins, Waldgötter, alle Götter, Petrus) oder andere Kräfte (Natur, warme und kalte Luftströme) vor. Die Ergebnisse dieses letzten Teils der Interpretation wurden in der folgenden Stunde in einem zusätzlichen Tafelbild festgehalten.

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Kritischer Rückblick

In der dargestellten Unterrichtseinheit habe ich den Versuch unternommen, eine Handpuppe für gewisse Zeit aus der Requisitenkammer eines Kindertheaters in den Medienkoffer einer Lateinlehrerin zu versetzen. Die Frage, ob der Versuch den gewünschten Erfolg brachte, d.h. ob die intendierten Lernziele nachhaltig erreicht wurden und ob der Aufwand an Zeit und „Material“ gerechtfertigt erscheint, hätte nur durch eine kontinuierliche, längerfristige Beobachtung der Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler in der Zeit post Charlottam einigermaßen zuverlässig beantwortet werden können. Dies war mir leider aus organisatorischen Gründen nicht möglich.

Über einen zumindest kurzfristigen Lernerfolg kann jedoch neben einer permanenten Fehleranalyse bei Übungen und Hausaufgaben die Auswertung der Klassenarbeit Aufschluss geben: Die Arbeit fiel mit einem Schnitt von 2,9 durchschnittlich aus und spiegelte das innerhalb der Klasse stark divergierende Leistungsniveau wider. Inwieweit die von den Kindern erworbenen sprachlichen Fähigkeiten Charlottes Verdienst waren, hätte wohl nicht einmal der Herr Philosoph beantworten können, wenn er gefragt worden wäre. Das breite Interesse jedoch und die Neugierde, die die Schülerinnen und Schüler den philosophischen Fragestellungen entgegenbrachten, sowie die im Verlauf der Unterrichtseinheit wachsende Selbstverständlichkeit, über Gott und die Welt zu philosophieren (und dabei zu treffenden Schlussfolgerungen zu gelangen!), ließen das über Charlotte vermittelte Philosophie-Experiment als gelungen erscheinen. Und der Umstand, dass die Schülerinnen und Schüler viele Fragen stellten, jedoch nie die, warum ich die ganze Zeit so tun würde, als ob Charlotte Tagebuch schreiben könnte, brachte mich zu der Überzeugung, dass Kinder tatsächlich Philosophen sind.

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Charlottes Tagebucheinträge

Zur ersten und zweiten Stunde:

aus Charlottes Tagebuch vom 18. Oktober 2000:

Au Backe, mir raucht der Kopf: Ich hab‘ in den letzten Tagen sooooo viel nachgedacht, hab‘ sooooo viele schlaflose Nächte hinter mir, Fragen über Fragen ... Und das alles nur wegen Ikaros! Musste dieser Bursche denn unbedingt fliegen wollen? O, und dann sein Ende – wie tragisch: auf der Flucht von der Insel Kreta, schon fast gerettet, dann sein Übermut, Absturz, aus, vorbei. Warum, warum, warum?!?! Warum ist das passiert? Der Arme! Ich bin untröstlich! Aber warum nimmt mich diese ganze Geschichte eigentlich so mit? War ich vielleicht – still und heimlich – ein bisschen verliebt in Ikaros? Aber ich kannte ihn doch gar nicht, kannte ihn doch nur durch die Erzählungen, die ich in der 6b des Schönborn-Gymnasiums mitkriegte. War dann womöglich auch die ganze 6b ein wenig in Ikaros verliebt? Na, das wäre ja ein Konkurrenzkampf um den schönen Ikaros geworden. Nun ist er jedenfalls tot, abgestürzt, und ich frage mich – und das ist, glaube ich, die Frage, die mich nicht schlafen lässt -, wie das passieren konnte. Die Antwort mit dem Wachs, das geschmolzen ist, als er zu dicht an der Sonne war, reicht mir irgendwie nicht. Konnte oder wollte ihn denn niemand retten? Ein Vogel in der Luft, ein Gott im Himmel, ein Fisch im Wasser?

aus Charlottes Tagebuch vom 21. Oktober 2000:

Heute morgen wusste ich endlich, was ich tun musste, um wieder Klarheit in meinen Echsenkopf zu bekommen: Solche schwierigen Fragen könnte wohl nur ein wirklich weiser Mensch beantworten. Also müsste ich doch nur zu so einem Weisen gehen und ihn fragen. Aber wie sollte ich einen Weisen finden? Ich schaute im Telephonbuch unter „Weise“ nach und fand viele „Weise“, angefangen bei „Annette Weise“, wohnhaft in Karlsruhe, bis zu „Wilhelm Weise“, wohnhaft in Bruchsal. Aber dass es so viele Weise geben sollte, machte mich misstrauisch. Da meinte Frau Lehmann, ich solle unter „Philosoph“ nachgucken: Das sei nämlich ein wirklich Weiser, einer, der die Weisheit liebt! Tatsächlich fand ich nur einen einzigen Eintrag: „Herr Philosoph“, ohne Angabe einer Adresse, nur mit Telephonnummer. Ich rief an und der Herr Philosoph war auch sogleich am Apparat. Ich war so aufgeregt: Mit einem echten Philosophen zu telephonieren! Das hätte ich nie zu träumen gewagt! Ich brachte kaum meine Frage durch die Echsenzähne hindurch hinaus aus meinem Echsenmund. Schließlich gelang es doch: „Warum ist der arme Ikaros abgestürzt?“, fragte ich ihn. Der Philosoph am anderen Ende der Leitung schien wenig überrascht, tat fast so, als ob er täglich diese Frage beantworten würde. Er sagt: „Vögel fliegen. Aber Ikaros ist kein Vogel, er ist ein Mensch. Er wollte geflogen werden, geflogen werden mit Vogelflügeln! Aber das konnte nicht gut gehen. Denn wie hört sich das schon an: „geflogen werden, geflogen werden mit Flügeln“ – so ein Quatsch! So spricht niemand, also darf es auch niemand tun. Zu unnatürlich, zu gefährlich! Ikaros wollte passiv geflogen werden: Das war der Grund seines Absturzes. Auf Wiederhören.“

Der Herr Philosoph hatte aufgelegt und mich mit meinen Sorgen, die durch das Telephonat nicht gerade kleiner geworden waren, allein gelassen. „Fliegen und geflogen werden“ schwirrte mir durch den Kopf. Ich fühlte, dass sich das „Geflogenwerden“ komisch anhörte. Da musste der Fehler liegen: Ikaros konnte nicht passiv geflogen werden. Aber kann ich gar nicht ... werden?

Schluss für heute mit dem Tagebuchschreiben. Ich brauche Hilfe von anderen.

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Zur dritten und vierten Stunde:

aus Charlottes Tagebuch vom 17. Dezember 2000:

Jetzt liegt meine erste Begegnung mit dem Philosophen schon über eine Woche hinter mir. Und bis gestern hatte ich keine Lust, den Herrn Philosophen jemals wieder zu sehen. Was sollte bloß dieses ewige Rumgefrage? „Warum fragst du, wer mich gefragt hat, wie das, was gerade gefragt wurde, gefragt worden ist?“ Toll – jetzt bin ich klüger, was?! Und von Ikaros war sowieso schon nach einem Satz nicht mehr die Rede gewesen. Also beschloss ich, mich wieder auf die wirklich wichtigen Dinge eines Echsenlebens zu konzentrieren: mein Echsenei innen und außen zu putzen, meine Echsenzähne zu spitzen und überflüssige Echseneischale im Naturkundemuseum als Ausstellungsobjekt abzugeben. So ging ich – endlich wieder mit klarem Kopf – zum Museum. Aber ... o, Schreck, wen traf ich dort?! Den Herrn Philosophen!! Und was tat er? Er fragte!! Er fragte den Museumsdirektor (beiden standen vor einem riesigen Sauriermodell), ob denn bei Echsen deswegen der Kopf im Vergleich zum übrigen Körper so klein sei, weil sie so wenig in ihrem Leben gefragt worden seien. Da wurde es mir zu bunt: Ich schoss auf den neunmalklugen Philosophen, den Möchtegern-Weisheitsliebhaber, zu und schrie ihn an: „Wollen Sie vielleicht damit sagen, dass wir Echsen blöd sind, nur weil wir einen kleinen Kopf haben?“ Der Philosoph guckte mich erstaunt an, hatte wohl einen solchen Wutanfall von mir nicht erwartet und sagte in seinem gewohnt ruhigen Ton: „Aber nein, liebe Charlotte, das mit dem kleinen Kopf ist doch nur eine Vermutung, eine Frage, die ich stellen muss, damit du mit „nein“ antworten kannst. Und so nähern wir uns dann der Antwort bei einem Problem.“ „Aha“ – mehr brachte ich nicht heraus. Und dass er sich irgendwann mal einer Antwort nähern würde, glaubte ich schon lange nicht mehr. Er aber fuhr fort: „Denn das ist mein Beruf und meine Methode: das Fragen. Durch das Fragen und Nachfragen und Nachfragen und Fragen helfe ich den Menschen dabei, einen klaren Kopf zu bekommen und eine Antwort zu finden. Oder soll ich sagen: eine Antwort zu gebären? Denn schon der berühmte Philosoph Sokrates hat sein Philosophieren mit dem Beruf einer Hebamme verglichen. Wie nämlich die Hebamme dabei hilft, ein Kind zu gebären, hilft der Philosoph dabei, eine Antwort auf ein Problem zu gebären.“

Mein Wutanfall hatte sich gelegt, stattdessen fing ich wieder an zu grübeln: Der Philosoph vergleicht sich mit einer Hebamme – wie soll ich das verstehen?

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Zur fünften Stunde:

aus Charlottes Tagebuch vom 24. Dezember 2000:

So, heute ist Heiligabend, die letzten Geschenke sind eingekauft, der Weihnachtsbaum ist geschmückt, jetzt fehlen eigentlich für eine richtig festliche Stimmung nur noch die Plätzchen. Aber ... Kaum habe ich diesen Satz in mein Tagebuch geschrieben, erinnert sich mein Magen an das Plätzchen-Fress-Fest gestern, das meine Eischale fast zum Plätzchen, äh, zum Platzen gebracht hätte.

Es sind also alle organisatorischen Vorbereitungen für die kommenden Feiertage getroffen, so dass ich mich endlich wieder mit meinen Gedanken dem Herrn Philosophen widmen kann. Denn philosophische Gedanken brauchen Ruhe und Muße! Was hatte er doch bei unserem letzten Treffen im Museum gesagt? Das Fragen des Philosophen sei wie die Geburtshilfe der Hebamme. Klar, einmal wird die Antwort auf ein Problem geboren, einmal ein Kind. Aber was tut denn eigentlich eine Hebamme? Das möchte ich jetzt sofort wissen. Ich muss sogleich in ein Krankenhaus und eine echte Hebamme fragen! Der Tag scheint mir auch passend für eine solche Unternehmung zu sein: heute, da viele Menschen die Geburt von Jesus Christus feiern.

aus Charlottes Tagebuch vom 25. Dezember 2000:

Gestern war ich also in einem Krankenhaus und habe – schon fast nach Art eines Philosophen – eine Hebamme befragt. Zuerst war sie etwas verwundert, als sie mich in meiner Eischale in die Geburtsstation hineinwackeln sah, noch verwunderter war sie, als ich sagte, der Grund meines Besuches sei kein medizinischer, sondern ein philosophischer, dann erteilte sie jedoch bereitwillig Auskunft über ihre Arbeit: Sie als Hebamme könne bei einer Geburt lediglich helfen, den eigentlichen Geburtsvorgang müsse die Frau alleine bewältigen. Eine Hebamme könne einer Frau dadurch helfen, dass sie ihr sage, wie sie atmen solle, wie sie sich hinlegen solle oder an was sie denken solle. Tun müsse es dann aber die Frau selbst. Aber dafür sei es ja dann auch das Kind der Frau und nicht das der Hebamme.

Das waren die Worte der Hebamme. Ich hatte verstanden: Hebamme und Philosoph können den Menschen nur ihre Hilfe anbieten. Die Menschen müssen dann die Hilfe nutzen, aktiv, nicht etwa passiv, und müssen etwas tun. Was muss ich also jetzt tun, um Antworten auf meine vielen Fragen und Probleme zu bekommen, die mir in meinem Echsenkopf herumschwirren?

                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 105

Zur neunten und zehnten Stunde:

aus Charlottes Tagebuch vom 1. Januar 2001

Neujahr! Prosit! So langsam wage ich es, aus meiner schützenden Eischale ans Tageslicht zu krabbeln. Schnuppere gerade – es ist bereits Nachmittag – den ersten Hauch des neuen Jahres. Oder, au weia, hat sich da noch irgendwo in meiner näheren Umgebung ein Knaller versteckt? Knallt's gleich wieder und dröhnt dann in meinen zarten Echsenohren? Die Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie sich so ein Knallergeräusch bis in das Innerste einer Eischale verbreiten kann und dann einen wahnsinnigen Schall auslöst. Das Ganze muss man sich ungefähr so vorstellen wie den Urknall. Aber wie müssen wir uns denn den Urknall vorstellen? Und: Gab's überhaupt mal einen Urknall? Urknall – wie schreibt man das überhaupt? „ur“ wie in „Armbanduhr“ oder wie in „Urgroßmutter“? Ich weiß schon, wen ich frage!

aus Charlottes Tagebuch vom 3. Januar 2001

Habe heute den Herrn Philosophen in seinem Haus besucht. Mensch, ist das eine Bruchbude! Ich weiß nicht, wann da das letzte Mal die Kehrwoche stattgefunden hat. Ein Gerümpel, alte Möbel, angebissene Äpfel, 1000 Teetassen und ... und bestimmt 100000 Bücher – der pure Wahnsinn! Und alle sehen so gelesen aus; wie nach einem Lesewettbewerb!

Als ich mich zwischen meterhohen Stapeln von Büchern zum Philosophen durchgearbeitet hatte, stellte ich ihm sofort die entscheidende Frage: „Gab's den Urknall?“ Der Herr Philosoph schwieg, setzte sich, biss einen weiteren Apfel an und sagte dann: „O, Charlottchen, du kannst Fragen stellen! Die Antwort auf diese Frage suche ich schon mein ganzes Leben lang, habe alle Bücher, die du hier siehst, danach durchforscht, aber hier scheine ich tatsächlich mit meinem Latein, äh, mit meiner Philosophie am Ende zu sein. Die Frage des Urknalls ist ja die: „Woher kommt die Welt und wer oder was treibt alles auf der Welt an?“ Und ob das ein Knall ist oder ein Gott oder mehrere Götter ... O, bei dieser Frage wachsen mir noch mehr graue Haare in meinem grauen Bart. Iss auch erstmal einen Apfel!“

Seitdem liegt mir der Apfel nicht so schwer im Magen wie die Frage nach dem Urknallgott.

Zur elften Stunde:

aus Charlottes Tagebuch vom 20. Januar 2001

Heute nur ein ganz kurzer Tagebucheintrag. Der Grund dafür?! Totale Müdigkeit! Hatte gestern mal wieder den Herrn Philosophen in seiner Chaosbude aufgesucht und dann mit ihm die ganze Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden hinein philosophiert: sozusagen über Gott und die Welt und, ob's dabei geknallt hat oder nicht. Und ob Echsen früher auf der Welt waren als die Menschen. Und ob die Menschen und die Tiere vielleicht nach dem Tod wiedergeboren werden: der Herr Philosoph dann möglicherweise als Charlotte und ich als erste Echsin-Philosophin ...

So sprachen wir, bissen unterdessen mal in diesen, mal in jenen der bereits angebissenen Äpfel und tranken literweise Tee, um nicht einzuschlafen. Aber nun werde ich bereits vom Gott des Schlafes gerufen und hoffentlich in Supernova-Dimensionen träumen.

                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 106

Zur dreizehnten und vierzehnten Stunde:

aus Charlotte Tagebuch vom 13. Februar 2001:

Heute, Dienstag Abend, alles dreht sich, hicks, was ist bloß los? Und wo bin ich überhaupt? Ein Wunder, dass ich noch fähig bin, Tagebuch zu schreiben! Aber ich glaube, was ich jetzt nicht zu Papier bringe, hat mir der Gott des Weines für immer entführt.

O, weh, der Abend oder, besser gesagt, der Tag fing so harmlos an: Besuch bei der Klasse B6 des Schönsal-Gymnasiums, hicks, Übung von Passivformen, Betrachtung von Bildern römischer Festessen, Heimfahrt mit Frau Mannleh nach Ruhekarls, hicks, und anschließend mal wieder ein Treffen mit dem Herrn Philosophen. Ich berichtete ihm von dem, was ich in der B6 über römische Festgelage mitgekriegt hatte: von den Köstlichkeiten wie gegrillten Mäusehaseln, die serviert wurden, von Musik – Schlagzeug oder so -, die zur Unterhaltung gespielt wurde, von den 7 Liegen für die 7 Gäste – das Ganze heißt so ähnlich wie „Klinik“- und natürlich von dem Wein, der im Verhältnis 1:3 mit Wasser gemischt wurde!

Da meinte der Herr Philosoph: „O, prima, Charlottchen, so einen römischen Festschmaus spielen wir heute mal nach. Denn merke dir: Wenn es dem Magen gut geht und alle Geschmackssinne durch ein schönes Essen angesprochen werden, kommt der Mensch auch beim Philosophieren auf klügere Gedanken und gelangt zu Antworten auf Fragen!“

Also gingen wir einkaufen, klapperten sämtliche Feinschmeckerläden ab und dann speisten wir: Statt angebissenen Äpfeln gab's Spargelköpfe in würziger Soße, statt Tee gab's Wein, mit Wasser vermischt im harmlosen Verhältnis 1:3 ... oder, hicks, war's 3:1?

O, ich ahne Schlimmes, der philosophische Herr hat das Mischungsverhältnis umgedreht wie ich hier einige Wörter! Hoffentlich bin ich nächsten Donnerstag wieder nüchtern.


Ina Lehmann
Nutsstr. 29, 76185 Karlsruhe
E-mail: inabrt@aol.com



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(1) vgl. Freese, H.-J., Kinder sind Philosophen, Weinheim/Berlin 6 1996.
(2)  vgl. Freese, S. 9.
(3)  vgl. Freese, S. 15, 16, 47 ff. u.a.
(4)  vgl. Freese, S. 48.
(5)  zur dialektischen Methode vgl. Plat. Phaidr . 276e / 277a und „Siebter Brief“ 341c.
(6)  vgl. Freese, S. 45.
(7)  Zur weiteren Begründung möchte ich an dieser Stelle anführen, dass bereits im Religionsunterricht der 5. Klasse das Thema „Schöpfung“ behandelt worden ist. (Bildungsplan für das Gymnasium Baden-Württemberg, 1994, S. 50f. 56)
(8)  Thomae, H., Motivation, in: Handwörterbuch der Psychologie, Asanger, R. / Wenninger, C. (Hrsg.), Weinheim 1992, S. 294
(9)  vgl. dazu auch Hansen, J.G., Motivation im Lateinunterricht I, AU 22, 5 (1979) 3-17; hier: S. 3, der gerade an den „Randzonen des Unterrichts ... der Phantasie des Lehrers keine Grenzen gesetzt“ sieht.