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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 26

Barbara Demandt

Metamorphosen eines Tores

Handreichungen zur Erklärung
des Brandenburger Tores


Kein Gebäude in Deutschland hat Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte so geteilt wie das Brandenburger Tor. In welche Richtung das Tor versetzt wurde, wie es zum repräsentativen, politischen, umkämpften, zerstörten, weltanschaulichen, schließlich friedlichen Symbol Deutschlands wurde, soll hier kurz dargestellt werden.

1. Das bewegte Tor (1526 – 1788)

1526 erhielt Kurprinz Joachim, der spätere Kurfürst Joachim II. Hektor (1535-1571), von der Stadt Kölln das Waldgebiet westlich der Spree für einen Tiergarten. Um dort zu jagen, mussten Hof und Adel per Schiff über den Fluss setzen. Erst 1573 ließ Kurfürst Johann Georg (1571-1598) über die Spree eine hölzerne Zugbrücke bauen. Sie und der Reitweg waren allein Adeligen und ihrer Hundemeute vorbehalten, dafür sprach der Name „Hundebrücke“ (heutige „Schlossbrücke“). Ein hölzernes Gatter davor war das erste Tor Richtung Brandenburg.

1647 verfügte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640-1688), dass der Reitweg in den Tiergarten nach holländischer Manier befestigt und mit sechs Reihen Linden und Nussbäumen bepflanzt wurde. Die Walnussbäume hielten den Berliner Wintern nicht stand und wurden deshalb durch Linden ersetzt. Man ritt hinfort „unter den Linden“ zur Jagd. Heute stehen statt der sechs nur noch vier Reihen Krimlinden.

1658-1683 wurde die Stadt Berlin auf Befehl des Großen Kurfürsten vom Baumeister Johann Gregor Memhardt nach holländischer Manier zur Festung ausgebaut. In den Tiergarten wurde ein Fort gelegt, dessen Festungsgraben sich in der Höhe des heutigen Kastanienwäldchens entlang zog. Über diesen Graben führte eine Zugbrücke. An ihr entstand ein Stadttor, das zweite Tor nach Brandenburg, „Neustädter Tor“ genannt.

Da Berlins Einwohnerzahl im 30jährigen Krieg von 12 000 auf 6197 im Jahr 1648 gesunken war, wurden, vor allem nach dem Edikt von Potsdam, viele Glaubensflüchtlinge aufgenommen. Es entstanden von 1647 an die Dorotheen- und die Friedrichstadt. Berlin wurde langsam verschönert, mit Pflaster und Beleuchtung versehen, die Strohdächer verschwanden und für Sauberkeit wurde gesorgt.

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Unter   Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) begann nach 1735 der Abriss der Festung. Von da an entfaltete sich im ganzen 18. Jahrhundert eine rege Bautätigkeit hinter dem Neustädter Tor nach Westen zu. Die meisten der ca. 1000 im Barockstil erbauten Häuser wurden von Offizieren gebaut, denen der Soldatenkönig strenge Bauregeln auferlegte: gleich große Grundstücke, einheitliche Fassade und eine Traufhöhe von 18 m. Verstöße dagegen wurden mit Einquartierung bestraft. Dieses Berliner Fassadenrecht, gültig bis 1918, galt vor allem für die Verlängerung der Straße „Unter den Linden“ und für den sie abschließenden, viereckigen Platz von 120 m Seitenlänge, hinfort (La Place) „Quarrée“ genannt. Hier entstanden allein 10 zweigeschossige barocke Palais und repräsentative Häuser. Der Platz wurde bald zur ersten Adresse Berlins.

Die Stadtgrenze verlegte man mit der nach Westen fortschreitenden Abholzung des Tiergartens hinter das Quarrée. Ein Palisadenzaun war gleichzeitig Stadt- und Zollgrenze sowie Hindernis für desertierende Soldaten. Aus zwei Sandsteinsäulen mit Pilastern und barockem Trophäenschmuck, zwei Tordurchgängen für Fußgänger und   einer Durchfahrt auf dem Sandweg bestand hinfort das von 1734-38 erbaute, nachts mit Gattern zu verschließende dritte Tor nach Brandenburg. Vier Torhäuschen standen noch davor: für die Wache, den Torschreiber, die Feuerwehr und den Akziseeinnehmer. Die Akzise ist eine 1641 vom Großen Kurfürsten nach holländischem Vorbild übernommene Umsatzsteuer, erhoben auf Waren, die nach Berlin eingeführt wurden.

Eine Radierung der Toranlage von Chodowiecki wird heute auf Tafeln am Tor gezeigt.

2. Das Friedenstor (1789 – 1806)

Den Wunsch nach einer Verschönerung der Residenzstadt hegte König Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) schon lange. Ein neues und repräsentatives Stadttor solle das Quarrée nach Westen abschließen, wurde schon 1769 auf einer Tagung der Akademie der Künste gefordert. Ursprünglich sollte es ein Denkmal für Friedrich den Großen werden, aber schließlich doch ein Symbol des Friedens. Einen begabten Architekten hatte der König schon gefunden.


a. Der Architekt

Carl Gotthard Langhans (1732–1808) stammte aus Landeshut in Schlesien. Ursprünglich studierte er Sprachen und Mathematik, wandte sich aber nach mehreren Bildungsreisen durch Europa der Architektur zu. Palladio war in Italien der Architekt, dessen Baukunst und Ideen ihn 1768 am meisten beeindruckten. Klassische Bauten Italiens kannte er aus Literatur und eigener Anschauung, die aus Griechenland nur von Abbildungen.


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In Breslau wurde er 1775 Leiter des Bauwesens. Wegen seines dort manifestierten Könnens wurde er 1788 vom König zum Direktor des Oberhofbauamtes in Berlin ernannt. Ihm unterstanden der Hoch-, Tief-, Wasser- und Straßenbau. In Berlin und Potsdam sind heute von ihm noch außer dem Brandenburger Tor folgende Bauten zu sehen: das Schlosstheater in Charlottenburg (jetzt Vorgeschichtliches Museum), das Belvedere im Schlosspark Charlottenburg, der Turmhelm der Marienkirche, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, Säle im Niederländischen Palais und im Schloss Bellevue, das Schauspielhaus in Potsdam, die Innenausstattung des dortigen Marmorpalais und die Chaussee Berlin-Schöneberg-Potsdam.

Er konnte neugotisch bauen, sichtbar an zahlreichen Kirchen Preußens, auch im Stil des Rokoko, aber seine eigentlich Passion galt der Nachahmung der Antike. Diese Bauweise hieß zu seiner Zeit „Neostile“, erst später Klassizismus. Langhans arbeitete bis 1802, dann bat der Siebzigjährige um Entlassung. Ihm folgte nach einiger Zeit Schinkel im Amt nach.

In Grüneiche bei Breslau starb Langhans 1808. Sein Sohn Carl Ferdinand war später als Oberbaurat ebenfalls in Berlin tätig. Er leitete u.a. den Neubau des abgebrannten Opernhauses und schuf das Palais Wilhelms I.

b. Der Entwurf zum Friedenstor

Langhans sollte ein herausragendes Tor entwerfen. Ihm schwebte das großartige „Stadttor von Athen“ vor, das er aus drei Stichen von Leroy, Stuart und Revett kannte, die jedoch die Propyläen der Akropolis abgebildet hatten. Das Eingangstor zur Burg von Athen hatte Mnesikles 437/6–432 erbaut und dabei den dorischen Stil des Parthenon bewusst kopiert, denn beide Bauten sollten eine optische Einheit bilden. Dieses Tor hatte eine breite Mittelöffnung, - nur für den Panathenäenzug - sowie je zwei schmalere Seiteneingänge für die Fußgänger und jeweils zwei im rechten Winkel dazu stehende Seitenflügel. Das Tor wurde erst seit 1835 ausgegraben und 1885 von Dörpfeld mit einem Bauplan veröffentlicht, aus dem hervorging, dass der östliche Flügelbau nie ausgeführt war. Doch Langhans kam die Anordnung dieses Torbaus zustatten; denn durch den breiten Mittelgang des Berliner Tores konnten hinfort nur die königlichen Kutschen, durch die daneben liegenden Durchfahrten die Gespanne fahren und durch die äußeren Gänge die Fußgänger gehen. Die beiden Seitenflügel konnten den Akziseeinnehmern und der Wache dienen.


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Andere Anregungen kamen aus Rom, besonders von Vitruv und Palladio sowie dem französischen Bautheoretiker Claude Perrault: Die dorischen Säulen sollten in der Form der römischen Dorica höher und schlanker werden, nicht mehr im Verhältnis 1:6, sondern 1:8. Ihre Kanneluren trugen keine scharfen Grate, sondern die Stege der ionischen Säulen. Jede dorische   Säule, eigentlich ohne Fuß, bekam eine dreifach gestaffelte Basis auf einer Plinthe. Die fünf Türen der Propyläen verschwanden zugunsten einer gleichen, zweiten Säulenreihe auf der stadtauswärts zeigenden Gegenseite. All diese zwölf Säulen standen vor den Stirnseiten der sechs rechteckigen Scheidewände, dem eigentlichen Torbau.

Dem dorischen Gebälk entsprachen Architrav und Fries, der jedoch anstatt der 10 Metopen jetzt 16 und statt der 11 jetzt 17 Triglyphen hatte, die aber nicht mit der Ecke bündig abschlossen. Ein Giebel hätte sich jetzt über dem Geison erheben müssen wie bei den Propyläen des Mnesikles. Doch gestaltete Langhans, der genügend gradlinig abschließende römische Stadttore wie auch Triumphbögen gesehen hatte, einen architektonischen Kompromiss. Er entwarf, dem Oberteil eines römischen Triumphbogens entsprechend, eine hohe Attika mit einem breiten Mittelblock, legte aber einen vorgeblendeten dreieckigen Giebel in Form zweier Treppen geschickt davor. So führten an beiden Seiten des Mittelblockes jeweils sieben flache, sich verkürzende Stufen bis zum Dachgesims, dienten gleichzeitig zur Lastableitung, machten aber den Eindruck eines gestaffelten Giebels. Die gesamte Attika erhob sich jedoch über einem Hohlraum; denn dieser Innenraum schien nötig für jede Art von Aufsicht und Reparatur. Der Weg dahin führte vom Giebel des nördlichen Seitenflügels durch eine Tür in der rechten Seite der Attika. Auf dem flachen Dach und dem Mittelblock sollte eine Quadriga stehen, wie sie von römischen Münzen bekannt war.

Die Schauseite des Tores richtete sich als Dominante auf die Prachtstraße Unter den Linden, nach innen in die Stadt und nicht nach außen, wie sonst bei Stadttoren üblich. Das Tor sollte der Repräsentation der Bewohner dienen und weniger die Besucher von weitem ansprechen. Es war eigentlicher Abschluss des Quarrée und dennoch sichtbare Öffnung ins Umland.

Der Entwurf gefiel dem König Friedrich Wilhelm II. Der Architekt begab sich auch ohne schriftliche Baugenehmigung sogleich an die Arbeit.

c. Die Ausführung

1788 wurde unter der Bauleitung von Langhans das alte Tor abgerissen, eine große Baugrube ausgehoben und die Fundamentierung begonnen. 1789 begann der Neubau, denn inzwischen waren im Magdeburgischen und bei Pirna in Sachsen grauweiße Sandsteine gebrochen und nach Berlin verschifft worden.


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Das Tor erhielt eine Breite von 65,50 m und eine Tiefe von 11 m (mit den Säulen an den Stirnseiten); die Breite der mittleren Durchfahrt betrug 5,65 m, die der Seitenöffnungen 3,79 m. Die Höhe des Tores war 21,50 m. Den Übergang zu den nur halb so hohen, im rechten Winkel zur Stadt hin liegenden Seitenflügeln bildete jeweils ein direkt an die äußere Torwange anschließender kleiner Flügelbau mit weiterführender Mauer. Diese Flügelbauten besaßen zwischen dem Tor und den Seitenflügeln je eine mannshohe Nische. Daran schlossen sich im rechten Winkel die Seitenflügel. Diese erhielten Dächer, deren Giebel auf das Quarrée blickten.

Den Eindruck zweier Peripterostempel bewirkten je zehn niedrigere, aber den großen gleich gestaltete dorische Säulen, zwei vor der Nische, fünf an der inneren Längsseite, vier an der Front (5. und 4. zählen doppelt). An den Außenseiten waren keine Säulen erwünscht, denn bündig mit dem angrenzenden Haus sollte das Tor abschließen. Hohe Gitter waren befestigt zwischen den westlichen Säulen hin zur 1698 angelegten Lietzenburger Chaussee. Beim Öffnen schmiegten diese Gitter sich an die Torwangen, abends aber versperrten sie den Durchgang. Den Eindruck eines weißen Marmortores erreichte man mit Käsekitt und Langekalkfarbe, mit denen Säulen und Wände gestrichen wurden. 1791 war das Tor fertiggestellt. Es hatte 111 000 Taler gekostet.

Am 6. August 1791 wurde es sang- und klanglos geöffnet, denn der König wollte nicht extra aus Sachsen zu einer Einweihungsfeier nach Berlin kommen.

Eine Inschrift hoch am Tor aus Bronzelettern zeigte seit 1792 den neuen Namen: Friedenstor ; ein Name, der sich trotz vieler späterer Friedensappelle gegen „Brandenburger Tor“ nie durchsetzte.

Nur Frieden als Thema und Bildprogramm waren für die gewünschte Ausschmückung des Tores vorgegeben. Die Allegorie der Freiheit sollte sich jedoch damit verbinden, wünschte die einflussreiche und selbstbewusste Gräfin Lichtenau, vormals Wilhelmine Enke, die bürgerliche Lebensgefährtin des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II.

d. Der Bauschmuck

Der junge Berliner Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764-1850), der Leiter der Hofbildhauerwerkstatt, hatte zuvor das Grabmal für Alexander von der Mark, den kleinen, illegitimen Sohn des Königs und der Wilhelmine Enke (heute: Alte Nationalgalerie), so imponierend gestaltet, dass ihm der Auftrag für den plastischen Schmuck des Tores übertragen wurde.

Der noch junge Künstler war eigentlich mit dem Tor nicht recht zufrieden, weil er den um 32 Jahre älteren Langhans für einen reinen Kopisten der Antike hielt, dem Deutschland für diese Architektur wenig geliefert habe. Es fragt sich daher, was denn an dem gewünschten und auch ausgeführten reichhaltigen Bildprogramm schließlich ‚deutsch‘ zu nennen sei.


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Es sollten ausgeführt werden:
A 2 Medaillons in den Giebelfeldern der Flügelbauten stadteinwärts,
B 2 Statuen in den Nischen (heute: außen links und rechts an der Torquerwänden),
C je 16 Reliefs in den je 16 Metopen der dorischen Friese an den jeweiligen Stirnseiten,
D zwei große Reliefs vorn und hinten auf dem Mittelblockpostament in der Attika,
E 10 kleinere Medaillons (M) hoch an den Torquerwänden,
F 10 große, rechteckige Reliefs (R) unter den Medaillons an den Torquerwänden,
G 5 allegorische Darstellungen, gemalt an die Decken der fünf Durchfahrten,
H ein kupferner, zweirädriger römischer Triumphwagen mit vier Pferden (Quadriga), gelenkt von der Friedensgöttin mit einem Tropaion in der Hand. Diese Gruppe sollte vergoldet werden.

Wenn auch die Entwürfe für die Reliefs vor allem von dem Maler Bernhard Rode (s.u.), geliefert wurden, so hat Schadow alle überarbeitet und befürwortet, während wiederum verschiedene Steinmetzen unter Schadows Aufsicht die Reliefs ausführten.

Ich folge in der Beschreibung der Reliefs der obigen Aufzählung mit dem Stand auf dem Quarée (Pariser Platz) und dem Blick zum Tiergarten hin. Dabei kann das beigefügte Schema hilfreich sein:



A in den Giebeln links ein sitzender Ares (Mars), rechts ein sitzender Hermes (Merkur);
B in den Nischen links Ares (Mars), sein Schwert in die Scheide steckend, rechts Athena (Minerva); beide anstatt der geplanten allegorischen Figuren Fleiß und Wachsamkeit;
C 1 – 16, 17 – 32. Der Kampf der Lapithen mit den Kentauren anlässlich der Hochzeit des Perithoos (nach dem Fries auf dem Parthenon);
D 33. Das Relief auf der Attika unter dem Thema „Der Zug der Friedensgöttin“, entworfen von Akademiedirektor Christian Bernhard Rode, stark überarbeitet von Schadow, trägt die folgenden allegorischen Darstellungen von links:
1. die Dichtkunst, eine bekränzte Frau mit Kugel und Schriftrolle;
2. die Musik, eine Frau mit Lyra, vor ihr ein Erote mit Flöte;
3. die Malkunst, ein Jüngling mit Palette, einem Bündel aus Pinseln und Stiften;
4. die Bildhauerkunst, ein Mann mit Hammer;
5. die Baukunst, eine Frau mit Stift und Papier, links reicht ihr ein Erote einen Zirkel;
6. der Überfluss, eine Frau mit Füllhorn, das sie hin zu einem links neben ihr hockenden Mädchen und einem Kind ausgießt;
7. die Freude, eine Frau, die ihre Armen zu Blumen emporreckt;
8. der Frieden, die Göttin Eirene, die auf der äußersten Kante eines Triumphwagens steht, mit der Rechten sich vorn auf den mit einer Lorbeergirlande geschmückten Rand des Wagens stützt und einen Palmenzweig trägt und mit der Linken einen Lorbeerkranz erhebt; der Wagen wird an einer langen Lorbeergirlande von vier Eroten nach rechts hin gezogen;
9. die Freundschaft, eine Frau hinter dem ersten Eroten, die Rechte ans Herz gedrückt, die Linke einen Stab haltend, der mit Efeu umwickelt ist;
10. die Eintracht, eine Frau hinter dem vierten Eroten, mit beiden Händen ein Rutenbündel, römische Fasces (in der Stadt ohne Beil!), schräg nach oben haltend;
11. die Staatsklugheit, eine Frau, die in der Linken einen Spiegel, dessen Griff eine Schlange umwindet, vors Gewand hält, in der Rechten ein Ruder, das sie auf den Boden stützt;
12. der Sieg, die lorbeerbekränzte Göttin Nike mit Flügeln, mit beiden Händen ein Tropaion (Helm, Brustpanzer, zwei Schilde) haltend;
13. die Tapferkeit, Herakles im Löwenfell, der mit erhobener Keule zwei Gestalten vor sich her treibt:
14. den Neid, eine weibliche, fischleibige Person, die sich mit der Rechten auf dem Boden sich abstützt und in der Linken drei Schlangen hält;
15. die Zwietracht, eine stehende Frau mit Schlangen in den Händen.

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Das zweite Relief auf der Feldseite der Attika, von Langhans entworfen, ist nie ausgeführt worden. Es sollte Folgendes darstellen: Herakles erschlägt die Unholde der (französischen) Revolution und bindet sieben Pfeile zusammen, die sieben Provinzen Hollands. 1787 waren diese durch preußische Intervention vor den Interessen Frankreichs gerettet worden in einem Feldzug, den Friedrich Wilhelm II. unternommen hatte. Mit diesem Relief sollte – wegen der engen Beziehungen Preußens zu Holland (s.o.) – diesem Land eine Huldigung dargebracht werden, wo auch ein Modell des Brandenburger Tores nach dessen Fertigstellung gezeigt wurde.

E. und F. Taten des Herakles
links: äußerer Durchgang linke Torquerwand:
34. M: Herakles besiegt einen Giganten



35. R: Athena weist Herakles den Weg zum Ruhm auf dem Tugendweg, rechts eine sitzende,   halbnackte   Frau mit Wein und Früchten



links: äußerer Durchgang rechte Torquerwand:
36. M: Herakles ringt mit einem Giganten



37. R: Herakles führt Alkestis aus dem Totenreich zum Boot des Charon, Pluto und Persephone mit Kerberos sind sichtbar 


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mittlere linke Durchfahrt linke Torquerwand:
38. M: Herakles erschießt die stymphalischen Vögel (Arbeit 5)



39. R: Herakles erschlägt am Altar den grausamen ägyptischen König Busiris, 2 Tote und 3 Personen sind sichtbar (Herakles auf dem Weg zur Arbeit 11)



mittlere linke Durchfahrt rechte Torquerwand:
40. M: Herakles bezwingt den nemeischen Löwen (Arbeit 1)



41. R: Herakles schießt auf Nessos mit Deianeira im Arm, dazwischen sitzt der Flussgott Euenos



mittlere breite Durchfahrt linke Torquerwand:
42. M: Das Kind Herakles erwürgt die Schlangen, rechts eine Frau (Alkmene?, Amme?)



43. R: Herakles rettet Hesione vor dem Seeungeheuer (Heimfahrt von Arbeit 6)



mittlere breite Durchfahrt rechte Torquerwand:
44. M: Herakles erschlägt den Drachen Ladon und pflückt selbst die Äpfel der Hesperiden (Arbeit 11)



45. R: Herakles erschlägt Kentauren



mittlere rechte Durchfahrt linke Torquerwand:
46. M: Herakles bändigt die Menschen fressenden Rosse des Diomedes (Arbeit 9)



47. R: Herakles erschießt drei Giganten



mittlere rechte Durchfahrt rechte Torquerwand:
48. M: Herakles tötet die lernäische Hydra (Arbeit 2)



49. R: Herakles inmitten von acht Personen, am Altar sich das Gewand des Nessos überziehend



rechts: äußerer Durchgang linke Torquerwand:
50. M: Herakles bezwingt den kretischen Stier (Arbeit 8)



51. R: Herakles verbrennt auf dem Scheiterhaufen inmitten von vier Trauernden



rechts: äußerer Durchgang rechte Torquerwand:
52. M: Herakles kämpft gegen Antaios (auf dem Weg zur Arbeit 11)



53. R: Herakles wird in den Olymp aufgenommen, Hebe (seine zukünftige Frau) im Kreis von vier Göttern (Hermes, Apollo, Zeus, Chronos ?) und zwei Göttinnen (Athena, Iris?) 




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G. von links:
A. militärische Trophäe für Heldenmut und Stärke
B. Leier und Keule des Herakles im Lorbeerkranz für Tapferkeit und Tonkunst
C. der Schild der Minerva für die Künste
D. zwei verschlungene Füllhörner mit Merkurs Stab für Einigkeit und Überfluss
E. Adler im Kranz aus Olivenzweigen für Frieden.
Diese Fresken sind nicht mehr sichtbar, sie wurden später übermalt.

H. Die Quadriga

Schadow hatte auch den Auftrag, die Quadriga zu entwerfen. Darum ließ er im königlichen Marstall einen Hofbeamten schaureiten, um ein Pferd in zwei verschiedenen Stellungen zu kopieren. Die beiden anderen Pferde sollten spiegelbildlich dargestellt werden. Nach genauem Studium fertigte er ein lebendiges Gipsmodell von 81 cm Höhe und bestimmte, dass der Maßstab anderthalb Zoll zu einem Fuß sein sollte. 10 Fuß (4m) hoch wurde also das Original zuerst aus Eichenholz geschnitzt und am 1. Mai 1790 von der Potsdamer Firma Wohler geliefert. Die Friedensgöttin Eirene, eine stämmige, mit einem kurzen Chiton gewandete, eher einer halbnackten Amazone ähnliche Frau, erhielt die eichenhölzerne Höhe von 4,50m.

Die Präsentation bei der dem Torbau vorgesetzten Abnahmekommission unter Chodowiecki und Meil geriet Schadow zum Ärger, denn zahlreiche Änderungen wurden an Pferd und Wagen angemahnt, die Diskrepanz zwischen der Höhe der Rosse und ihrer Lenkerin aber nicht hingenommen. Der Spott der Berliner war schnellstens zur Stelle, die Lenkerin sei die einzige Berlinerin ohne ein Verhältnis. Schadow argumentierte mit der wegen der Distanz wichtigen, unterschiedlichen Sichthöhe, aber man bestand zuerst auf einem Experiment.

Der englische Maler Cunningham war der unmittelbare Tornachbar nach Süden hin, dem nach seinen Beschwerden der Verlust des Nordlichtes durch das Tor auch entschädigt wurde. Dieser musste ein gleich hohes Gemälde der Quadriga auf die Attika stellen, um den richtigen Augenschein prüfen zu können. Das Ergebnis hieß für Schadow: Die Rosse müssen auf die Höhe von 12 Fuß gebracht werden. Über dem verbesserten Eichenholzmodell wurden nun in 0,8 mm dicken Kupferblechen die Figuren von zwei Potsdamer Kupferschmieden getrieben, von Köhler die Göttin und von Jury die Pferde. Dass des letzteren zwölfte Tochter Ulrike, selbst eine kräftige, in der Werkstatt des Vaters tätige Schmiedin, der Friedensgöttin Aussehen und Gestalt verliehen habe, ist Legende.

Der römische Triumphwagen, vorn mit einer an zwei Stellen aufgehängten Lorbeergirlande geschmückt, musste samt den Rädern gegossen werden, ebenso das Tropaion.

Im Juni 1793 wurde die Quadriga auf ein Schiff in der Havel geladen, mit größter Mühe und Vorsicht in drei Tagen bis zur Landestelle an der Spree gebracht und dem Schiffer mit 40 Talern sein schwieriger Transport entlohnt. Die Montage der Einzelteile war zeitaufwändig, musste doch auch mit kupfernen Quer- und Längsstreben die Standfestigkeit der einzelnen Hohlkörper, jedem Wetter stark exponiert, hergestellt werden. Das dauerte den Sommer über. Doch dann entfachte die hochgehievte Göttin erneut eine Diskussion.


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Ursprünglich hatte Schadow für sie keine Trophäe entworfen, war aber 1793 durch einen Akademiebeschluss zu einer Kopie der Siegestrophäe der Nike auf dem Relief (s.o.) bestimmt worden. Über diese ergoss sich erneut der Berliner Spott: Die Göttin habe zur Nacht gleich eine Laterne dabei, oder sie trage den größten Maikäfer Berlins und vertreibe die Vögel vom Tor mit ihrer Vogelscheuche. Zudem erregte der „nackte Kutscher da oben“ das Missfallen aller züchtigen Berliner.

Schadow musste zweifach Abhilfe schaffen. Er fertigte ein neues Holzmodell: eine Lanze mit einem Lorbeerkranz auf der Spitze und darüber einen römischen Adler. Nach allgemeiner Zustimmung wurde das Tropaion durch das neue Symbol ersetzt. Die spartanisch bekleidete Friedensgöttin erhielt ein bis auf den Boden reichendes Gewand: - züchtig und standfest! Erst bei der Renovierung von 1804 entdeckte man, dass Schadow dafür die Beine der Göttin weggenommen und in einen langen Chiton verwandelt hatte.  

Im Januar 1795 stand die Quadriga, 5,50 m hoch, schließlich mit Blick auf die Stadt fertig auf dem Tor, unvergoldet, denn aus Sparsamkeitsgründen hatte Friedrich Wilhelm II. die Vergoldung abgelehnt. Das Werk hatte schon genug gekostet: 20 640 Taler.

Es handelt sich offensichtlich bei Schadows Beitrag zum Tor um einen ganz der Antike verhafteten Bauschmuck. Deutsch ist vielleicht die Auswahl der nicht dem Kanon folgenden Heraklestaten oder die Interpretation der einzelnen Darstellungen, die allegorische Bezüge zur preußischen Geschichte herstellen sollten. So wollte man in den Taten des Herakles, des Helden der preußischen Tapferkeit, die zahlreichen Mühen des Regierens sehen. Das Ringen der Lapithen mit den Kentauren sollte Preußens kriegerischen Mühen mit seinen anspruchsvollen Nachbarn entsprechen. Ob diese Auslegungen allgemein bekannt waren, lässt sich schwer ermitteln.

e. Die Wirkung

Das Berliner Publikum war von diesem klassizistischen Tor in seinen ausgewogenen und eleganten Maßen sehr angetan. Die stolze und sichtbare Anteilnahme der Bürger an dem gelungenen Bauwerk war von Anfang an groß und förderte dessen Wertschätzung. Auch der architektonische Appell an die ums Quarrée lebenden Bewohner wurde verstanden. Im Laufe des 19. Jhs änderten sie in Angleichung an das Tor ihre zweigeschossigen barocken Palais und Häuser, vor allem unter dem Einfluss Stülers, in dreigeschossige klassizistische um.


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3. Das Schmachtor (1806 – 1814)

Das Friedenstor sollte seinem Namen nur zwölf Jahre gerecht werden, denn nach Preußen kam der Krieg, den am 14. Oktober 1806 Napoleon in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt mit der Vernichtung der preußischen Truppen für sich entschied. Am 27. Oktober 1806 ritt der Kaiser der Franzosen von Potsdam nach Berlin, um die preußische Hauptstadt zu besetzen. Die richtige Kulisse zur ersten Demütigung war das Friedenstor, vor dem er sich die Schlüssel der Stadt vom Magistrat aushändigen ließ. Dann nahm er im Schloss sein Quartier.

Im seinem Gefolge befand sich das „Auge Napoleons“, der Baron Dominique Vivant Denon, ein ausgewiesener Kunstkenner und von höchster Stelle beauftragt, für das Musée Napoléon die repräsentativsten Kunstwerke aller Besiegten nach Paris zu holen. Die Pferde von San Marco in Venedig waren schon dorthin gebracht worden in der Absicht, sie auf den neuen Arc de Triomphe zu stellen. Eine Quadriga aus Berlin würde gut zu dem zukünftigen Arc Napoléon passen oder auch auf dem Tor von St. Denis großen Eindruck machen. Der Beschluss ließ sich auch nicht durch Schadows Gesuch um Erhalt bei allerhöchster Stelle umstoßen. Majestät ließen den Bittsteller und seine Kommission gar nicht erst vor. Der Potsdamer Kupferschmied Jury musste sein Werk vom 2.-8.12.1806 zerlegen und die Teile ins Zeughaus schaffen, wo sie unsachgemäß und in Eile in zwölf große Kisten gepackt wurden.

Inzwischen hatte der sachkundige Baron bei seinen stets sehr höflichen, aber einheimsenden Besuchen in Berliner und Potsdamer Schlössern wie Kunstkammern eine Liste weiterer großartiger Kunstwerke für das französische Beutemuseum zusammengestellt. Als auch diese in 100 Kisten und Verschlägen verpackt waren, fuhr der Raubzug am 21. Dezember per Schiff nach Paris. Am 17. Mai 1807 langte die preußische Beute dort an, wo man kurz vorher schon die 150 Kisten aus Kassel, Braunschweig und Wolfenbüttel, eben aus Jérômes Königreich Westfalen, empfangen hatte.

Rascher Abbau, Verpackung und Transport hatten der Berliner Quadriga schwer geschadet, daher sollte sie vor einer geplanten Aufstellung erst restauriert werden. 13 887 Francs soll die Wiederherstellung gekostet haben.


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Napoleons Kriege dauerten an. Erst nach dem missglückten Russlandfeldzug und den einsetzenden preußischen Befreiungskriegen wendete sich sein Kriegsglück, das durch die Völkerschlacht bei Leipzig (16.-19. Oktober 1813) und den Einzug der Verbündeten in Paris (31. März 1814) ein Ende fand. Napoleon bekam das Fürstentum Elba und durfte seinen Titel behalten. Auch Baron Denon musste seine Sammeltätigkeit als Dieb im Schlepptau der Grande Armée einstellen, doch auch ihm blieb seine Auszeichnung „Fleißigster Kunsträuber der Geschichte.“   - Übrigens wurde erst beim Wiener Kongress 1815 der vorher übliche Kunstraub im Krieg von allen Nationen geächtet.

Alle mit Napoleon zusammengestoßenen Fürsten kamen nun persönlich nach Paris oder sandten nun Kenner und Gelehrte nach Paris, um die geraubten Kunstschätze wieder aufzuspüren und zurückzuführen. Der hessische Legationssekretär Jakob Grimm, zuständig für die Wiederauffindung der kurfürstlichen Bibliothek aus Kassel, erblickte unverhofft in den Tuilerien die Berliner Quadriga. Ohne einen Friedensvertrag abzuwarten, forderte der in Paris weilende preußische König Friedrich Wilhelm III. (1797- 1840) sie und den in Potsdam geraubten Degen Friedrichs d. Gr. sofort zurück. Dem wurde stattgegeben, jedoch vor der Übergabe noch schnell auf Bitte des Königs Ludwig XVIII. ein Gipsabdruck von einem Pferd genommen. Denn die Qualität und Sorgfalt Schadows, der seine ganze Kunst in die Gestaltung der Pferde gelegt und die Göttin weniger beachtet hatte, machte so großen Eindruck, dass eine Kopie eines Pferdes für das zerstörte Reiterstandbild Heinrichs IV. (1589 – 1610) am Pont Neuf dienen sollte. -   Noch heute trägt in Paris ein Pferd Schadows diesen französischen König.  

Die Quadriga wurde wiederum zerlegt und sollte dieses Mal auf dem Landweg zurückkehren. Pferde zogen die Wagen mit ihren zahlreichen Kisten aus Paris am 21. April 1814 fort. Die Fahrt quer durch Deutschland glich unter dem Jubel der Bevölkerung einem Triumphzug, und mit Freudenkundgebungen wurde der geschmückte und bekränzte Transport am 8. Juni von den Berlinern empfangen. Entsetzen stellte sich jedoch beim Öffnen der Kisten im Jagdschloss Grunewald ein. Der Zustand war so ruinös, dass man die französischen Restaurierungskosten schlichtweg als Betrugskosten bezeichnete. In Eile, die sich später rächte, mussten alle Reparaturen geschehen, denn sie sollten für den Einzug des aus Paris zurückkehrenden Königs abgeschlossen sein.

Zudem hatte der König neue Vorstellungen angemeldet. Die Lanze mit Lorbeerkranz und römischem Adler war nämlich aus der Rechten der Friedensgöttin unauffindbar verschwunden, und eine neue sollte nun mit preußischen Symbolen angefertigt werden. Friedrich Wilhelm III. wünschte den preußischen Adler, einen Eichenkranz mit dem Eisernen Kreuz in den Fängen haltend, zu sehen.


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Dieses Kreuz hatte Schinkel im Auftrag des Königs für die Befreiungskriege als Tapferkeitsorden für jeden soldatischen Dienstgrad entworfen, ein in Silber gefasstes, dem mittelalterlichen Johanniterkreuz nachempfundenes, gusseisernes, gleichschenkliges Kreuz, nur auf der Rückseite mit Zeichen von oben nach unten versehen: eine Krone über FW, drei Eichenblätter, 1813. Ab 1814 standen diese Zeichen auf der Vorderseite der drei Gattungen des Ordens, dem EK I, EK II (=Ehrenkreuz???) und dem Großkreuz. Dieser Orden war zum 10. März, dem Geburtstag der am 19. Juli 1810 verstorbenen Königin Luise, ausdrücklich nur für die Dauer der Befreiungskriege gestiftet worden. Schon nach mehreren Treffen und der Dreivölkerschlacht (Preußen, Österreich, Russland) von Leipzig wurde es vielen Soldaten verliehen. Wegen seines hohen Ansehens war der Orden für die Kriege 1870, 1914, 1939 erneuert worden und dient schließlich bis heute als Symbol der Bundeswehr.

Am 9.8.1814 wurde der König mit den heimkehrenden Truppen zurückerwartet, und alles war zu einem prächtigen Empfang vorbereitet. Die Straße unter den Linden erstrahlte im Blumen- und Girlandenglanz, und der Komponist Giacomo Meyerbeer hatte extra ein (noch nicht fertiges s.u.) Singspiel komponiert. Girlanden umwanden die Säulen des Brandenburger Tores anstatt der erbeuteten französischen Gewehre, deren Anblick sich Friedrich Wilhelm III. verbeten hatte, und auf dem Tor stand verhüllt die Quadriga. Die verschleierte Göttin trug Schinkels neue Lanze in der Rechten. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung erreichte der König das Tor, ja, im Moment des Einreitens fiel, von unsichtbarer Hand gezogen, die Bedeckung von der Quadriga, und mit grenzenlosem Jubel wurde das so lang vermisste Wahrzeichen begrüßt. In diesem Moment fand in den Augen der Berliner eine weitere Metamorphose statt.

4. Das Siegestor (1814 – 1918)

Die Friedensgöttin war plötzlich zur Victoria mutiert, das Friedenstor erstrahlte als Siegestor, das Quarrée hieß nach dem Triumph über Bonaparte jetzt „Pariser Platz“, und die Straße Unter den Linden geriet bis zur Opernbrücke bei jedem größeren Ereignis zur via triumphalis . Das Tor war hinfort Zeuge und Symbol preußisch-deutscher Geschichte.

An Gedenktagen, vor allem am Reichsgründungstag (18. Januar) und Sedanstag (2. September), sowie bei Staatsaktionen war es prächtig im Girlanden- und Fahnenglanz geschmückt, an Trauertagen mit schwarzem Flor verhängt, wie 1888, als der tote Kaiser Wilhelm nach Charlottenburg ins Mausoleum seiner Eltern überführt wurde und das Tor sich mit einem großen Spruchband Vale Senex Imperator verabschiedete. Jede Braut eines preußischen Prinzen wurde durchs Tor heimgeholt, wie einst als erste die spätere Königin Luise und ihre Schwester Friederike nach Berlin eingefahren waren. Kein hoher Gast, kein Staatsoberhaupt, kein König oder Kaiser kam nach Berlin, ohne durch das Nationaldenkmal geführt zu werden.


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Von jetzt an wurden Tor und Straße für alle preußischen Ereignisse zur Selbstdarstellung genutzt. Hof und Militär instrumentalisierten das Tor für ihre Interessen. Alltags zogen mit klingendem Spiel die Soldaten oft zum Königsplatz, ihrem schon vom Soldatenkönig eingerichteten Exerzierplatz, dem heutigen Platz der Republik vor dem in den Jahren 1884-94 erbauten Reichstag. Militärparaden wirkten wie Magneten auf die Berliner Zuschauer.

Ebenso wurden alle durchs Tor in den Krieg ziehenden Soldaten tausendstimmig verabschiedet. Auszug und vor allem Rückkehr preußischer Truppen gerieten zu einer Kette von Siegeszügen, und das Tor wurde zum Triumphbogen. Am 7. Dezember 1864 kehrten sie vom Dänischen Krieg zurück, am 22. September 1866 vom Krieg gegen Österreich. Am 31.Juli 1870 ging es gegen Frankreich hinaus, am 16. Juni 1871 kehrte umjubelt ein neuer deutscher Kaiser aus Versailles zurück. Das Tor grüßte mit einem Schmuckband: „Sedan. Welch eine Wendung durch Gottes Führung“, den Worten Wilhelms I. nach der gegen Napoleon III. gewonnenen Schlacht am 2. September 1870.

Die Umgebung des Tores war inzwischen auf dieses hin verschönert worden. Ab 1832 hatte man begonnen, nach den Ideen von Lenné den Tiergarten zu einem Landschaftspark umzugestalten. Nach 22 Jahren fertiggestellt, bildete er einen würdigen Rahmen für das Tor.

Auf dem nun sich zum klassizistischen Baustil verändernden Pariser Platz erstrahlten endlich seit 1880 prächtige Rasenspiegel mit Brunnen, auf den schon 1848 geäußerten Wunsch des Generals Wrangel, der damit zuviel Publikum von seinem Haus fernhalten wollte. Ein verstärkter Verkehr strebte nämlich durch das Tor, wo schon seit 1825 ein geschäftstüchtiger Privatmann eine direkte Kutschenlinie vom Tor nach Charlottenburg errichtet hatte. Dabei wurden die Säulen geschützt durch Radabweiser, die, aus erbeuteten französischen Kanonen gefertigt, noch heute am mittleren Durchgang demselben Zweck dienen.

1865- 69 wurden Stadtmauern und –tore nicht mehr für zeitgemäß erachtet und abgerissen. An 17 ehemalige Stadttore Berlins erinnern heute nur noch Namen, eins jedoch blieb stehen: das Brandenburger Tor. Dessen unmittelbar an die äußeren Torwangen anschließenden Mauern mit Ställen und Remisen wurden entfernt. Durch deren Abriss mussten vor den Flügelbauten nach Westen hin zwei neue Bauten entstehen, deren geplante profane Nutzung als Telegraphenamt und öffentliche Bedürfnisanstalt eine Pressekampagne wegen Pietätlosigkeit beendete.

1868 wurde nach den Entwürfen von Strack je eine dreischiffige Säulenhalle mit 16 Säulen in Traufenstellung als Durchgang an den Schmalseiten des Hauptbaues errichtet, so dass das Tor zum Tiergarten hin in gleicher Linie wieder abschloss. An den beiden nach Norden und Süden weisenden Giebeln wurden in Angleichung an den Reliefschmuck des Tores neue Figuren angebracht: auf dem nördlichen eine sitzende und schreibende Viktoria mit einem Palmwedel im Arm und auf dem südlichen eine Fortuna mit Füllhorn. Die Statuen von Ares und Athena mussten an den heutigen Platz in eine Wandnische der jeweiligen äußeren Torwange umgesetzt   werden (s.o.Nr.2 d, unter b.).


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Auch im neuen Jahrhundert kehrten siegreiche deutsche Soldaten aus China nach der Niederwerfung des Boxeraufstandes 1901 zurück, ebenso 1904 die Truppen aus Deutsch-Südwest-Afrika nach dem erbarmungslos niedergeschlagenen Herero-Aufstand. Aber als am 1. August 1914 die Soldaten mit lautstarkem Patriotismus in den nächsten Krieg zogen, ahnte niemand, dass die letzten Jahre des Siegestores gezählt waren. Vier Jahre später kehrten diese nie besiegten Truppen dennoch als geschlagene in einzelnen Etappen zurück.

5. Das Parteientor (1918 – 1945)

In den folgenden Jahren erfuhr das Brandenburger Tor leidvoll alle Wirren der Weimarer Republik. Während der Zeit ihres Bestehens empfing das Gebäude Prügel als Brennpunkt der Parteienkämpfe, als Kulisse für Kundgebungen, Aufmärsche, Durchzüge, Streiks, ja sogar für die Revolution, die im November 1918 ausbrach.

Zuerst öffnete diese die mittlere Durchfahrt und machte die Straße Unter den Linden zur revolutionären Meile. Am 10. November 1918 besetzten Soldaten der Regierung das Tor, am 20. des Monats zog der Trauerzug für die gefallenen Arbeiter hindurch. Am 5. Januar 1919 sprachen Wilhelm Pieck, Georg Ledebour und Karl Liebknecht, gerade am 23. Oktober 1918 aus dem Zuchthaus entlassen, vor dem Tor. Letzterer setzte sich mit Rosa Luxemburg an die Spitze des Spartakusaufstandes, wobei es Anfang Januar 1919 zu heftigen Schießereien kam; denn vom Reichstag her wurde auf die Regierungstruppen am und auf dem Brandenburger Tor geschossen, und diese feuerten zurück. Es gab Verwundete und Tote. Die Quadriga und die erst 1909 restaurierte Viktoria waren ramponiert und von Gewehrkugeln durchsiebt. Am 25. Januar wurde der zehn Tage zuvor gemeinsam mit Rosa Luxemburg erschossene rote Revolutionär Liebknecht in einem Trauerzug zurück durch das Tor gebracht.    Tote gab es ferner zwischen dem 13. und 20. März 1920, als zwischen dem Hotel Adlon und dem Tor schwere Schießereien während des Kapp-Putsches stattfanden.

Überhaupt mutierte das Tor eher zum Trauertor, denn die Leichenzüge des ermordeten Außenministers Rathenau, des Reichspräsidenten Ebert und des Reichskanzlers Stresemann führten in den nächsten Jahren hindurch. Die Nationalsozialisten inszenierten ebenso am 5. Februar 1933 für den braunen Standartenführer des Charlottenburger SA-Sturms Maikowski, der nach dem nächtlichen Fackelzug des 30. Januar erschossen worden war, einen Trauerzug durchs Tor wie später, allerdings prächtiger, für den Reichspräsidenten Hindenburg.  


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Mit dem Niedergang der Republik war auch der des Brandenburger Tores erfolgt, da schwere Schäden an Säulen und Figurenschmuck die Kämpfe unter den Parteien verursacht hatten. Erst von 1926/27 an konnte die Stadt wegen der wirtschaftlichen Misere die dringend notwendige Restaurierung vornehmen. Zuerst zogen in einem ungewöhnlich großen und tragfähigen Gerüst elektrische Aufzüge unzählige Loren für 35 Waggonladungen Sandsteine zur Reparatur hoch. Viele der 32 Metopen wurden ersetzt. Noch größeren Schaden wies die Quadriga auf. Sieben Jahre lang waren Regen und Schnee durch die Gewehreinschüsse ins Innere gesickert und hatten die stützenden Konstruktionen aus Eisen (von 1814) verrosten lassen, die nun durch bronzene ersetzt werden mussten. Um diese Restaurierungsarbeiten auch während des Winters durchführen zu können, errichtete man um die vier Pferde ein hohes Bretterhaus, das die Berliner sofort als den „höchsten Pferdestall Berlins“ verspotteten.

Seit 1933 stand das Tor unter dem Banner einer braunen Einparteienherrschaft. Es erfuhr keine direkten baulichen Veränderungen trotz der Pläne Speers für die neue Hauptstadt Germania, der das Tor von seiner Umgebung trennen und an Stelle der Torhäuser Durchfahrten, beidseitig flankiert von klassischen Hallen, schaffen wollte. Ferner musste das deutsche Symboltor, nicht nur für die erwarteten Besucher der Olympischen Spiele 1936, gut erreichbar sein, wozu ab Februar 1934 der Bau der Nord-Süd-S-Bahn begann. Zeitgleich mit der Eröffnung der Spiele weihte man am 28. Juli 1936 die neue S-Bahnstation „Unter den Linden“ ein. Doch verleiht der unter dem südlichen Torhaus in scharfem Bogen führende Tunnel mit seinen ständigen, durch den Zugverkehr verursachten Vibrationen dem Tor keine unerschütterliche Standfähigkeit; dies bereitet den Kuratoren bis heute Ängste.

Doch Massen von Menschen ließen sich jetzt leicht zum Tor befördern, wenn es wieder als Kulisse für Aufmärsche, Fackelzüge, Paraden (Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939) oder Triumphzüge dienen musste wie am 6. Juli 1940, als die siegreichen Truppen aus Frankreich heimkehrten. Zum Heldengedenktag, dem 16. März 1941, ließ Hitler vor das Tor den Waggon von Compiègne bringen, in dem 1918 die deutsche Kapitulationsunterzeichnung stattfand und zur Demütigung im selben Ort und im selben Waggon am 22. Juni 1940 die französische erfolgen musste.   Diese Trophäe seiner Rache hieß er im Lustgarten aufzustellen. Von da an gab es immer weniger Siegesparaden hin zum Pariser Platz. Auch den hatte von 1939 an der braune Einparteienstaat bis auf die amerikanische und französische Botschaft mit den Behörden der materiellen Sicherstellung der Kriegsführung besetzt.

Am 1. 9. 1939 setzten wieder Kämpfe ein, dieses Mal zwischen mächtigeren Parteien. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Als am 25. 8. 1940 der erste englische Nachtangriff auf Berlin erfolgte, den Hitler am 14. 11. 1940 mit dem Schlag gegen Coventry beantwortete, begann der bald von den Alliierten beherrschte Bombenkrieg gegen die deutschen Innenstädte, denen auch die Gebäude der Straße Unter den Linden und des Pariser Platzes erlagen. Jedoch sollten bis zuletzt Tor und Quadriga das allen Deutschen sichtbare Durchhaltesymbol bleiben.


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6. Das Trümmertor (1945 – 1961)

In den letzten Tagen des Endkampfes erhielt das Tor eine neue Funktion: Panzersperre wurde es für den inneren Verteidigungsring Berlins. Am 30. April 1945 bereitete gezieltes Feuer nicht nur Adolf Hitler, sondern auch dem Symbol Deutschlands ein Ende. Sowjetische Truppen erreichten das Tor. Sie hissten am 2. Mai, am Tage der Kapitulation Berlins, als neues Siegeszeichen die rote Fahne mit Hammer und Sichel neben den Resten der Quadriga. Siegeskundgebungen und -paraden der Alliierten fanden alsbald vor einer traurigen Kulisse statt. Wie ganz Deutschland so lag auch das Tor in Trümmern:

Beide Torhäuser waren total zerstört, nur die Säulenstümpfe und die der Durchgangshallen ragten in den Himmel. Viele Säulen des Tores waren stark zersplittert, das Gebälk und die Attika hatten schwere Einschusslöcher. Das Relief der Friedensgöttin, die Metopen, der Schmuck an den Torwangen und die kopf- und armlose Göttin Athena waren von Gewehrschüssen durchsiebt. Durch gezieltes Panzer- und Artilleriefeuer auf die Quadriga waren der Wagen atomisiert und zwei Pferde in Blechstücke zerfetzt. Ein getroffenes lehnte sich an das letzte, zwar durchlöcherte, aber noch stehende Pferd. Die Viktoria mit dem Siegeszeichen aber war verschwunden. Ein Artillerievolltreffer hatte sie dahinschmelzen lassen. An einen Wiederaufbau dieses Berliner Wahrzeichens wurde vorerst nicht gedacht. Die Sieger hielten andere Denkmäler für nötig.

Ein Siegesmal in unmittelbarer Nähe ließen sich die Sowjets von deutschen Künstlern entwerfen und aus dem Marmor der Reichskanzlei errichten. Die zum Bronzeguss nötigen Maschinen und Geräte der Gießerei Noack, gerade als Reparationsleistungen abgebaut, wurden teilweise zurückbeordert, weil nur im Friedenauer Firmensitz die zahlreichen Sowjetsterne und überlebensgroßen Rotarmisten aus Bronze für die neuen Denkmäler gegossen werden konnten. Schon zum 7. November 1945, dem 28. Jahrestag der Oktoberrevolution, wurde das Ehrenmal für die russischen Gefallenen im Tiergarten eingeweiht: in der Mitte auf hohem Postament ein bronzener Soldat, umrahmt von zwei Panzern vom Typ T 34.

Die alten Denkmäler aber, in den Augen der neuen Machthaber Zeugen des militaristischen, unmenschlichen Nazisystems mit langer Vorgeschichte, wurden der Versetzung, dem Abriss oder der Sprengung anheimgegeben. Die Siegesallee, die Siegessäule sowie weitere 40 Denkmäler oder Embleme standen 1946 auf der Liste der zwangsweisen Entnazifizierung, darunter Bismarck, Kaiser Wilhelm I., König Friedrich Wilhelm III. und die Königin Luise, von denen einige doch überlebten. Das Denkmal Friedrichs d. Gr. wurde von der Straße Unter den Linden in den Park von Sanssouci versetzt und erst 1981 wieder am alten Platz aufgestellt.


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Das Wahrzeichen Berlins, die Viktoria samt Quadriga, hielt man für so zerstört, dass eine neue Gruppe auf dem Tor als Zeichen des Wiederaufbaus und einer neuen Gesinnung erwogen wurde. Vorschläge dazu waren zahlreich; sie reichten von einer Gruppe Werktätiger, unter denen eine Mutter ihr vergoldetes Kind der Sonne entgegenstreckt, bis zur Friedenstaube Picassos. Proteste gegen diesen totalen Bruch mit der Vergangenheit und gegen die Formen neuer Ideologie kamen weitgehend aus den Westsektoren mit der Forderung nach Wiederherstellung der alten Torbekrönung. Die ließ allerdings noch lange auf sich warten, denn ab 1949 wollte der Ostberliner Magistrat zuerst den Pariser Platz und die Straße Unter den Linden enttrümmern, weil 1950 die Weltfestspiele der Jugend im Ostsektor stattfinden sollten. Die Reste der das Tor flankierenden Bauten wurden beseitigt, die beiden Torhäuser sollten abgerissen werden. Sie blieben nur erhalten durch den Hinweis auf Speers gleiche Pläne, die man nicht kopieren wollte. Das Tor stand jetzt ohne Anbindung frei am Ende des Pariser Platzes. Um noch weitere vollendete Tatsachen zu schaffen, ließ am 1. Mai 1950 Erich Honecker seine von ihm geleiteten FDJler die Reste der Quadriga vom Tor auf den Pariser Platz werfen. Bis auf einen heute im Märkischen Museum aufbewahrten Pferdekopf wurde Schadows Quadriga anschließend verschrottet. Danach kam es zum Entwurf eines - nie ausgeschriebenen - Wettbewerbs zur neuen Bekrönung des Tores.

Ab 1948 entwickelte sich der Streit der Siegermächte zum Kalten Krieg, oft fokussiert vor den alten Kulissen, dem Brandenburger Tor mit dem Pariser Platz und dem Reichstag mit dem Platz der Republik. Dort hielt am 9. September 1948 Ernst Reuter seine berühmte Rede gegen die sowjetische Blockade der Stadt. „Ihr Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!“ war kaum verhallt, als auf dem Pariser Platz Schüsse fielen. Getroffen wurde W. Scheunemann, ein 15jähriger Angehöriger der SPD-Falken. Sein Tod ließ aufgebrachte Jugendliche die rote Fahne herunter holen. Doch abends leuchteten oben wieder Hammer und Sichel in rotem Tuch.

Das Symbol der Unterdrückungsmacht zu tilgen war beim Aufstand des 17. Juni 1953 erneut ein nationales Bestreben. Auf dem Tor wurde die Sowjetfahne gegen eine schwarz-rot-goldene ausgetauscht und unter dem Beifall der Menge verbrannt. Als abends russische Panzer viele Aufständische nach Westberlin getrieben und die Erhebung niedergewalzt hatten, prangten oben auf dem Tor als Zeichen des Sieges wieder Hammer und Sichel. Ihre Opfer: ca. 300 Tote, mehr als 40 000 Flüchtlinge und unzählige Prozesse mit langen Haftstrafen.


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Der politische Krieg spielte in all den Jahren noch auf anderen Ebenen rund ums Tor. Es klebten an Säulen und Sockeln hinfort kommunistische Plakate der SED, und am Architrav   verkündeten Transparente kommunistische Parolen, obwohl schon 1926 nach schlimmen Verunzierungen noch einmal das Verbot von 1824 erneuert worden war, das Plakatklebern Leibesstrafe androhte. Doch bildete die Farbe Rot der Spruchbänder die einzige Aufhellung am dunkelgrauen, verschmutzten Bau. Damals waren Spraydosen für farbige Graffiti noch unbekannt.

Nach vielen zaghaften, immer wieder unterbrochenen Neuanfängen und nach Pressekampagnen in jede Richtung, alles Zeichen von unsicherem Umgang mit historischen Denkmälern, beschloss 1956 der Ostberliner Magistrat eine Wiederherstellung des Brandenburger Tores und - eine Neuanfertigung der Quadriga.

War die Quadriga elf Jahre zuvor bis zum letzten Tag des Dritten Reiches ein allen sichtbarer Aufruf zum Durchhalten geblieben, so wurde den damals Verantwortlichen angesichts des verstärkten Bombenkrieges schon früh klar, dass Tor und Quadriga immense Schäden erleiden könnten. Nach einem Beschluss von 1942 wurden im folgenden Jahr die Pferde und ihre Lenkerin, nicht jedoch ihr Siegeszeichen und der Wagen, in Gips abgeformt. Diese 5000 Einzelteile hatten den Krieg in Dahlem überlebt und lagen nun in der Charlottenburger Gipsformerei. Damit konnte man also die Quadriga größtenteils originalgetreu wieder herstellen, und deshalb bat der Magistrat um deren leihweise Übergabe. Mit der Ablehnung des Westberliner Senates begann ein weiterer Prestigekampf quasi auf höchster Tor-Ebene; denn Westberlin erbot sich am 7. Januar 1957, auf das von Ostberlin restaurierte Tor eine neue, nach den alten Vorlagen gebaute Quadriga zu setzen. Der Magistrat gab nach, sparte er doch die vom Senat angesetzten Kosten von 250 000 DM, verbat sich aber die Aufstellung auf dem Tor selbst. Ein überaus tiefes Misstrauen gegen dieses (sicherlich imperialistische Vereinnehmungs-) Angebot des Westens blieb und wurde auch alsbald laut.

Vorerst gab es am Tor genügend zu tun. Es lagen seit 1945 über 10 000 Einschuss- und Verwitterungsspuren offen. Ölfarbenreste und falsche Zementverwendungen, sogar solche von 1950, waren zu tilgen. Fernerhin musste die Athena neu gemeißelt werden, die Metopen samt dem Zug der Friedensgöttin wollte man restaurieren und die Torhäuser neuen Bestimmungen übergeben: Ins nördliche zogen Polizei und Zoll, ins südliche ein Informationsbüro. Den äußeren Längswänden, seit dem Abbruch der Ruinen 1950 frei stehend, stellte man analog zu den inneren jeweils eine Säulenreihe vor, so dass eine eventuell wiedererstehende Platzumbauung in Zukunft nur an die offenen Säulenhallen anschließen konnte (s.u.).


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Zum Abschluss der über 2 Millionen Mark teuren Restaurierung am 5. August 1958, zum 167. Geburtstag des Tores, ergab sich ein gelungener Anblick des freistehenden und wieder hellfarbenen, architektonisch vollendeten Monumentes - ohne Sowjetfahne. Vor dem südlichen Torhaus wehte jetzt die deutsche schwarzrotgoldene, vor dem nördlichen die rote Fahne des Sozialismus. Nur die Quadriga war noch nicht auf dem Tor zu sehen, obwohl sie unten schon gewartet hatte.

Der Westberliner Auftrag zur Wiederherstellung der Quadriga war im Juli 1957 an die Friedenauer Gießerei Noack ergangen, nachdem im März dort aus vielen verschiedenen Negativ-Gipsteilen endlich die 52 passenden Puzzlestücke eines Pferdes zusammengesetzt waren. Die Frage nach einem alternativen und festeren Bronzeguss wurde der Tradition zuliebe zugunsten der hergebrachten Treibarbeit aus Kupfer entschieden. Nur sollte wegen der bisher leidvoll erfahrenen geringeren Haltbarkeit das Blech von 0,8 zu 1,3 mm verdickt werden. Dazu wollte man die Stützgerüste jetzt aus Stahl und Kupfer anfertigen, um Rostgefahren zu bannen. Da der Wagen und Schinkels Siegeszeichen mit Adler und Eisernem Kreuz nicht abgeformt waren, mussten sie nach alten Bildern neu gearbeitet werden. Wagen, Räder und Pferdedecken wurden jedoch neu gegossen. Fernerhin sollte die Quadriga in gewohnter Patina des Kupfergrüns erstrahlen, deshalb musste das Metall künstlich patiniert werden.

Am 1. August 1958 kam die Göttin zurück, am nächsten Tag folgten die Pferde zum Pariser Platz, wo die Quadriga von Noack auf einem Sandfundament zusammengesetzt wurde; allerdings fehlten die Zügel, die man erst am festen, endgültigen Standort anlegen konnte. Unter großer Anteilnahme der Zuschauer wurde die Quadriga enthüllt, nur das Siegeszeichen nicht. Es war auch auf allen in der Ost-Presse veröffentlichten Nahaufnahmen nicht sichtbar. Der Magistrat hatte sich ja die Aufstellung ausdrücklich allein vorbehalten. ‚Ramses‘, der modernste Kran in der DDR, sollte eigentlich das Gespann hoch aufs Tor stellen, aber in der kommenden Nacht wurde es heimlich in den Marstall abtransportiert.

Das löste einen ungeheuren Skandal aus. Der Berliner Senat, der auf jede politische Demonstration verzichtet hatte und die Gruppe auf dem Pariser Platz einfach in den „Sand setzen“ musste, sprach von rechtswidrigen Raubrittermethoden. Am 10. August antwortete der Magistrat durch die „Berliner Zeitung“, die Quadriga gehöre nicht dem Senat, sondern den Berlinern, die Soldschreiber der West-Presse könnten sich überzeugen, dass die Quadriga inzwischen nicht rot angestrichen sei, dass auf die Pferde keine Brandzeichen mit Hammer und Sichel gegen eine Entführung eines zweiten Napoleon angebracht seien und sie in ihrem „Offenstall“ sicher ständen.


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Aber hinter der Entfernung stand trotzdem eine lang gehegte Absicht, denn man wollte die im Siegeszeichen angebrachten imperialistischen Symbole nicht hinnehmen. Insgeheim hatte der Magistrat längst beschlossen, dass Adler und Eisernes Kreuz verschwinden sollten, natürlich nur nach dem Willen der Bevölkerung. Dazu inszenierte die Berliner Zeitung seit dem 31. August   eine Pressekampagne und erhielt fast nur zustimmende Leserbriefe, die u.a. auf dem ursprünglichen Entwurf Schadows bestanden, das Federvieh auf dem Kranz als Pleitegeier deutscher Geschichte bezeichneten und im Eisernen Kreuz das Symbol des Faschismus sahen, das in den letzten beiden Weltkriegen den Soldaten als Auszeichnung für den imperialistischen Militarismus angesteckt worden sei. Ständig wurden Adler, Eisernes Kreuz und Hakenkreuz in einem Atemzug genannt und damit verbannt.

Danach konnte am 15. September 1958 der Magistrat nicht anders als dem Wunsch der Bevölkerung nachkommen und die Beseitigung der Embleme des preußisch-deutschen Militarismus verkünden. In der Nacht vom 16. zum 17. September löste man die verhassten Symbole vom Eichenkranz „zum Wohlgefallen aller friedliebenden Bürger“ heraus. Nur die weniger friedlichen Schreiber aus dem Westen argwöhnten, sie würden gegen Hammer und Sichel, einen Sowjetstern oder die Friedenstaube ausgetauscht. Auch der Senat empfand die kommunistischen Verbesserungen als absoluten Verstoß gegen die Vereinbarungen, die jedoch vom Magistrat als nie vorhanden zurückgewiesen wurden.

Am 27. September stand endlich die neue Quadriga wieder auf dem Tor, nachdem ihr Aufbau technische Veränderungen erfordert hatte, denn Wagen, Pferde und Göttin hatten im Westen um 55 kg mehr Gewicht angesetzt und waren jetzt auf 6300 kg gekommen.

Das „Mahnmal für das Streben nach Einheit“ wurde offiziell am 30. November 1958 eingeweiht. Der beim Richtfest des Tores im Richtspruch formulierte Wunsch, dass „dahinter die Grenzen fallen, die die Deutschen teilen in Ost und West“, sollte sich alsbald ins Gegenteil verkehren. Eine weitere Metamorphose zur ganz sicheren Abgrenzung hin begann.

7. Das Grenztor (1961-1989)

Der kalte Krieg eskalierte, und Ostdeutschland litt an Auszehrung. Um den Bewohnern des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden die sich ständig steigernde Abstimmung mit den Füßen zu ersparen, - bis 1961 waren es 2 686 942 und allein im Jahr 1961 bis zum 12. August 207 026 „Fuß-Wähler“, - begann unter dem Schutz der NVA und der Berliner   Betriebskampfgruppen am Sonntag, dem 13. August 1961, ab 0.00 Uhr der von Ulbricht schon seit 1953 geforderte und von den Warschauer Paktstaaten endlich gestattete Bau einer „verlässlichen Bewachung und wirksamen Kontrolle“ der Grenze nach Westberlin.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 47

Zuerst wurde der gesamte S- und U-Bahnverkehr unterbrochen, dann markierten Drahtverhaue, spanische Reiter, Betonhindernisse, Panzerfahrzeuge und Soldatenketten den abgesperrten Grenzverlauf nach Westberlin. Die Abriegelung war bewusst knapp jenseits der Demarkationslinie zum sowjetischen Sektor geschehen, um Auseinandersetzungen über Hoheitsgebiete mit den drei westlichen Kontrollmächten zu vermeiden. Deshalb sahen diese keinen Grund, gegen die hermetischen Sperren vorzugehen.

Unter den erst dreizehn, später sieben offenen Kontrollpunkten befand sich auch derjenige am Brandenburger Tor, der nach den am 14. August ‚vorübergehend‘ geschlossen wurde, weil „andauernde Provokationen und Hetzdemonstrationen durch die Vertreter des Westberliner Senats und der Bonner Regierung und unverantwortliche Aufforderungen des SFB und des RIAS, die Grenzen gewaltsam zu verletzen“ einsetzten. Kampfgruppen rückten auf den westlichen Platz vorm Tor, der als Rundung schon immer zum Tor und jetzt zur DDR gehörte, und sicherten ihn mit „beweglichen Pioniermitteln“. Zum Pariser Platz sollten die Tordurchgänge offen bleiben, um die Pioniersperren schnell und wirksam schützen zu können.

Am 8. September 1961 gelang einem Barkas-Kleintransporter am Tor noch ein Durchbruch. Eine effektivere Befestigung war also erforderlich. Am 8. Oktober begann die zweite Generation des Mauerbaus mit Betonsteinen und zweifach gespreiztem Stacheldrahtaufsatz, ab 1975 der mit gegossenen Betonsegmenten in L-Form, auf die oben Betonröhren gelegt wurden, ohne Halt zum Hinüberklettern. Diese schließlich 3,60 m hohe Mauer ging bis zu den Torhäusern, dann schloss sie an eine neue Barriere an. Denn an Stelle der Pioniersperren wurde eine weniger hohe, dafür 4 m breite Mauer errichtet, die als runde Bastion nach Westen jeden Panzerdurchbruch verhindern sollte, aber einen Durchblick noch gestattete.

Das Tor erhielt nun einen besonderen Status; es hieß hinfort militärisches Objekt im Handlungsraum der Grenztruppen der DDR. Auf dem Tor wurde neben der Quadriga ein Schacht ins Dach gebrochen, aus dessen Glaskuppel ein Beobachtungsposten der NVA alle Vorgänge rundum erspähen konnte. Später ersetzte eine Kamera diese gezielte   Feindbeobachtung. Hinter der Quadriga erhob sich seit dem 15. September 1961 als Träger eines neuen Hoheitssymbols eine hohe Fahnenstange. Daran flatterte die schwarzrotgoldene Fahne der DDR mit dem seit 1. Oktober 1959 neuen Staatswappen, dem Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Ihr zu Füßen vor den Torhäusern verkündeten jetzt zwei rote Fahnen den Sozialismus nach Westen hin. Wenig später wehte vom Ostturm des Reichstages die bundesdeutsche Fahne gegen die „Spalterflagge“ an.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 48

Ein „antifaschistischer Schutzwall“ von 111,9 km umzog Westberlin zur DDR hin, teilte die Stadt Berlin in 43,1 km Länge entlang den Sektorengrenzen in zwei Hälften und nahm dem Tor jeden Durchgang. Die Westberliner konnten mit ihren Besuchern von einer eigens für sie errichteten Tribüne durchs Tor in den Osten sehen. Nur Präsident Kennedy nicht, als er am 26. Juni 1963 in der Stadt ‚Berliner‘ wurde und die DDR das Tor mit riesigen roten Planen verhängte. Ihre Staatsbesucher jedoch durften vor die Säulen auf eine Terrasse treten und sich vom Schutz vor dem Westen überzeugen, nachdem sie sich vorn im Informationsbüro kundig gemacht hatten über die gegnerischen Angriffe auf den antiimperialistischen Schutzwall. Ostberliner Passanten schützte man zuerst durch eine Absperrung, seit 1984 durch eine zweite Mauer am Pariser Platz vor dem Blick nach Westen.

Das Tor auf der Demarkationslinie war das bestbewachte Nationaldenkmal der Welt - im Niemandsland. Es wieder zu öffnen und die Mauer niederzureißen, wie es am 12. Juni 1987 vor der Panzersperre der amerikanische Präsident Reagan in seiner Rede lautstark von Gorbatschow gefordert hatte, erlaubten trotz Glasnost und Perestroika weder der Sowjet-   noch der ihm hörige SED-Staat.

Nur die des Militarismus verdächtigen Siegessymbole, der Adler und das Kreuz, hatten inzwischen eine merkwürdige Reise zurück zum Tor angetreten. Beide verbargen sich seit 1958 im Büroschrank des Bevollmächtigten fürs Tor und wanderten 1979 ins Märkische Museum. Das Kreuz wartete ‚vergessen‘ im Keller, der Adler ließ sich als Preußenadler unbekannter Provenienz ausstellen. Zum 750jährigen Stadtjubiläum kehrten die Embleme ins Informationszentrum am Tor zurück, den ausländischen Delegationen als Raritäten der deutschen Geschichte präsentiert. Doch den Wunsch der Denkmalpfleger, dass der Adler mit seinem Kreuz hoch in den leeren Eichenkranz zurückfliegen dürfe, lehnte Chefideologe Kurt Hager, zuständig für die Kultur im Politbüro, 1987 entschieden ab. So trug der gestutzte Adler wenigstens am Fuß des Tores sein Kreuz und wartete geduldig auf seine Stunde, denn Federn wachsen bekanntlich nach.

Mehr als 28 Jahre stand das ‚vorübergehend' geschlossene Brandenburger Tor mitten auf der Nahtstelle der beiden großen Machtblöcke. Doch der oft erschollene Ruf „Macht das Tor auf!“, sogar sichtbar in der von Gerhard Marcks 1967 geschaffenen Bronzestatue „der Rufer“ auf dem Mittelstreifen der Straße des 17. Juni, war fast eine Generation lang unerhört geblieben. Die Mauer, so wollten es ihre Erbauer, sollte die Stadt Berlin auf ewig teilen. Der dahinter verlaufende Todesstreifen verhieß jedem Fluchtwilligen tödliches Verderben. Es herrschte ein Schieß-Befehl, der allein in Berlin 176, an der DDR-Grenze insgesamt 985 Opfer forderte.   - So blieb die deutsche Frage so lange offen, wie das Tor geschlossen blieb.


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8. Das Tor der Einheit (1989 - 1991)

Als verkrustete Politstrukturen und wirtschaftliche Ohnmacht im Wettrüsten den Sowjetstaat wanken ließen, als ungeahnte Flüchtlingsströme durch Ungarn und in bundesdeutsche Botschaften einsetzten, als die evangelische Kirche Montagsdemonstrationen ermöglichte und als Massenproteste, gestützt auf Gorbatschows Spruch vom Zuspätkommenden, den das Leben bestrafe, eine Kraftprobe mit dem SED-Machtapparat suchten, musste dieser Konsequenzen ziehen. Als am Abend des 9. November 1989 der Medienbeauftragte Günter Schabowski in einer Pressekonferenz eher beiläufig mitteilte, Privatreisen ins Ausland könnten ohne Voraussetzungen beantragt werden und Riccardo Ehrman, der italienische Korrespondent der ANSA nachfragte, ob das bedeute, dass jeder DDR-Bürger frei in den Westen reisen könne, was Schabowski schließlich mit „sofort“ bestätigte, begaben sich in der kommenden Nacht unzählige Ost-Berliner an die Grenze nach Westberlin und   - drückten die Mauer ein.

Der Jubel war riesig. Im überschwemmten Westberlin umarmten sich unter Tränen Tausende. Westliche Jugendliche von nah und fern erfanden nie gekannte Formen, ihre Freude auszudrücken: das „Trabiklatschen“ und das Besetzen der Mauer. Bevorzugter Ort ihrer Euphorie blieb die Mauer ums Brandenburger Tor, auf der man einfach stand oder auf den Röhren rittlings saß, während unten an der Westberliner Seite die „Mauerspechte“ mit Hammer und Meißel langsam die Betonwände zerlegten.

Während überall wieder geöffnete Durchgänge trotz Kontrollen einen Verkehr von Ost nach West erlaubten, blieb das Brandenburger Tor vorerst geschlossen. Davor jedoch warteten schon seit Wochen Fernsehteams aus vielen Ländern, um der Welt die symbolische Öffnung dieser Nahtstelle zwischen Ost und West zu dokumentieren. Seltsamerweise flog auch die oft beschworene Friedenstaube Picassos herbei, aber von Westen. Auf einem riesigen Ballon einer Ballonschule aus Baden-Baden erhob sie sich am 20. Dezember 1989 in die Lüfte und wartete. Endlich in der Nacht vor dem 22. Dezember 1989 hob ein Kran unter dem Surren der Kameras und dem Jubel der trotz strömenden Regens ausharrenden Schaulustigen das erste Betonsegment hoch. Beidseitig des Tores wurden zwei Übergänge von je 6 m Breite geschaffen. Aus Angst vor Schäden hatte man nämlich das Tor selbst nicht geöffnet. Vom Pariser Platz rief am Nachmittag der Regierende Bürgermeister Momper die schöne Aufforderung: „Berlin, nun freue dich!“   Das Tor, nicht mehr Schnittstelle, sondern Klammer zwischen den so lang getrennten Stadthälften, war tagelang die Mitte eines Volksfestes.


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Es freuten sich nicht nur Deutsche, sondern Freudenbotschaften und Glückwünsche kamen aus der ganzen Welt. Der Cellist Rostropowitsch, 1978 aus Russland ausgebürgert, kam aus Paris und spielte ergriffen Bachs Musik vor der Mauer. Das japanische Fernsehen hatte in einer Dreistundensendung, - das erste Mal während seines Bestehens ohne Reklame - den Fall der Mauer und die Öffnung des Tores dokumentiert und so viel Begeisterung geweckt, dass die Bevölkerung spontan der Stadt Berlin weit über hundert japanische Kirschbäume schenkte, die noch heute an mehreren Stellen im ehemaligen Todesstreifen grünen und blühen.

Natürlich musste die Silvesterparty 1989 am Tor stattfinden. Hundertausende aus aller Welt strömten herbei. Der Jubel schlug hohe Wellen. Alkohol und Feuerwerk taten ein Übriges, um Bergsteigersehnsüchte zu wecken. Leichtsinnige Jugendliche kletterten an den Blitzableitern und Regenfallrohren hoch auf das nördliche Torhaus, drückten die Tür zum Dach ein, bestiegen die Pferde, standen im Wagen der Viktoria oder hängten sich in den leeren Eichenkranz. Quer über die ganze Attika hatte ein Franzose in großen Lettern seine Losung gesprayt: „Vive L'Anarchie“. Diese herrschte unten und oben die ganze Nacht hindurch: Ein Toter und 271 Verletzte waren die Bilanz vorm Tor.

Ein Glück, dass oben auf dem Tor niemand von den vielen Verwegenen zu Schaden kam; aber derjenige der Quadriga war immens. Die Kupferhaut des Daches war durch Tritte brüchig und übersät mit Scherben, die Pferdeleiber zeigten zahlreiche eingeritzte Namen und   Einbeulungen durch Hiebe mit Sektflaschen, Zaumzeug und Zügel waren zerstört, der linke Arm der Viktoria angebrochen, ihr Lorbeerkranz auf dem Kopf war ebenso entblättert wie der Eichenkranz auf der Stange. Ansonsten war das Tor samt den aufgebrochenen Torhäusern mit allen Spuren des Vandalismus, vor allem Glasscherben und Grafitti übersät: Eine böse und kostspielige Silvesterüberraschung.

Die Öffentlichkeit reagierte entsetzt. Doch der seit Anfang 1990 in den Medien gesendete Spendenaufruf hatte schließlich am Ende des Jahres 400 000 DM für die Reparaturkosten zusammen. Die Firma Mannesmann finanzierte die komplette Renovierung der Quadriga im Museum für Verkehr und Technik, sobald der „Export von einem Staat in den anderen“ genehmigt war. Am 22. März 1990 kam der Fahnenmast – für immer - wieder nach unten, am folgenden Tag die Quadriga, eskortiert auf ihrer Fahrt ins Museum von Denkmalpflegern, Polizei und Kamerateams. Eine genaue Inspektion erforderte eine sehr gründliche, d.h. langwierige Restaurierung. Im August folgten Adler und Kreuz weniger auffällig nach, weil seit Dezember 1989 schon wieder ein ideologischer Streit um sie aufgeflammt war. Doch setzte sich dessen ungeachtet Anfang 1991 der Adler nach über 32 Jahren wieder auf seinen angestammten Platz, den Eichenkranz mit Eisernem Kreuz in seinen Fängen haltend.


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Inzwischen zerbrach man sich auch den Kopf über einen neuen Farbton des Tores, das seit seiner Erbauung sechs verschiedene Farbschattierungen von Marmorweiß (1791), Ocker (1808, als café au lait verspottet), Sandsteinfarbe (1816), Dunkelgrau (1840), Hellgrau (1867/8) und Sandsteinfarbe (1909) getragen hatte, nur übertrumpft von der Attika, die zusätzlich sogar 1897 bronzen und ein Jahr später golden erstrahlte. Probeanstriche wurden vorgenommen, bis ein dunklerer, sandiger Putzton gefiel, welcher der natürlichen Farbe des Sandsteins glich. Daneben wurden nächtliche Beleuchtungsproben durch eine Sponsorfirma vorgenommen, bis man sich mit der Denkmalpflege zu einem Kompromiss durchrang, der erst verbessert werden könnte, wenn das Tor wieder in eine Platzumbauung eingebunden sei.

Nachdem die Leipziger „Wir sind ein Volk“ gerufen und eine Wiedervereinigung gefordert hatten, der 90% der Bevölkerung und auch die letztgewählte Volkskammer zustimmten, löste sich die DDR freiwillig auf. Am 3. Oktober 1990 verlor das inzwischen fast vollständig restaurierte Tor mit der Wiedervereinigung endgültig seinen Status als Grenztor. Es wurde mit einer schlichten Feier vor dem Reichstag, aber einem grandiosen Feuerwerk für alle aus Ost und West Herbeigeströmten zum Symbol der endlich nach 45 Jahren wiedergewonnenen deutschen Verbrüderung. Der Überschwang hielt sich in Grenzen, die Stimmung blieb freudig ernsthaft bis sinnend gerührt, die im Museum weilende Quadriga vom Vandalismus verschont und der Säulenglanz wegen des kurz zuvor angebrachten Grafittischutzes nahezu ungetrübt.

Als am 6. August 1991 die Zweihundertjahrfeier des Tores begangen und Meyerbeers Oper „Das Brandenburger Tor“ endlich uraufgeführt wurde, stand seit dem 15. Juli 1991 die Quadriga wieder auf ihrem angestammten Platz. Touristen ihr zu Füßen verbanden den Besuch des Nationaldenkmales mit dem Souvenirkauf. Auf dem Pariser Platz wurden Embleme der NVA, Militaria aller Art, farbige Mauerteile, Stacheldrahtreste und vieles mehr, merkwürdigerweise sich ständig erneuernd, feilgeboten: der Ausverkauf eines Staates, der sich aufgelöst hatte.

9. Das Vielzwecktor (ab 1991)

In den folgenden Jahren wurde relativ zügig die Bebauung des Pariser Platzes angegangen. Nach dem früheren Aussehen der zerstörten Bauten ergingen Vorgaben für ein einheitliches Bild. Auch die Blumenbeete und Brunnen entstanden wieder. Den ursprünglichen Plan, das Tor doch frei stehen zu lassen, verwarf man mit dem Argument, es sei immer ein Durchgang und nie ein Triumphbogen gewesen. Immerhin ist seit der 1958 erfolgten ganzseitigen Umbauung der Seitenflügel mit Säulen (s.o.) ein kleiner, für die Optik aber wohltuender Zwischenraum zu den nächsten Häusern wahrzunehmen. Der Verkehr jedoch, ein seit Jahrzehnten diskutiertes Problem, wurde rechts und links ums Tor herum geleitet. Der Pariser Platz ist nämlich hinfort als ein ruhiger Ort für Fußgänger gedacht; alles soll dem Eindruck einer würdigen Stätte dienen. Deshalb ist auch aller Handel rund ums Tor verboten. Dank einer Spende einer Bonner Gärtnerei wurden wieder Linden bis zum Platz gepflanzt. Der Plan gelang, das Brandenburger Tor ist Publikumsmagnet Nummer Eins in Berlin. Davor unzählige Erinnerungsfotos zu knipsen, ist jetzt ein Dokumentationsbedürfnis aller Besucher.


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Die Aufgaben des Tores sind jedoch wesentlich vielseitiger geworden. Zwar bleibt es immer noch deutsches Repräsentationssymbol, weil weiterhin wichtige Persönlichkeiten und hohe Staatsgäste dorthin geführt werden, so u.a. als dritter amerikanischer Präsident am 12. Juli 1994 Bill Clinton. Als politische Aufmarschkulisse vereinnahmen auch gerne alle Demonstrationen, egal welchen Anlasses, das Tor. Ein Aufbegehren davor wird sogleich ein gesamtdeutscher Protest.

Nationale Finanzbelange ergriffen das Tor ebenso, denn es wurde zu Geld gemacht, indem es sich zwischen Eichenlaub und Adler der DM drängte und seit der Einführung des Euro am 1. Januar 2002 auf den Rückseiten der 10-, 20- und 50 Centmünzen Deutschlands prangt. Auf Briefmarken führt es ja schon lange ein Dasein als Beförderungsentgelt und Sammelobjekt.

Selbst anfällig für Grafitti dient das Brandenburger Tor im Verein mit anderen Berliner Bauten der Berliner S-Bahn als Grafittischutz. Ein graues Muster aus Symbolen berühmter Bauwerke überzieht die weißen Wände und Decken der S-Bahnwagen gegen den Dauerreiz auf männliche Jugendliche, jede farblose Fläche sogleich mit ihrem ‚tag' zu bekrakeln. Auch eine Vielzahl von echten Künstlern gebraucht das Tor als Vorlage zu immer neuen, oft lustig verfremdeten Ideen.

Neben Nationalkulisse, Protest- und Präventivtor, Geld- und Kunstobjekt dient es inzwischen auch als Sporttor. Massensportveranstaltungen werden vors Tor gelegt und zu internationalen Ereignissen, wenn z. B. der Marathonlauf dort beginnt und unter größtem Medieninteresse Skater, Rollstuhlfahrer und Läufer starten. Ein riesiger Fußball, besteig- und von innen bestaunbar, machte zeitweise für die Fußballweltmeisterschaft Werbung, ehe er nach der Weihe durch das Tor in andere Städte der Austragung entschwebte.

Seine vorläufig letzte Metamorphose ist die zum Reklametor. Es hebt den Verkaufswert jeden Artikels und jeder Firma nach oben. Das Tor als Marke oder Signet für vielfältig einsetzbare Vermarktungsinteressen ist jetzt „in“. Es wird Unter den Linden entlang als Souvenir auf Tüchern, Taschen, Tellern, Tassen, Kartenspielen, Postkarten, Büchern, als Modell von groß bis klein, kurzum auf allem möglichen Kitsch, oft zusammen mit Bären als Berlins Symboltier, vermarktet, - natürlich schon lange auch auf dem Edelporzellan der KPM.

Beim Preisausschreiben für ein neues Logo Berlins wurde das Tor, von einem Studenten mit schwarzem Filzstift flapsig hingehauen, gegen alle exakt ausgeführten Entwürfe Sieger. Ein weiteres Logo macht aus den sechs Buchstaben des Wortes BERLIN die sechs Querwände des Brandenburger Tores, oben drüber liegt die Attika mit der Quadriga.


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Zudem wird jedes in Berlin stattfindende Ereignis vor dem Tor zum Event. Das Tor gewann sogar beim Wettbewerb um die größte Party der Welt, zu der am 31. Dezember 2003 mehr als 800 000 Silvestergäste strömten: ein Megaevent.

Den neuen Berliner Trend, an bedeutende Bauten geradezu riesige Reklametransparente zu heften, wofür die dahinter Beschatteten dann Geld erhalten, eröffnete die Telekom. Zwei Jahre lang, von 2001 bis 2003, verhängte sie das Brandenburger Tor, während sich dahinter eine tiefgründige Sanierung der Fundamente vollzog. Die einfallsreichen Metamorphosen der auf die Stoffe gemalten Säulen erheiterten das Publikum. Das restaurierte Tor erstrahlt nun in neuem, hoffentlich dauerhafteren Glanz und ist dank der Telekom jetzt besonders telegen.


Dr. Barbara Demandt
Beerenstraße 28 A
14163 Berlin



Literaturverzeichnis
Arenhövel, Willmuth: Das Brandenburger Tor 1791 – 1991. Eine Monographie, Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstforum der Grundkreditbank, Berlin 1991
Cullen, Michael S.: Das Brandenburger Tor, Berlin Edition 1998
Cullen, Michael S./ Kieling Uwe: Das Brandenburger Tor, ein deutsches Symbol, Berlin Edition 1999
Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler Berlin, Deutscher Kunstverlag 2000
Krenzlin, Ulrike: Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, Verlag für Bauwesen 1991
Schmidt, Brigitte: Das Brandenburger Tor, Berlin Information 1990

Fotos des Brandenburger Tores: Dr. Stefan Kipf