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Uwe Dubielzig

Eine Metamorphose des Lateinunterrichts

 

Vorbemerkung

Vorbemerkung: Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines kurzen Vortrages, der am 6. Juli 1990 auf dem Pratum Monacense liberum, einer Veranstaltung des Instituts für Klassische Philologie der Universität München, gehalten wurde. Die ursprüngliche Fassung ist in der maschinenschriftlich vervielfältigten Broschüre Florilegium Prati. Blütchen und Früchtchen vom ‘Pratum Monacense Liberum’ des Seminares für Klassische Philologie der Universität München, 6. Juli 1990, München 1991, S. 4–9 einer eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden (vgl. A. Müller / M. Schauer, Bibliographie für den Lateinunterricht: Clavis Didactica Latina, Bamberg 1994, S. 83, Nr. 1184). Für die Aufnahme des Vortrages in das Programm der damaligen Veranstaltung, die unter dem Leitbegriff der ‘Metamorphose’ stand, danke ich ihrem Initiator und Moderator, Herrn Professor Dr. Werner Suerbaum, München, für die Vermittelung dieser Veröffentlichung Herrn Dr. Walter Eykmann, MdL, Würzburg, und Frau Dr. Margit Weber, Töging am Inn.

Als ich in München das Studium der Klassischen Philologie begann, gab mir ein Kommilitone, der in denselben Fächern gerade das Erste Staatsexamen abgelegt hatte, neben manchen nützlichen Ratschlägen auch den nicht gerade ermutigenden Hinweis, dass ich dereinst selbst als examinierter Philologe nicht erwarten dürfe, Latein wirklich, also im Sinne einer richtigen ‘Sprache’, zu ‘können’: der fertig ausgebildete Latinist habe mir dem fertig ausgebildeten Anglisten jedenfalls das gemeinsam, dass auch er einen englischen Text immer noch besser verstehe als einen lateinischen. Und in der Tat: die Prophezeiung ist auch an mir in Erfüllung gegangen. Gewiss könnte ich den Umstand, dass ich zwar das Glück hatte, ein Studienjahr in Oxford zu verbringen, während mir keine Institution der Welt einen Aufenthalt im Alten Rom hätte vermitteln können, in meinem Falle als vordergründige Erklärung dafür angeben – doch so einfach ist die Sache natürlich nicht. Liegt es also etwa am Unterricht in Schule und Hochschule, wenn die Fremdsprache Latein eine ‘fremde Sprache’ bleibt, wenn sie nicht so recht ‘unter die Haut’ oder gar ‘von der Zunge’ gehen will? Daran mag etwas Richtiges sein; allein der Kern der Sache ist meines Erachtens nicht in Personen oder Institutionen, sondern in einer Methode und der sich in ihr spiegelnden Einstellung zum Lehrgegenstand zu suchen.

Was ich damit meine, möchte ich am Beispiel zweier Latein lernender Knaben, die später sehr berühmt werden sollten, zeigen. Voneinander trennt sie rund ein Jahrhundert, den jüngeren von uns eine um die Hälfte längere Zeitspanne. Beide entstammten wohlhabenden Familien, beide genossen häuslichen Unterricht; zu der Zeit, zu der wir sie gleich kennenlernen werden, haben sie sich die Grundkenntnisse der lateinischen Sprache bereits angeeignet.

I

Der eine der beiden Knaben sitzt an einem Januartag des Jahres 1757 an seinem Schreibtischchen in der elterlichen Wohnung in Frankfurt am Main. Er ist sieben Jahre alt und heißt Johann Wolfgang: natürlich, der kleine Goethe. Das Heft, in das er gerade seine exercitia privata schreibt, hat er später für die Nachwelt aufgehoben, und so wissen wir genau, die Fehler eingeschlossen, mit welchen Übungsstückchen er seine Lateinkenntnisse erweitert. Ein Beispiel:


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Wenn es regnet fallen die Tropfen ins Wasser und machen viele Blasen, aus welchen Schaum wird. Das gefrorne Wasser nennen wir Eis, und den gefro<r>nen Tau nennen wir Reif, und den gefrornen Reif oder Regen, Glatt-Eis.

Man möchte meinen, die Sätze seien einem Natur- oder Sachkunde-Büchlein der Elementarschule entnommen. Aber es handelt sich – jedenfalls auch – um einen Übungstext für das Lateinische, denn Wolfgang schreibt in die daneben frei gelassene Spalte des Blattes:

Si pluit incidunt guttae in aquam et faciunt multas bullas ex quibus spuma fit. Aquam congelatam dicimus glaciem et congelatam (sic!) rorem dicimus pruinam et pruinam s<ive> pluviam gelatam, pruinosam glaciem.

Mit der bloßen Aufzählung von Dingen ist es aber nicht getan: Stets regt der gute Lehrer den Schüler zum Mit- und Weiterdenken an. Und so macht sich Wolfgang denn an ein weiteres exercitium:

Was die Schwere der Metalle anlangt so folgen sie aufeinander in dieser Ordnung: als, Erstlich das Gold ist das aller schwerste hiernächst folget, das Blei, denn, das Silber, ferner das Zinn, weiter der Stahl, das Eisen, das Messing und zuletzt das Blech. Und ohngeachtet dieser Ordnung ist ein Pfund Gold so schwer als ein Pfund Blech.

Wir alle kennen die alte Scherzfrage ‘Was ist schwerer: ein Pfund Federn oder ein Pfund Blei?’ Aber könnten wir alle auch all die Metallnamen auf Lateinisch angeben? Wolfgang kann es:

Quod ad gravitatem metallorum attinet, sequuntur se invicem, hoc ordine: utpote, primo, Aurum quod est gravissimum, deinde sequitur, plumbum, tum argentum porro stannum, tunc chalybs, ferrum, orichalcum, et demum lamina. Non obstante hoc ordine pondo auri tam grave est quam pondo laminae.


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Das war ein Ausflug in die Anfangsgründe der Physik. Ähnlich knappe Texte über sein eigenes tägliches Leben – das morgendliche Aufstehen etwa, das Waschen und Kämmen und das Morgengebet – hat sich Wolfgang schon ein paar Tage oder Wochen zuvor zu eigen gemacht. Einen dritten und letzten Blick wollen wir noch auf eine – hier etwas gekürzte – Geographie-Lektion werfen. Sie zeigt, wie ein solcher lateinischer Sachkunde-Unterricht durchaus mit Scherzen gewürzt sein kann, wenn es auch eher altkluge Frankfurter Erwachsenen-Witze sind, die der Lehrer da wohl eher zur eigenen Erheiterung dem kleinen Wolfgang in die Feder diktiert hat. Da man über solche Witzeleien nicht zu lachen braucht, sei es gestattet, diesmal ausnahmsweise mit der lateinischen Fassung zu beginnen:

Acceperunt multae urbes provinciae et populi singularia epitheta: hoc pacto Roma nuncupata <sancta>, Florentia pulchra, [...] Bologna (sic!) opima […]. Inter provincias dicitur Arabia felix […], […] Mauritania sicca, Helvetia montosa […]. A (sic!) nationibus autem appellantur. Persa superstitiosus. Hottentottae carnem humanam devorantes. Hassi caeci. Thurringi nasi halecini.

Es haben viele Städte Landschaften und Völker besondere Beiwörter erhalten: als Roma die heilige, […] Florentz die schöne, […] Bologna die fette […]. Unter den Landschaften sind: Das glückliche Arabien […], […] das trockne Mauritanien die bergigte Schweitz […]. Von den Nationen aber, werden genennet: Die aberglaubige Perser. Die menschen-Fleisch fressende Hottentotten, die blinde Hessen. Die Thüringische Herings-Nasen.

II

Verlassen wir nun diese Studierstube und wagen einen Sprung durch Raum und Zeit: aus dem Jahre 1757 in das Jahr 1858, aus Frankfurt am Main nach Markowitz in der damaligen preußischen Provinz Posen, von dem siebenjährigen Wolfgang zu einem bereits neunjährigen Ulrich. Ob dieser später, als er der große Professor von Wilamowitz-Moellendorff geworden war, seine lateinischen Schulhefte ebenfalls aufbewahrt hat, wissen wir nicht; in seinen rund ein Vierteljahr vor seinem achtzigsten Geburtstag abgeschlossenen Erinnerungen gestattet uns aber auch er einen Blick in seine häusliche Schulstube. So erfahren wir:

Ernst ward es mit den Schulfächern […], als der Kandidat der Theologie ins Haus kam, der die Vorbereitung auf die Tertia durchgeführt hat und angestrengte regelmäßige Arbeit forderte. Latein konnte er gut und paukte die Grammatik, wie sich gehört. 25 Vokabeln mussten täglich gelernt werden und dann festsitzen. Die moderne Schlappheit wird das entsetzlich finden, und es kamen doch die französischen Vokabeln dazu. Da war


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das Vokabularium töricht geordnet, z. B. alle Namen der Fische hintereinander, dann die Bäume usw. Das verwirrte und nur wenig davon haftete. Das Lateinische dagegen stellte die Komposita zum Stammverbum, verwandte Nomina schlossen sich an: das begriff sich und führte von selbst in den Bau der Sprache hinein. Die alten überladenen Genusregeln mussten gelernt werden, die ganz Reihe der Maskulina auf is bis penis, pollis, mugilis, wobei die Erklärung stand: mugilis ein Fisch, pollis eine Sorte Mehl; zu penis stand keine und ward ergänzt "eine andere Sorte Mehl". Mugil erschien dann noch unter den Ausnahmen. Natürlich übersetzte man dann Fisch gelegentlich mit mugil und kam sich dabei gelehrt vor, vermeinte aber, dass die Römer Hecht und Karpfen und Forelle nicht unterschieden hätten, geschweige die Menge französischer Fische, bei denen man sich gar nichts denken konnte.

Wilamowitz wäre nicht Wilamowitz geworden, wenn er dieses Verfahren nicht noch als Greis als "im ganzen doch nur heilsamen Pedantismus" bezeichnet hätte.

III

Aber nicht um die persönliche Einstellung Wilamowitzens soll es hier gehen. Vielmehr geht es um Weg und Ziel des jeweiligen Lateinunterrichts, und genau dazu hat uns Wilamowitz soeben das Stichwort gegeben: Ziel des ihm erteilten Unterrichtes war es, "den Bau der Sprache" erkennen zu lassen, Ziel des Goethe gebotenen Unterrichtes dagegen offenbar, in und mit der Sprache – man verzeihe die plakative Wendung – ‘den Bau der Welt’ ordnend und verstehend betrachten zu lehren. Und in der Tat sprechen die ausgewählten Texte der beiden Großen eine so deutliche Sprache, dass sich ihre Aussagen ohne weiteres miteinander vergleichen können: Im 18. Jahrhundert wurde die Sprache noch als Mittel zu Zwecken gelehrt, im 19. Jahrhundert hatte sie ihren angestammten Platz unter den Mitteln gegen einen in der Reihe der Zwecke – heute würde man eher sagen: der Ziele – vertauscht. Das heißt, dass die Sprache noch in der Schule des 18. Jahrhunderts in ihrer natürlichen Verwendung, im Lebenszusammenhang also, belassen war, während sie im Bildungsprogramm des 19. Jahrhunderts eine neue, künstliche Funktion erhalten hatte. Anders, krasser ausgedrückt: Der Schüler des 18. Jahrhunderts hat die Sprache, sachgerecht, als einen lebenden Organismus erfahren, der des 19. Jahrhunderts hat sie, sachwidrig, auf dem Seziertisch liegen sehen. Um den Unterschied an einem Beispiel besonders deutlich zu machen: Da Sprache nun einmal von der Assoziation, der unwillkürlichen Verknüpfung, von Laut- und Vorstellungsgebilden lebt – welche spontane Assoziation wird uns beim Hören oder Lesen des Wortes puppis kommen: die des ‘wuchtigen Aufbaues des Heckes eines hölzernen Segel- und Ruderschiffes, das stolz über die blauen Wogen des sonnenbeschienenen Mittelmeeres dahingleitet’, oder die des ‘reinen i-Stammes: aufgepasst im Akkusativ und Ablativ Singular und im Genitiv Plural’?


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Lassen wir es mit dieser überspitzten Frage sein Bewenden haben. Gewiss wäre vor einer ernsthaften – historischen wie systematischen – Erörterung der hier nur mit zwei Schlaglichtern erhellten Metamorphose des Lateinunterrichts noch manche Vorfrage zu klären. Wie steht es etwa um den Erfolg der beiden gegensätzlichen Lehrmethoden? Immerhin ist weder der kleine Wolfgang noch der kleine Ulrich später als großer Latinist in die Geistesgeschichte eingegangen; aber freilich ist weder der eine noch der andere als Durchschnitts-Repräsentant seiner Zeit zu fassen. Und wie steht es mit den heutigen Zielen und Methoden? Wenn ich recht sehe, zielen zeitgenössische Lehrplan- und Lehrbuch-Verfasser weder auf den Bau der Sprache noch auf den Bau der Welt, sondern vor allem darauf ab, auf der Grundlage statistischer Erhebungen über die Häufigkeit von Wörtern und syntaktischen Erscheinungen das Verständnis nach inhaltlichen Kriterien gebildeter Lektüre-Kanones zu vermitteln.

Aber für die Beantwortung dieser und anderer Vorfragen ist hier nicht der Ort und nicht die Zeit. Nur eine Folgerung, ein Ausblick sei gestattet: Latein als Sprache zu lehren heißt also, die Wörter und Wendungen des Lateinischen in der Vorstellung der Lernenden nicht primär (etymologisch) miteinander – und ebensowenig (semantisch) mit ihren deutschen Entsprechungen –, sondern (‘pragmatisch’, wenn man so will) unmittelbar mit den Dingen und Verhältnissen der Welt zu verknüpfen: gerade auch dann, wenn der Lateinunterricht, wie heutzutage, in erster Linie die in der lateinischen Literatur beschlossenen Werte vermitteln soll. Ich schließe damit, dass ich auf das eingangs erwähnte Unbehagen des Studenten der Klassischen Philologie zurückkomme: Könnte es nach alledem vielleicht sein, dass der Grund dafür, dass die Fremdsprache Latein so hartnäckig eine ‘fremde Sprache’ bleibt, nicht etwa darin liegt, dass sie uns nun einmal ‘fremd’ ist, sondern darin, dass wir ihr in Schule, Studium und Beruf nicht mehr erlauben, schlicht eine ‘Sprache’ zu sein?

 

Literatur: (I) Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. K. Richter […]. Band 1.1: Der junge Goethe 1757–1775. Hg. v. G. Sauder, München 1985, S. 9 ("Si pluit …"/"Wenn es regnet …"), 12 ("Acceperunt …"/"Es haben …"), 13f ("Quod ad gravitatem …"/"Was die Schwere …"). – (II) U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848–1914, Leipzig [1928], S. 60; 2. Aufl. ebd. [1929], S. 60f ("Ernst ward es …", "im ganzen …").

Uwe Dubielzig, München