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Pegasus 1/ 2003, 15

Martin Holtermann

Catull, Sappho und Kallimachos. Intertextuelle Interpretation im lateinischen Lektüreunterricht

Martin Holtermann zeigt in seinem Beitrag neue Wege der Catull-Lektüre auf. Zunächst gibt er einen kritischen Überblick über die gegenwärtige Situation der Catull-Lektüre in der Schule, um dann konkrete Vorschläge zu einer intertextuell ausgerichteten Catull-Lektüre zu machen und den Dichter nicht in einseitiger Weise als bloßen Affektlyriker erscheinen zu lassen. Hierbei geht Holtermann auf c. 51 und die griechische Vorlage von Sappho (frg. 31) ein, konzentriert sich danach aber auf einen intensiven Vergleich von c. 70 und Epigramm 25 von Kallimachos. Abschließend soll durch einen Vergleich der intertextuellen Verfahren Catulls Intertextualität selber zum Unterrichtsgegenstand werden.

 

Hinweis: Um die in diesem Text verwendeten griechischen Typen auf Ihrem Bildschirm lesen zu können, laden Sie sich bitte die Schrift Athenian unter folgender URL: Athenian

 

1. Aspekte der Lektüre Catulls im heutigen Lektüreunterricht

2. Intertextualität im Rahmen der Catull-Lektüre

2.1 Catull c. 51

2.2 Catull c. 5 und 7

2.3 Catull c. 70 und Kallimachos epigr. 25 – ein Vergleich

2.4 Intertextuelle Verfahren Catulls im Vergleich

 

 

1. Aspekte der Lektüre Catulls im heutigen Lektüreunterricht

BALD heads forgetful of their sins,

Old, learned, respectable bald heads

Edit and annotate the lines

That young men, tossing on their beds,

Rhymed out in love’s despair

To flatter beauty’s ignorant ear.

 

All shuffle there; all cough in ink;

All wear the carpet with their shoes;

All think what other people think;

All know the man their neighbour knows.

Lord, what would they say

Did their Catullus walk that way?

 

In seinem Gedicht "The Scholars"1 setzt W.B. Yeats die vorgeblich lebensfernen philologischen Praktiken des Edierens und Kommentierens von Texten in Kontrast zu der lebendigen Produktion von Liebeslyrik im Stile Catulls. Während Yeats' Philologen-Kritik weder zum Zeitpunkt ihres Erscheinens neu war noch auch ihrer Tendenz nach wohl jemals aussterben wird, hat sich die Rezeptionssituation Catulls seitdem drastisch verändert. Zwar ist gerade auch für Catull auf Seite der Editionen und Kommentare viel getan worden, doch die wesentlichen Veränderungen haben sich zunächst außerhalb der (universitären) Philologie vollzogen.

Es war vor allem die Beziehung Catulls zu seiner Geliebten Lesbia, die die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich gezogen und damit Catulls Gedichten viele neue, dezidiert nicht-philologische Leser gewonnen hat. Aus seinen carmina rekonstruierte man eine unglücklich endende Liebesgeschichte, die auch in Romane Eingang fand (am bekanntesten: Thornton Wilders The Ides of March, 1948) und als szenisches Spiel vertont wurde (Carl Orff, Catulli Carmina, zuerst 1930/31).


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Auch in der Philologie fehlte es nicht an Versuchen, den Ablauf dieses ‚Catull-Lesbia-Romans‘ zu rekonstruieren; zugrunde lag die Vorstellung, Catulls Gedichte seien spontaner Ausdruck spezifischer Erlebnissituationen. Von diesem hermeneutischen Zugang hat sich die Fachphilologie mehr und mehr entfernt; das Interesse richtet sich zunehmend darauf, wie Catulls carmina als fiktionale Literatur, nicht als biographische Zeugnisse zu verstehen seien.2

Doch die wohl erstaunlichste Karriere hat Catull als Schulautor gemacht. Während Otto Weinreich 1960 noch feststellen konnte, dass Catull "in den Lehrplänen humanistischer Gymnasien nur spärlich bedacht wird",3 hat er heute einen festen Platz nicht nur in den Curricula, sondern auch in der Unterrichtswirklichkeit. Man gewinnt beinahe den Eindruck, Catull sei zu einer Art ‚Lieblingsautor‘ der Lateinlehrer, vielleicht auch der Lateinschüler geworden. Angesichts seiner breiten schulischen Rezeption ist es wahrlich nicht übertrieben, von einer neu angebrochenen Aetas Catulliana zu sprechen. Wahrscheinlich beugen sich mehr Köpfe junger Schüler als alte, kahle Philologen über Catulls Gedichte.

Die Gründe für diese Beliebtheit sind vielfältig. Neben der verhältnismäßig einfachen Sprache und der bequem überschaubaren Kürze der meisten seiner Gedichte ist es gewiss die geänderte Einstellung zu Liebe, Erotik und Sexualität, die Catull den Weg in die Schule gebahnt hat. In heutiger Zeit werden Catulls Gedichte über sich und Lesbia als besonders altersgemäß für Schülerinnen und Schüler ab der ausgehenden Mittelstufe empfunden.4 Der Kranz der Lesbia-Gedichte steht deshalb im Mittelpunkt der Catull-Lektüre, wie sich an den zahlreichen Schulausgaben ablesen lässt. Dort wird auch programmatisch der Nachvollzug von Catulls Gefühlserlebnissen und deren dichterischem Ausdruck zum affektiven Lernziel erhoben.5 In der schulischen Rezeption wird daher, so unterschiedlich die einzelnen Ausprägungen dieser Schwerpunktsetzung sein mögen, im ganzen an dem biographistischen Zugang zu Catulls ‚Erlebnisdichtung‘, den die zünftige Philologie weitgehend aufgegeben hat, festgehalten.

Gegen vereinzelte kritische Stimmen auch der Fachdidaktik gilt es aber zu betonen, dass ein solcher Zugang, für den einzelne Gedichte ausgewählt und ohne Rücksicht auf ihre Position im Gedichtbuch zu einer vermeintlich schlüssigen chronologischen Abfolge geordnet werden, nicht nur legitim, sondern im Sinne einer didaktischen Reduktion auch sinnvoll ist – wenn er denn mit Bewusstsein geschieht. Denn die thematische Konzentration, die für ein zusammenschauendes und vergleichendes Lesen der Gedichte notwendig ist, lässt sich am einfachsten durch die Konzentration auf die beiden Gestalten Lesbia und Catull erreichen; warum dann nicht in einer zwar hypothetischen, aber doch leicht nachvollziehbaren Rekonstruktion ihrer Liebesbeziehung? Die Schüler sollen sich ein Bild von Catull und Lesbia machen – und dann erkennen, dass auch Catull nur ein Bild von sich und Lesbia entwirft, das eine poetische Konstruktion ist.6


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So wird der umsichtige Lateinlehrer es bei dem Liebesroman nicht belassen. Möglicherweise wird er dazu sogar von seinen Schülern gedrängt, wenn deren allzu häufig klischeehaften Erwartungen an romantische Liebesdichtung von Catulls Gedichten nicht eingelöst werden. Um über das Verhältnis von realem Autor, lyrischem Ich und der konstruierten Figur der verführerisch-gefährlichen Geliebten zu reflektieren, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an:

  • die Beobachtung, dass die Gedichte innerhalb des Gedichtbuches gerade nicht in der hypothetischen Abfolge des Liebesverhältnisses zwischen Catull und Lesbia angeordnet sind, dass thematisch zusammengehörige Gedichte wie c. 5 und 7 häufig durch ein anderes getrennt sind

  • die antiken und neuzeitlichen Versuche, Lesbia mit einer historischen Person zu identifizieren

  • Vergleiche mit anderen prominenten Frauen-Darstellungen dieser Zeit, die eine klare Stilisierung, nicht nur zu rhetorischen Zwecken, verraten (Sallusts Sempronia, Ciceros Clodia)7

2. Intertextualität im Rahmen der Catull-Lektüre

Ein charakteristisches Mittel Catulls, mit dem er sich als Verliebten und Lesbia als Geliebte poetisch konstruiert, ist der Bezug auf Texte früherer Dichter.
Während man das Verhältnis Catulls zu anderen Dichtern, z.B. zu Sappho, Kallimachos und den Neoterikern, im Unterricht meist abstrakt (als Bestimmung seines literaturgeschichtlichen Standpunktes)8 oder anhand des Prologgedichtes und den zahlreichen explizit poetologischen Gedichten thematisiert hat,9 soll hier dafür plädiert werden, den intertextuellen Hintergrund auch schon bei der Lektüre der Lesbia-Gedichte zu berücksichtigen.10

2.1 Catull c. 51

Besonders berühmt und beliebt ist Catulls c. 51 (Ille mi par esse deo videtur), das nicht selten als erstes Gedicht der Liebesbeziehung zwischen Catull und Lesbia gesehen wird.11 Der Vergleich dieses Gedichtes mit seiner griechischen Vorlage, Sappho frg. 31 (FaÛnetaÛ moi k°now àsow y¡oisi) dürfte zum Standardrepertoire einer jeden Unterrichtseinheit zu den Lesbia-Gedichten Catulls gehören, ist jedoch kein leichtes Unterfangen. Dabei ist es gar nicht einmal die Tatsache, dass Sapphos Gedicht nicht in seiner Originalsprache präsentiert werden kann (nicht einmal Griechisch-Schüler dürften ohne massive Hilfe in der Lage sein, es zu verstehen), die hier zu Problemen führt, denn auch der Vergleich mit einer (guten) Übersetzung des Sappho-Gedichtes vermag Wesentliches zutage zu fördern. Doch beide Gedichte sind von diversen Unbestimmtheiten geprägt, die eine Interpretation zwar keineswegs unmöglich machen, für Schüler aber erschweren.


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Erstens stellt sich gleich am Anfang des Catull-Gedichts die Frage, ob ille (vv.1-2) eine bestimmte Person ist, ein Mann, der Lesbia gegenübersitzt und Catulls Eifersucht erweckt,12 oder ob es sich um einen "nur in der Einbildung vorhandenen Mann" handelt, der aufgrund göttlicher, d.h. übermenschlicher Kräfte es vermöchte, Lesbias Liebreiz zu widerstehen?13 Natürlich ließe sich darüber auch mit Schülern diskutieren, durch eine (unumgängliche) Entscheidung dieser wohl nicht eindeutig zu beantwortenden Frage wird allerdings die Gesamtauffassung des Gedichtes beinahe schon festgelegt (Eifersuchts- vs. Reflexionsgedicht).

Zweitens wird der Vergleich mit der griechischen Vorlage dadurch kompliziert, dass in Sapphos Gedicht entgegen allen heutigen Ausgaben (auch den Schulausgaben) und damit gegen die communis opinio das Objekt ihrer Liebe keineswegs eindeutig das Mädchen ist. Die einzige eindeutige Stelle, wo die Ich-Sprecherin auf eine andere Person als Ursache für ihr Leiden verweist (v. 7), beruht auf einer Konjektur von Edmonds (1922): Èw gŒr <¦w> s' àdv, "immer wenn ich auf dich schaue" (überliefert ist: Èw gŒr sàdv). Glenn Most hat jedoch gezeigt, dass Gottfried Hermanns Konjektur Èw gŒr eÞsÛdv nicht nur paläographisch plausibler ist, sondern mit der auch sonst für Sapphos überlieferte Gedichte typischen Eigenheit übereinstimmt, ihre eigene Leidenschaft zwar höchst ausführlich und eindrücklich zu schildern, das Objekt dieser Leidenschaft aber nie genau zu bestimmen.14 Zu übersetzen wäre also: "jedesmal wenn ich darauf schaue", wobei das nicht genannte Objekt das Mädchen, der Mann oder die gesamte Situation sein kann. Dass Catull hier nicht, wie man immer wieder liest, die Sapphische Personenkonstellation von einer homoerotischen zu einer heterosexuellen geändert, sondern eine wohl bewusst gewählte Ambiguität Sapphos vereindeutigt hat,15 ist zwar ein potentiell hochinteressantes Ergebnis des Gedichtvergleiches, dürfte von Schülern aber schwerlich eigenständig und ohne größere Vorgaben erzielt werden können.

Drittens zeigt die Erfahrung, dass nicht wenige Schüler das Catull-Gedicht nach dem Vergleich mit Sappho als weniger gelungen beurteilen.16 Das liegt einerseits daran, dass Nachahmung, zumal eine so verhältnismäßig enge, von Schülern oft als wenig originell, ja einfallslos empfunden wird.17 Andererseits erscheint Catull, wo er von seiner Vorlage abweicht, den Schülern in der Regel weniger eindrücklich, z.B. wenn Catull Sapphos zugleich drastische wie hochpoetische Darstellung der Symptome Schweiß, Zittern und fahle Blässe (vv. 13-16) ganz fortlässt. Und nicht nur auf Philologen, sondern oft auch auf Schüler wirkt die Schlussstrophe im Vergleich zu den ersten drei Strophen "wie ein Eimer eiskalten Wassers".18 Denn während die körperlichen Symptome der dritten Strophe (vv. 9-12) von Schülern gut nachzuvollziehen sind, liegt die Ausweitung des Zentralbegriffes otium zu einem Phänomen, das nicht nur den Einzelnen, sondern Könige/Königreiche und Städte zerstört, außerhalb ihres Verständnishorizontes.

Die vielen Unbestimmtheiten und die Gefahr, dass gleich das erste Beispiel, das den Schülern begegnet, Catulls Intertextualität in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen könnte,19 sind aus didaktischer Sicht hinreichende Gründe dagegen, ausgerechnet Catull c. 51 und den Vergleich mit Sappho frg. 31 an den Anfang einer Unterrichtsreihe zu den Lesbia-Gedichten zu stellen.


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2.2 Catull c. 5 und 7

Wesentlich weniger gezwungen ergibt sich die Einbeziehung des literarischen Hintergrundes, wenn man die beiden Kussgedichte c. 5 und 7 vergleicht. Während nicht wenige Schüler c. 7 wegen der Vergleiche der Kussanzahl mit der unermesslichen Menge an Sand und Sternen für gelungener halten werden als die zunächst mechanisch erscheinende Addition in c. 5, wird ihnen doch gleichzeitig bewusst, dass c. 7 im Unterschied zu c. 5 wesentlich von gelehrten Anspielungen geprägt ist (vv. 3-6: libyscher Sand, Silphion, Kyrene, Orakel von Siwa, Grabmal des Battus). Allein schon das Bedürfnis der Schüler nach erklärenden Informationen (man schaue auf die ausführlichen Angaben in den Schulausgaben) reicht als Anlass aus, um Catulls Dichtungsideal des poeta doctus zu thematisieren. Dabei sollte auch der Unterschied in der Rezeptionssituation bedacht werden: Was heutigen Schülern nicht nur beim Übersetzen Probleme bereitet, sondern vielleicht sogar als unnötiger Ballast missfällt, wurde von Catulls Lesern als Stilideal goutiert. Es drängt sich hier geradezu auf, dieses Ideal mit dem für Catull und seinen Kreis wohl wichtigsten Vorbild zu verbinden, etwa so wie das Heine im Schülerkommentar tut: "Da Kallimachos, in dem die Neoteriker ihr Leitbild sahen, aus Kyrene stammte und Battus als seinen Vorfahren verehrte, dürfte die Tatsache, dass Catull nicht irgendeine Wüste wählte, sondern die libysche zwischen Kyrene und der Oase des Ammonsorakels, vielleicht eine versteckte Huldigung an Kallimachos darstellen."20 Durch diese Information werden die Schüler in die Lage versetzt, die Wahl gerade dieser Anspielungen als spezifisch motiviert zu verstehen. Zusätzlich wird so eine ausführlichere Thematisierung des kallimacheischen Hintergrundes bei Catull vorbereitet.21 So ließe sich bei der Besprechung von Begriffen wie lepidus, nugae, doctus, um nur einige aus dem Prologgedicht zu nennen, auf den kallimacheischen Hintergrund von leptñthwund die neoterische Vorliebe für kleine Formen verweisen.

2.3 Catull c. 70 und Kallimachos epigr. 25 – ein Vergleich

Es bietet sich aber noch eine andere Gelegenheit, die den Vorteil hat, das Kallimacheische bei Catull den Schülern nicht nur als Information des Lehrers oder des Kommentars vorgeben zu müssen, sondern entdecken zu lassen: c. 70.

 

Nulli se dicit mulier mea nubere malle

   quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat.

Dicit. Sed mulier cupido quod dicit amanti,

   in vento et rapida scribere oportet aqua.

 

Mit keinem, sagt die Meine, wolle sie sich lieber vereinen

als mit mir, nicht einmal wenn Jupiter höchstpersönlich sie begehrte.

Sagt sie. Aber was ein Weib einem begierigen Liebenden sagt,

muss man in Wind und reißendes Wasser schreiben.

(Übers.: MH)


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Vor einer jeden Untersuchung des intertextuellen Hintergrundes steht natürlich die Übersetzung, die im Falle von c. 70 eine gewisse Herausforderung darstellt. Denn wie Peter Wülfing mit Beispielen von Schülerübersetzungen gezeigt hat, enthält c. 70 trotz seiner Kürze ungewöhnlich viele Übersetzungsfallen für Schüler.22 Ich hebe folgende Stellen heraus, die – neben den gewöhnlichen Problemen mit Kasusendungen und Vokabelbedeutungen – erfahrungsgemäß Schwierigkeiten verursachen:

  1. Nulli (v. 1) als Dativ und in substantivischer Verwendung ist so selten, dass man es am besten gleich angeben sollte (z.B. "nulli = nemini").

  2. Dass der erste Satz einen AcI mit einem innerlich abhängigen Nebensatz enthält, wird man als Erkenntnisleistung von Schülern nicht ohne weiteres erwarten können; das Problem kommt aber v.a. in dem zweimaligen se (v. 1, 2) zum Tragen: Schüler, die hier automatisch auf "sich" tippen, sind rettungslos verloren.

  3. Non si (v. 2) ist für viele Schüler gleichbedeutend mit nisi (womit der Nebensatz blanker Unsinn würde), und auch wer linear mit "nicht wenn" übersetzt, wird Verständnisschwierigkeiten haben, wenn er es sich nicht selbstständig zu "nicht einmal wenn" oder "auch nicht wenn" ergänzt.

  4. In v. 3 setzen praktisch alle Ausgaben 23 nach dicit einen Doppelpunkt, der nicht den Interpunktionsgewohnheiten der Schüler entspricht und sie verleitet, ein Subjekt oder Objekt dazu im darauf Folgenden zu suchen.

  5. In v. 3 ist der quod-Satz durch die Spätstellung von quod (was außerdem immer wieder für einige Schüler automatisch "weil" heißt) nur mit Mühe als Objektsatz zu erkennen.

Diesen Schwierigkeiten lässt sich allerdings in einem gelenkten Unterrichtsgespräch ohne weiteres begegnen. Zum einsamen, unvorbereiteten Übersetzen (etwa in einer Klassenarbeit) eignet sich c. 70 dagegen weniger.

Wohl eher selten hat man im Unterricht im Anschluss an die Übersetzung von c. 70 seine griechische Vorlage herangezogen,24 obwohl sie schon lange bekannt ist: Kallimachos' Epigramm 25 Pf.25 Das dürfte an mindestens zwei Gründen liegen: Erstens erschließt sich die Pointe des Gedichtes zweifellos auch ohne den Vergleich mit Kallimachos.26 Zweitens wird aufgrund der bei vielen Rezipienten verbreiteten Fixierung auf Erlebnislyrik und vermeintlich unverstellten Gefühlsausdruck der intertextuelle Hintergrund geringgeschätzt; im Gefolge Krolls sieht man den persönlichen Anteil und damit die Relevanz dieses Gedichtes lediglich darin, dass seine Anfangszeilen in dem – gemeinhin viel persönlicher aufgefassten – c. 72 zitiert werden (vv. 1-2: Dicebas quondam solum te nosse Catullum, / Lesbia, nec prae me velle tenere Iovem).27 Doch gerade der Vergleich mit Kallimachos kann dazu führen, noch weitere Sinnebenen, auch persönlich-psychologische, aufzudecken.

Methodisch ist es ohne weiteres möglich, den Schülern nach der Übersetzung des Catull-Gedichtes Kallimachos im griechischen Original vorzulegen (etwa per OHP-Folie), denn wichtige Beobachtungen können daran auch von des Griechischen unkundigen Schüler gemacht werden:

Êmose KallÛgnvtow ƒIvnÛdi m®potƒ ¤keÛnhw

   §jein m®te fÛlon kr¡ssona m®te fÛlhn.

Êmosen. ŽllŒ l¡gousin Žlhy¡a toçw ¤n ¦rvti

   ÷rkouw m¯ dænein oëatƒ ¤w Žyan‹tvn.

nèn dƒ õ m¢n ŽrsenikÒ y¡retai purÛ. t°w d¢ talaÜnhw

   næmfhw Éw Megar¡vn oé lñgow oédƒ Žriymñw.


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Möglicherweise fällt den Schülern das zweimalige Êmosen an gleicher Gedicht- und Versstelle wie Catulls dicit auf; vielleicht entdecken sie anhand der Großschreibung auch die Eigennamen bei Kallimachos; in jedem Fall werden sie aus dem Druckbild auf das gleiche Versmaß schließen können und feststellen, dass Kallimachos' Gedicht um ein Distichon länger ist. Diese simple Feststellung führt sofort zu der Frage, was – weitgehende inhaltliche Deckung vorausgesetzt – dort stehen könnte bzw. was Catull geschrieben haben könnte, wenn sein Gedicht ein Distichon länger wäre. So entdecken die Schüler, dass Catulls Gedicht nach v. 4 eigentlich noch gar nicht zu Ende ist, sondern die Bestätigung aus eigener Erfahrung für die allgemeine Maxime in v. 3-4 bringen müsste: "Es stimmt, Liebesversprechen von Frauen kann man nicht trauen, denn Lesbia hat mich betrogen." Fragt man nach dem Grund, warum Catull dieses oder ein ähnliches Ende nicht geschrieben hat, sind die Schüler schon nahe an der Erkenntnis, dass Catull seinen Rezipienten quasi in die Produktion des Gedichtes einbezieht, denn es ist der Leser, der unwillkürlich den notwendigen Schluss zieht und so das Gedicht selbst vervollständigt. Poetologisch gesehen ist Catulls Gedicht darin ‚besser‘28 ‚kallimacheischer‘, denn das kallimacheische Streben nach Kürze verwirklicht Catull in einer Übersetzung, die kürzer ist als das Original des Kallimachos. Andererseits ließe sich psychologisierend spekulieren, ob sich das Ich den Betrug durch die Geliebte vielleicht nicht explizit eingestehen will und deshalb den Schluss fortlässt.

Damit Catull dies tun konnte, bedurfte es wichtiger Änderungen, die sich die Schüler jetzt in einem zweiten Schritt erarbeiten, indem sie beide Gedichte mit Hilfe der deutschen Übersetzung von epigr. 25 29 vergleichen und so Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

 

Es schwor Kallignotos der Ionis, niemals jemanden

lieber zu haben als sie, weder Freund noch Freundin.

So schwor er. Aber man sagt zu Recht, dass Liebes-Eide

nicht in die Ohren der Unsterblichen eindringen.

Jetzt brennt er in einem Feuer für einen Jungen; von dem armen

Mädchen aber ist wie von den Megarern keinerlei Rede mehr noch zählt sie überhaupt etwas.30

In der Auswertung des Textvergleiches 31 könnten die Ergebnisse wie folgt festgehalten werden (Erschlossenes steht in eckigen Klammern):


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Kallimachos epigr. 25

Catull c. 70

1)

Versmaß: elegische Distichen

2)

Erzählperspektive: 3. Person

Þ Erzähler selbst unbeteiligt

Erzählperspektive: 1. Person

Þ Sprecher direkt beteiligt/betroffen

3 a)

Ausgangspunkt: Liebesschwur ...

(w)/mosen)

Ausgangspunkt: Liebesversprechen ...

(dicit)

3 b)

... eines Mannes an eine Frau

... einer Frau an einen Mann

4)

Êmosen.                                                                                                                          ... dicit

...                                                                                                                                            ...

Êmosen.                                                                                                                        dicit. ... dicit

                                                                                                      Wortwiederholung an gleicher Position

5)

v. 2, 5-6: Objekt der Liebe geschlechtlich nicht festgelegt

Liebe zwischen Mann und Frau

6)

 

-/-

Iupiter (v. 2): mythologische Überhöhung der Liebesbeteuerung

7 a)

Liebesschwüre zählen nicht, ...

7 b)

... denn sie werden von den Göttern sowieso nicht erhört [ihr Nichteinhalten also auch nicht bestraft]

... denn was eine Frau einem begierigen Liebenden verspricht, muss man in Wind und Wasser schreiben

8)

Schluss (v. 5-6): Kallignotos liebt jemand anders.

Schluss fehlt Þkürzer

Þzwingt zur Ergänzung:  [Lesbia hat Catull betrogen]

9)

Frau wird von einem Mann betrogen.

[Mann wird von einer Frau betrogen]


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Die zweite Stufe der Auswertung bestünde darin, die auffälligsten Unterschiede herauszugreifen und zu analysieren. Neben Catulls Kürzung um ein Distichon und der damit dem Leser überantworteten Ergänzung (8) fallen besonders die Personalisierung durch die Umwandlung in die Ich-Perspektive (2) und die Umkehrung der Geschlechterverhältnisse (3b, 9) ins Auge. Bei einer Vertiefung von Punkt 5 müsste man darauf hinweisen, dass die modernen Begriffe Homo- und Heterosexualität auf antike Geschlechterverhältnisse nicht anwendbar sind und hinter Catulls Änderung nicht etwa eine prinzipielle Abneigung gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen steht.32 Was die mythologische Überhöhung des Liebesversprechens (6) betrifft, so ist denkbar, dass Catull eine Anregung aus der Erwähnung der Götter in Kallimachos' Begründung für die Nichtigkeit von Liebeseiden (7b) gewonnen hat; er hätte dann den allgemeinen Ausdruck "die Unsterblichen" spezifiziert, zugleich aber funktional anders eingesetzt.33

Der Vergleich zeigt aber auch eine in der Forschung so noch nicht beobachtete Feinheit Catulls, die sich durchaus mit Schülern herausarbeiten lässt. Denn warum man Liebesschwüren nicht trauen kann, wird bei den beiden Dichtern jeweils unterschiedlich begründet (7b). Kallimachos spricht wörtlich von "den im Zustand der Liebe <gesprochenen> Eiden" (toçw ¤n ¦rvti ÷rkouw ), sieht den Grund also darin, dass ein Verliebter in seiner Verliebtheit dazu neigt, seiner Geliebten das Blaue vom Himmel herunter zu versprechen.34 Dass deshalb solchen Liebesschwüren keine Gültigkeit zukommt, hat etwas später Tibull deutlich zum Ausdruck gebracht (1, 4, 23-24): gratia magna Iovi: vetuit pater ipse valere, / iurasset cupide quidquid ineptus amor. Bei Catull dagegen liegt die Unglaubwürdigkeit von Liebesschwüren daran, dass sie "einem begierigen Liebenden" (cupido amanti) gegeben werden, der aufgrund seiner begierigen Liebe nur allzu bereit ist, alles zu glauben 35 (und sei es noch so übertrieben wie die Beteuerung seiner Geliebten in v. 2).36 Das verdeutlicht auch die Wortstellung: Die Rahmung von quod dicit durch cupido ... amanti bildet nach, wie begierig der Verliebte die verheißungsvollen Worte seiner Geliebten aufnimmt, quasi ‚einsaugt‘.37 Die Analyse der Wortstellung führt so zu einer Beobachtung, die den Schülern sowohl das für sie zunächst sperrige Hyperbaton cupido ... amanti als auch die für die Übersetzung problematische Spätstellung des quod im Nachhinein erklärlich und motiviert erscheinen lässt.

Da der Ich-Sprecher aufgrund seiner eigenen Verliebtheit alles, was seine Geliebte ihm, dem cupidus amans, versprochen hat, unbesehen und ohne Realitätssinn geglaubt hat, muss er sich eine gewisse Mitschuld zuschreiben lassen (schreibt sie sich vielleicht gar selber zu), wenn ihn seine Geliebte trotz aller Versprechungen enttäuscht. Diese schmerzliche Einsicht Catulls hat Ovid dann positiv nutzbar gemacht und in seiner Ars amatoria als Ratschlag den Frauen empfohlen (3, 673-674): efficite (et facile est), ut nos credamus amari: / prona venit cupidis in sua vota fides.38

Es liegt auf der Hand, dass diese Analyse von c. 70, v. 3 auch für das generelle Bild, das Catull von seinem Verhältnis zu Lesbia gibt, von Relevanz ist. Denn allzu leicht entsteht bei Schülern der einseitige Eindruck, Lesbia sei allein ‚die Böse‘ und nur sie sei für das Scheitern der Liebesbeziehung verantwortlich.39 Dass dazu immer zwei gehören, lässt sich an dieser Stelle zeigen.


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Vor allem aber wird den Schülern aus dem Vergleich deutlich, dass Catull zu der Kallimachos-Vorlage weder einfach nur als letztes Mittel greift, um seiner Gefühle Herr zu werden,40 noch auch aus bloßer literarischer Spielerei, sondern beides untrennbar miteinander verknüpft ist. Auf diese Weise können die Schüler nicht nur die Gefühlsebene, sondern auch den literarischen Hintergrund selbstständig erleben. Wird dagegen Literaturgeschichtliches nur von außen an sie (sei es durch den Lehrer, Informationen in den Ausgaben oder zusätzliche Informationstexte) herangetragen, anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, mit einem Minimum an Vorgaben ein Maximum an eigenen Beobachtungen zu machen, lässt sich die Verbindung von literarischem Anspruch und dargestellten Erfahrungen nur schwer nachvollziehen. Dabei sollte es doch das Ziel der Catull-Lektüre sein, die Schüler weder zu philologischen "bald heads" noch zu einseitigen Affektlyrikern werden zu lassen.

2.4 Intertextuelle Verfahren Catulls im Vergleich

Es bleibt das Problem, den Schülern das Gefühl zu nehmen, Nachahmung sei ein Zeichen für mangelnde Originalität. In der Tat: Wenn z.B. der Vergleich von Cat. c. 51 mit Sappho frg. 31 "für den ‚Nur-Lateiner‘ [...] kaum entscheidende Erkenntnisse" bringt, allenfalls die Einsicht, "dass sich Catull hier an ein Vorbild in metrischer und gedanklich-inhaltlicher Hinsicht hält",41 dann ist weder für Catull noch für den Lektüreunterricht im Allgemeinen etwas gewonnen, vielleicht sogar etwas verloren. Ein negativer Eindruck ließe sich zumindest dadurch auffangen, dass man die Wahl einer literarischen Vorlage allgemein als eine Möglichkeit von Catulls Verarbeitung seiner leidenschaftlichen Liebe auffasst;42 man müsste aber zugleich der Gefahr vorbeugen, dass der intertextuelle Bezug den Schülern als ein defizitärer, weil unorigineller Modus der Verarbeitung erscheint – z.B. durch Aufgaben zur eigenen, kreativen Nachdichtung bzw. Anverwandlung von Catull-Gedichten.

Hier soll abschließend vorgeschlagen werden, am Beispiel Catulls das Phänomen Intertextualität selbst zu thematisieren.43 Fordert man etwa dazu auf, zu Wilamowitz’ Einschätzung, c. 51 sei eine "schülerhafte Übersetzung", Stellung zu nehmen,44 so ist immerhin schon ein Schritt zur Beurteilung und damit näheren Beschäftigung mit einem konkreten intertextuellen Bezug getan. Eine noch stärkere Vertiefung könnte darin bestehen, Catulls intertextuelle Verfahren anhand von c. 51 und 70 zu vergleichen. Ein solcher Vergleich offenbart überraschende Parallelen, nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht:45

 

Sappho frg. 31 – Cat. c. 51

intertextuelles Verfahren

Kall. ep. 25 – Cat. c. 70

ille übertrifft sogar die Götter (superare divos)

Steigerung

Catull ist Lesbia sogar lieber als der höchste Gott (Iuppiter)

Kontraktion

bewirkt

Konzentration

Verkürzung

Suspension

bewirkt

Ergänzungszwang, Spannung

Liebes-

Subj.:

Obj.:

Sappho

Frau

unbest.

Cat.

Mann

Frau

Änderung der Personen-Konstellation

Liebes-

Subj.:

Obj.:

Kall.

Mann

Frau

Cat.

Frau

Mann

 

Liebe

zw.

Sappho

Frau u. Mann, Frau u. Frau

Cat.

nur zw. Mann u. Frau

Vereinheitlichung der Geschlechterverhältnisse

 

Liebe zw.

Kall.

Mann u. Frau, Mann u. Mann

Cat.

nur zw. Mann und Frau

Anrede mit Namen (Lesbia), Zustandsbezeichnung (misero)

Personalisierung

1. Pers. statt 3. Pers.

Sappho

Aufraffen zum Ertragen

Cat.

Eingeständnis der Ohnmacht, Rückführung auf ein allg. Phänomen (otium)

Änderung des Fazits

Kall.

Verliebte schwören alles

Cat.

Verliebte glauben alles


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Nicht nur die Rolle der Götter, die Catull in beiden Fällen zur Überhöhung funktionalisiert,46 ist in c. 51 und c. 70 ähnlich, sondern auch das jeweilige ‚Fazit‘, das Catull in Abänderung seiner Vorlagen formuliert. In beiden Fällen gelangt Catull mit Hilfe seiner literarischen Vorlage zur Einsicht in den heillosen Zustand seiner Verliebtheit.

Literaturverzeichnis

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Fordyce, C.J. (Hg.): Catullus. A commentary, Oxford 1961

Friedrich, Gustav (Hg.): Catulli Veronensis liber, Leipzig/Berlin 1908

Geldner, Harald: "Die Entwicklung der Liebe Catulls zu Lesbia. Eine Unterrichtsreihe", Anregung 25, 1979, 379-391

Glas, Renate (Hg.): Catull, ausgewählt und kommentiert von Renate Glas, Wien 2000 (Latein-Lektüre aktiv!, hg. v. Helfried Geschwandtner/Christian Brandstätter)

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Heine, Rolf (Hg.): Catull. Auswahl aus den Carmina, zusammengestellt und erläutert von Rolf Heine, Frankfurt a. M./Berlin/München 1970, I: Text, II: Interpretationen (Diesterwegs Altsprachliche Textausgaben)

Holzberg, Niklas: Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München 2002

Kölmel, Bernward W.: Die Funktion des Mythologischen in der Dichtung des Properz, Diss. Heidelberg 1957

Kroll, Wilhelm (Hg.): C. Valerius Catullus, herausgegeben und erklärt von Wilhelm Kroll, Stuttgart ³1959 (zuerst 1923)

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Lieberg, Godo: "Amor Catulli poetae utrum verus an fictus sit, quaeritur", Forum Classicum 4/2002, 265-267


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Maier, Friedrich (Hg.): Catull, An Lesbia. Ein Liebesdichter mit europäischer Ausstrahlung, I: Schülerband, II: Lehrerkommentar, Bamberg 1999 (Antike und Gegenwart)

Meusel, Horst: "Catull-Gedichte im Unterricht", in: Heinrich Krefeld (Hg.), Impulse für die lateinische Lektüre. Von Terenz bis Thomas Morus, Frankfurt a. M. 1979, 44-68

Miller, Paul Allen: "Catullus, C. 70: A Poem and its Hypothesis", Helios 15, 1988, 127-132

Most, Glenn W.: "Reflecting Sappho", in: Bulletin of the Institute of Classical Studies 40 1995, 15-38

Muret, Marc-Antoine (Hg.): Catullus et in eum commentarius M. Antonii Mureti, Venedig 1554

Nickel, Rainer (Hg.): Leben, Lieben, Leiden. Catulls Lesbia Gedichte, Lehrerheft, Bamberg ²1987

Offermann, Helmut (Hg.): Dichtung im Vergleich. Gaius Valerius Catullus und Marcus Valerius Martialis, I: Textband, II: Interpretationshilfen, Frankfurt a. M. (1984) (Modelle für den altsprachlichen Unterricht)

Otis, Brooks: Virgil. A Study in Civilized Poetry, Oxford 1963

Pfäffel, Wilhelm: C. Valerius Catullus, Carmina, Lehrerheft, Bamberg ²1988 (Testimonia)

Pfäffel, Wilhelm: C. Valerius Catullus, Carmina. Kommentar, Bamberg 41999 (Testimonia)

Schmidt, Ernst A.: Catull, Heidelberg 1985 (Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft)

Otto Schönberger: "Catull. Zwei Gedichte (c. 50 und c. 70)", in: ders., Von Catull bis zu den Carmina Burana. Interpretationen poetischer Texte, Bamberg 1987 (Auxilia 15)

Skiadas, Aristoxenos D.: "Periuria Amantum. Zur Geschichte und Interpretation eines Motivs der augusteischen Liebesdichtung", in: Eckard Lefèvre (Hg.), Monumentum Chiloniense. Studien zur augusteischen Zeit, FS E. Burck, Amsterdam 1975, 400-418

Syndikus, Hans-Peter: Catull. Eine Interpretation, I: Die kleinen Gedichte (1-60), Darmstadt 1984; II: Die großen Gedichte (61-68), Darmstadt 1990; III: Die Epigramme (69-116), Darmstadt 1987 (Impulse der Forschung)

Weinreich, Otto (Hg.): Catull. Sämtliche Gedichte, lateinisch und deutsch, Zürich/Stuttgart 1969 (zuerst: Hamburg: Rowohlt 1960)

Williams, Gordon: Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968

Wülfing, Peter: "Auf der Suche nach einem Sinn", Der Altsprachliche Unterricht 25, 1982, H. 4, 94-96


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Anmerkungen

1 Hier zitiert nach The Collected Works of W. B. Yeats, vol. I: The poems, ed. Richard J. Finneran, London ²1989, 140-141. Die zweite Strophe des Gedichtes hat eine komplizierte Textgeschichte; siehe Stephen Parrish (Hg.), The Wild Swans at Coole. Manuscript Materials by W. B. Yeats, Ithaca/London 1994, 90-97; in der ersten, handschriftlichen Fassung vom April 1915 lautet sie (ebd. 90-91):

They’ll cough in the ink till the world end

Wear out the carpet with their shoes

Earning respect, have no strange friend;

If they have sinned nobody knows;

Lord what would they say

Should their Catullus walk that way

2 Schmidt (1985) 11-15.

3 Weinreich (1969) 1.

4 Z.B. Geldner (1979) 379: "Die Schüler in der Entwicklungsstufe der Adoleszenz haben z.T. selbst schon erste Erfahrungen in der Liebe gemacht und lernen anhand der Catull-Lektüre den Kampf eines Mannes in seiner Liebe und um seine Liebe kennen. Sie erleben mit, wie der Dichter seine Liebe empfindet und wie er sie schließlich überwindet. Die Liebe zeigt sich ihnen als ein menschliches Grunderlebnis." Vgl. Maier II (1999) 6.

5 Z.B. Maier I (1999) 3: "In den Gedichten ‚An Lesbia‘ ist die erotische Beziehung eines jungen Mannes zu einer geliebten Frau in so ansprechende und mitreißende Worte und Bilder gefasst, dass sich die Entwicklung, der dieses Verhältnis unterliegt, unmittelbar nachvollziehen, ja nachempfinden lässt – gerade von jungen Menschen." Ebd. 4: "Absicht bei der Arbeit mit Schülern sollte es sein, Catulls Liebesverhältnis zu Lesbia von den Anfängen bis zu seinem Ende gefühlsmäßig nacherleben zu lassen." – Nickel (1987) 4-5: "Was Catull auf denkbar knappstem Raum in künstlerisch hochkonzentrierter Form ausdrückt und mitteilt, ist das ‚Psychogramm‘ des leidenden Durchschnittsmenschen, die Selbstanalyse des Normalen unter hochgradiger seelischer Belastung [...]. Die Auseinandersetzung mit den Texten sollte zum ‚Mit-Leiden‘ befähigen und zugleich die Einsicht in rationale Möglichkeiten der wenigstens objektiven, d.h. in Form von mitteilbaren Texten aufhebbaren Verarbeitung des Leidens vermitteln."

6 Darauf, dass "Catull" und "Lesbia" in Catulls Gedichten poetische Konstrukte sind, hat im deutschsprachigen Raum zuletzt Holzberg (2002) sehr großes Gewicht gelegt. Im Folgenden setze ich die Trennung zwischen dem realen Autor Catull und der textimmanenten persona "Catull" immer voraus, verzichte allerdings darauf, jedesmal sprachlich zu differenzieren.

7 Sall. Cat. 25, 1-5; Cic. Cael. 27-49.

8 "Literaturgeschichtliche Kenntnisse" werden in den baden-württembergischen Bildungsstandards Latein für Klasse 12, S. 4 für alle gelesenen Autoren eingefordert.

9 Vorliebe für die kleine, gefeilte Form: c. 1; 95. Ablehnung von (mechanischer) Großdichtung (Epik): c. 22; 36; 95. Polemik gegen schlechte Dichter: c. 14. Spielerische Gedichtproduktion: c. 50.


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10 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf mehrfache Unterrichtserfahrungen in Klasse 11 (L 1) und in der gymnasialen Oberstufe (Leistungskurs) am Uhland-Gymnasium Tübingen und am Karl-Friedrich-Gymnasium Mannheim.

11 Z.B. jüngst wieder von Lieberg (2002) 266, dagegen z.B. Offermann II (1984) 26-27, allerdings mit einer stark suggestiven Fragestellung an die Schüler: Offermann I (1984) 46.

12 Diese Position steht offensichtlich hinter dem Arbeitsauftrag in der Schulausgabe von Glas (1999) 53: "Mit stark gefühlsbetonten Worten zeigt uns Catull seine Liebe und seine Eifersucht. Versetz dich in seine Lage: Du bist sehr verliebt und sitzt deinem Schwarm gegenüber, der aber jemanden anderen anlächelt. Was spielt sich in dir ab und in welchen körperlichen Symptomen äußert sich dein aufgewühltes Inneres?"

13 So Kroll (1959) 92, dann auch Glücklich (1980) 56 ("der ille ist eine hypothetische Person"), Schmidt (1985) 115; skeptisch dagegen Syndikus I (1984) 257-258. Heine II (1970) 71 resümiert diese und andere Unbestimmtheiten: "Man hat eher den Eindruck, dass bewusst manches unausgesprochen bliebe, als dass hier ein junger Liebender seine widerstreitenden Gefühle in einer monologischen Herzensergießung vor sich selbst auszubreiten und Klarheit in sie zu bringen sucht."

14 Most (1995) 28-34.

15 So auch Plut. mor. 763 A: t°w ¤rvm¡nhw ¤pifaneÛshw.

16 Vgl. auch Heine II (1970) 71-72: "Wieso begnügt sich ein junger Liebender, der auch zur Zeit des c. 51 bestimmt kein poetischer Neuling mehr ist, wider die psychologische Wahrscheinlichkeit – mag er auch von dem neuzeitlichen Begriff des Originalgenies meilenwert entfernt sein – mit der Übersetzung einer fremden Dichtung und verbirgt seine Gefühle dahinter, statt sie, bis auf die letzte Strophe, der Angebeteten in eigenen Worten zu sagen und mit einer eigenen dichterischen Leistung für sich zu werben?"

17 Schon Swinburne urteilte: "A more beautiful translation there never was and never will be; but compared with the Greek it is colourless and bloodless, puffed out by additions and enfeebled by alterations. Let anyone set against each other the first two stanzas, Latin and Greek, and pronounce."

18 Friedrich (1908) 237.

19 Maier II (1999) 18: "Diese Gegenüberstellung der beiden Gedichte birgt, zumal, wenn sie sehr früh kommt, die Gefahr in sich, dass die Catull’sche Aussageintention überdeckt wird, die Direktheit seiner emotionalisierten Sprache, überhaupt die Frische des Eindrucks, den seine Gefühlsäußerung macht, verloren gehen."

20 Heine I (1970) 37.

21 Aus naheliegenden Gründen wird man eine solche Vertiefung nicht an c. 66, Catulls Übersetzung der Locke der Berenike von Kallimachos, unternehmen wollen. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dieses Gedicht (und zumindest z.T. seine Vorlage) von einem Schüler, der sich für solch ‚abgefahrene‘ Dichtung begeistern kann, in einem Referat vorstellen zu lassen.

22 Wülfing (1982).

23 Die Ausnahme: Dold (2001a) 55.

24 In den Catull-Schulausgaben findet sich das Kallimachos-Epigramm jedenfalls nur bei Offermann I (1984) 49 (allerdings im Vergleich mit c. 72; c. 70 wird nur als Anhängsel in deutscher Übersetzung hinzugezogen), vgl. Offermann II (1984) 30-31, und bei Pfäffel (1999) 30 (jedoch ohne das letzte Distichon), vgl. Pfäffel (1988) 21. Siehe noch Heine II (1979), 79-81, Glücklich (1980) 68 und Schönberger (1987) 30-31.

25 Der französische Humanist Marc-Antoine de Muret (1526-1585) war der erste, der Vers 3 von Cat. c. 70 auf Kallimachos epigr. 25, 3 zurückgeführt hat: Muret (1554) 114v. Andere Epigramme der Anthologia Palatina mögen daneben einen stilistischen Einfluss auf Catull gehabt haben, die Initialvorlage war aber gewiss Kallimachos: Laurens (1965).


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26 Glücklich (1980) 68: "Die Eigenheiten des Catullischen Gedichts und die Charakteristika des Epigramms lassen sich herausarbeiten, ohne dass ein Epigramm des Kallimachos (Anthologia Palatina V 6) verglichen wird, das ein ähnliches Motiv hat. Auf den Vergleich wird bewusst verzichtet."

27 Kroll (1959) 242: "Eine Nachbildung von Kallim[achos] [...]. Man würde sie für eine bloße Stilübung halten, wäre C[atull] nicht später mit c. 72 auf Lesbias Äußerung zurückgekommen." – Fordyce (1961) 361: "As Kroll points out, this poem might well be taken to be a literary exercise were it not that Catullus picks up the theme in the clearly personal poem 72." – Heine II (1970) 80: "Ja, man könnte bei soviel literarischer Konvention sogar zweifeln, ob Lesbia die ihr zugeschriebene Äußerung überhaupt je getan hätte, ob also Catulls Verhältnis zu diesem Gedicht über das eines reinen Bildungserlebnisses hinausginge, wenn c. 72 nicht den Ansatzpunkt in der persönlichen Erfahrung des Dichters bestätigte." Ähnlich auch Otis (1963) 104.

28 Williams (1968) 404, von dem auch sonst der beste Vergleich der beiden Gedichte stammt, traut sich dieses wertende Attribut auszusprechen (ähnlich 584).

29 Ich übernehme, leicht verändert, die Übersetzung von Markus Asper, der eine zweisprachige Kallimachos-Ausgabe vorbereitet.

30 Die Megarer hielten sich hochmütig für die besten der Griechen. Um sich das quasi offiziell bestätigen zu lassen, befragten sie das delphische Orakel, wer denn wohl besser sei als sie. Nach einer langen Aufzählung von griechischen Stämmen, die in verschiedener Hinsicht besser waren als die Megarer, endete der Orakelspruch mit der Feststellung: êmeÝw dƒ, Î MegareÝw, oëte trÛtoi oëte t¡tartoi / oëte duvd¡katoi, oëtƒ ¤n lñgÄ oëtƒ ¤n ŽriymÒ.  (Deinias, FGrHist III 306 F 6 Jacoby = Scholion zu Theokr. 14, 48/49a).

31 Vgl. Kölmel (1957) 37, Williams (1968) 404-405. Natürlich muss der Vergleich weder alle Vergleichspunkte noch genau diese noch in eben dieser Reihenfolge thematisieren. Ein Vergleich der metrischen Struktur, wie ihn Otis (1963) 103-104 aufschlussreich durchführt, kann im Lateinunterricht nicht geleistet werden.

32 Das ließe sich auch als Vorbereitung nutzen für eine etwaige Lektüre der Iuventius-Gedichte, aber auch der Gedichte, in denen Catull Zeitgenossen in ihrer (passiven) Homosexualität verspottet.

33 Dass Catull in seiner Aussage, Liebesschwüre von Frauen müsse man "in Wind und Wasser schreiben" (7b), verschiedene traditionelle Motive aufgreift und neuartig kombiniert (siehe Syndikus III (1987) 6 Anm. 13, weitere Vergleichsstellen bei Lieberg (1962) 265-267), kann im Unterricht getrost außen vor bleiben.

34 Die von Theseus verlassene Ariadne macht genau dies bei Catull c. 64, 139-148 ihrem untreuen Geliebten zum Vorwurf: Verantwortlich für Theseus' Versprechen ewiger Treue sei der typisch männliche cupiens animus (v. 145), seine cupidae mentis libido (v. 147).

35 Vgl. Schönberger (1987) 28: "Natürlich sagt auch cupido aus, dass der Liebende ohnedies nicht so ganz besonnen und also unter Umständen mit Worten abzuspeisen ist, die so recht ernst nicht gemeint sind." Interessant ist es sich die von Fladt (1992) 41 veröffentlichten Schüler-Nachdichtungen von c. 70 anzuschauen: Nicht wenige haben gut zum Ausdruck gebracht, wie Catull seine eigene Verliebtheit als Ursache für sein blindes Vertrauen sieht.


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36 Dieser Unterschied, den Catull offensichtlich in unmittelbarer Abänderung von Kallimachos macht, entkräftet auch das Argument von Skiadas (1975) 409, c. 70 beziehe sich gar nicht direkt auf Kall. epigr. 25, sondern beide Gedichte würden auf dasselbe geläufige Motiv des Meineids rekurrieren.

37 Siehe noch Meusel (1979) 56: "Bemerkenswert ist schließlich die Entsprechung im zweiten Distichon: Die beiden einzigen Attribute des Gedichtes cupidus / rapidus sind so stark durch parallele Stellung und Sperrung aufeinander bezogen, dass das topische Bild des reißenden Wassers die Leidenschaft des Liebhabers in vieldeutiger Weise zu spiegeln scheint."

38 Der Gedanke taucht zu Catulls Zeit zweimal bei Caesar auf: civ. 2, 27, 2: quae volumus, ea credimus libenter; Gall. 3, 18, 6: [...] quod fere libenter homines id, quod volunt, credunt. Vgl. noch Demosth. 3, 19; Dion. Hal. Thuc. 34; Quint. inst. 6, 2, 5.

39 Miller (1988) 132 Anm. 7 gewinnt aus dem Vergleich mit Kallimachos noch einen weiteren in dieser Hinsicht interessanten Punkt: "Another level of intertextual irony can also be found in Catullus’s suppression of the final two lines of Callimachus’s original. The implication of these lines appears to be that Ionis was presumptous in aspiring to Callignotus’s love in the same way as the Megarians were when they asked the oracle who were the best of the Greeks, and were told in response that ‚you Megarians are not third or fourth or twelfth or even on the list at all.‘ [...] The same charge of presumption could have been leveled easily at Catullus, given the difference between his and Lesbia’s social standing, and hence would undercut somewhat his portraying himself as a victim."

40 Syndikus III (1987) 3: "Als Catull einsehen musste, dass für Lesbia der Liebesbund nicht dieselbe tiefe Bedeutung hatte wie für ihn, und als er für diese bittere Erkenntnis einen literarischen Ausdruck suchte, fiel sein Blick auf das 25. Epigramm des Kallimachos [...]."

41 Maier II (1999) 18.

42 Siehe Syndikus I (1984) 259-260 mit Anm. 26.

43 Der angemessene Ort dafür wäre wohl eher ein Leistungskurs.

44 Offermann I (1984) 46.

45 Methodisch empfiehlt es sich, zumindest einige der intertextuellen Verfahren den Schülern vorzugeben und ihre Realisierung in c. 51 und 70 benennen zu lassen. So können die Gedichte noch einmal aus einem anderen Blickwinkel thematisiert werden. Dass es genau darum geht, und nicht etwa um das Entdecken eines intertextuellen ‚Reißbrettschemas‘, dem Catull bei seinem Dichten gefolgt wäre, muss deutlich betont werden.

46 Übertrifft der ille in c. 51 fast sogar die Götter, so muss das implizit auch für die von ihm angebetete Lesbia gelten. Und wenn Lesbia in c. 70 als geeignete Geliebte Jupiters dargestellt wird, so erlangt auch sie quasi-göttlichen Status – freilich nur, um durch die Nichtigkeit ihres Liebesschwures als das genaue Gegenteil entlarvt zu werden: Lieberg (1962) 275.

 

Martin Holtermann