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Pegasus 1/ 2001, 31

 I Deug-Su

Europa-Vorstellungen im Mittelalter

Nach Auffassung der Geschichtsforschung hat die karolingische Epoche einen wichtigen Anstoß für die moderne, westlich orientierte Konzeption der Europa-Idee gegeben, die bis heute nachwirkt. Anhand von breit angelegten Quellenrecherchen, welche den Zeitraum von der Spätantike bis zum Humanismus umfassen, gelingt Prof. Dr. I Deug-Su, Lehrstuhlinhaber für Mediävistik an der Universität Siena und seit 1996 Gastprofessor am Seminar für Mittellateinische Philologie der Freien Universität Berlin, der Nachweis, dass der mittelalterliche Europa-Begriff über diese westlich orientierte karolingische Europa-Konzeption wesentlich hinausgeht. Ergebnisse seiner Europa-Forschung stellte I Deug-Su in einem Vortrag in Berlin im Februar 2003 vor, der hier in leicht überarbeiteter Form abgedruckt wird. Für den schulischen Latein- und Griechischunterricht, aber auch für den Geschichtsunterricht dürften diese Forschungsergebnisse wichtige Anregungen zu einer Auseinandersetzung mit dem nach 1989 noch brisanter gewordenen Thema Europa in Geschichte und Gegenwart liefern.

 

In der Historiographie herrscht die Meinung vor, dass die karolingische Epoche einen wichtigen Anstoß für die moderne Konzeption der Europa-Idee gegeben habe. Genauere Quellenuntersuchungen führen jedoch zu dem Ergebnis, dass die semantische Weite des Begriffs Europa im Mittelalter viel umfassender ist. Nebeneinander finden sich die geographischen Auffassungen, seit der griechischen Antike fast unverändert weitertradiert, von der Dreiteilung der Erde, in der Europa den dritten Teil darstellt, daneben rhetorische Konnotationen, welche die antike Mythologie in unterschiedlicher Weise abwandeln und weiterentwickeln, schließlich das aus der Bibel hervorgegangene Konzept um Japhet, den jüngsten Sohn Noahs, der bei Kirchenvätern und in der mittelalterlichen Exegese in den Vordergrund tritt.

Der in den Geisteswissenschaften vertretene moderne Europa-Begriff wurzelt in der griechischen Antike, wurde vom Imperium Romanum, später dann auch vom Christentum und mit Beginn der Neuzeit insbesondere durch den Humanismus in die heutige Zeit tradiert. Geographisch ist Europa – entsprechend diesen Vorstellungen – im Westen zu lokalisieren, wodurch sich eine abendländisch dominierte Sicht Europas durchsetzen konnte. Geistesgeschichtlich erschwert diese abendländische Dominanz eine Rechtfertigung der Öffnung Europas nach Osten, die vor allem in der heutigen Zeit durch die seit 1989 veränderte gesamtpolitische Situation unvermeidlich geworden ist.

Angesichts einer solchen Situation kann der mittelalterliche Europa-Begriff neue richtungsweisende Perspektiven bieten. Auch er basiert auf einer antiken Tradition, die den Ursprung Europas in Skythia (Schwarzes Meer bis zur Nordsee) lokalisierte, im Gegensatz zu der bereits erwähnten westlich orientierten Vorstellung der Griechen. In der mittelalterlichen Europa-Idee erhielt diese Vorstellung dadurch zusätzliche Bestätigung, dass die Germanen ihr Ursprungsgebiet im Osten ansiedelten, von wo aus sie nach Westen bis zu den Britischen Inseln und nach Norden bis Skandinavien wanderten. Hinzu kamen im Mittelalter weitere Traditionen, die ebenfalls von einem östlichen Ursprung Europas ausgehen, wie die Japhet-Sage, nach der Japhet als Ahnherr der europäischen Völker galt; dann die Sage von der – mit den Römern folglich gemeinsamen – troianischen Abstammung der Germanen (insbesondere der Franken). Aufgrund dieser reichen Sagentradition, welche die östlichen an Asia angrenzenden Gebiete als Wiege der europäischen Völker ansah, erscheint die mittelalterliche Europa-Idee griechischen Ursprungs.


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Bisher wurde allerdings diese mittelalterliche Vorstellung vom Ursprung Europas durch die Forschung kaum wahrgenommen, obwohl auch sie für das adäquate Verständnis der aktuellen Situation Europas eine unabdingbare Grundlage bildet. So übernimmt z. B. das am Don gelegene Skythien – nach antiker Vorstellung das initium Europae – im 13. und 15. Jh. wiederum, nach vielen politischen und kulturellen Umwälzungen, eine fundamentale Rolle im Kontext der Definition des Europa-Begriffs.

In mittelalterlichen Quellen taucht das Wort Europa allerdings selten auf und normaler Weise ohne jeden Kommentar. Die karolingischen Panegyriker haben jedoch den Begriff Europa – im Vergleich zu dessen Verwendung in anderen mittelalterlichen Epochen – ungewöhnlich häufig aufgegriffen1. Im Brief Cathwulfs, der vor allem wegen der Konzeption des rex in vice Dei und des Bischofs in secundo loco bzw. in vice Christi tantum bekannt ist, findet sich auch der Terminus Europa. Der Brief ist oft als ein Schlüsseldokument2 für das sakrale Herrschaftsverständnis der Karolinger und die Oberhoheit der weltlichen Macht über die kirchliche Autorität verstanden worden. Könnte dann nicht auch der Terminus Europa in den Zusammenhang dieser karolingischen Herrschaftsideologie gehören? Dies ist im Grunde zu verneinen: Der Brief will bekanntlich den Aufstieg Karls zur Macht verherrlichen - einer Macht, die nach Cathwulf ihren Höhepunkt erreichte, als der König die Italorum regna eroberte und die aurea et imperialis Roma betrat. Karl war damit zum honor glorie regni Europae geworden. Mit Europa meint hier Cathwulf sicherlich das Reich Karls des Großen, aber nicht in realem Sinne, sondern im einer panegyrisch-ideellen Ausweitung, die sein regnum an die Seite der aurea et imperialis Roma stellt. Offensichtlich kommt es Cathwulf im Rahmen seines panegyrischen Anliegens nicht auf die vom Petrusnachfolger vorgenommene unctio und die damit verbundene sakrale Legitimation der karolingischen Macht an, sondern was er vor allem herausstellen möchte, ist die Tatsache, dass der Herrscher das maximum erreicht und das größte Reich, das regnum Europe, geschaffen hatte (auch wenn dieses ihm nach christlicher Vorstellung von Gott gegeben war).

In dem anonymen Gedicht Carolus et Leo papa3, das kurz vor der Kaiserkrönung im Jahre 800 verfasst worden ist, wird Karl der Große in kaiserlichem Lichte gepriesen - nicht nur durch den Hinweis auf die Roma secunda oder nova Roma, sondern auch durch die Zuweisung des Beinamens Augustus. Um jedoch eine noch stärkere Emporhebung des Herrschers zu erreichen, bezeichnet ihn der Verfasser als Europae veneranda pharus, caput orbis, Europae venerandus apex, Europae celsa pharus, pater Europae. Die Termini orbis und Europa haben keinen realen Bezug zur karolingischen Herrschaft, verherrlichen jedoch die Macht Karls des Großen und die gewaltige Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes.

Wenden wir uns Theodulf von Orléans (†821) zu4. Nach dem Tode Karls des Großen und nach der divisio imperii unter seinem Sohn Ludwig dem Frommen hat man in der Forschung jeden Quellenbezug zu Europa, wenn parallel dazu vom göttlichen Ursprung der weltlichen Macht die Rede war, als bedeutungslos betrachtet oder lediglich als eine Rückerinnerung an die Herrschaft Karls des Großen und deren europäische Dimension. Die Verse, die Theodulf Ludwig dem Frommen widmete, könnten dies veranschaulichen: "Qui tibi sceptra dedit" - diese Aussage beziehe sich auf die unctio des Petrusnachfolgers, auf die sich das karolingische Königtum stütze, während die ihm von Gott verliehenen Europeia regna einen Rückgriff auf das Reich Karls des Großen darstellten, das jetzt in regna aufgeteilt war. Die Erinnerung an Karl den Großen ist hier ganz offensichtlich, jedoch steht meiner Ansicht nach die panegyrische Überhöhung im Vordergrund, wenn Theodulf von den Europeia regna spricht, mit denen die Königreiche Europas gemeint sind, und auf diese Überhöhung ist es auch zurückzuführen, wenn Theodulf - an Ludwig II. gewandt - wünscht, der totus orbis möge sich mit Gottes Hilfe als inclinatus sub tua iura erweisen. Übergehen wir andere karolingische Autoren, wie etwa Sedulius Scotus, der die Faszination des Terminus Europa in besonderer Weise verspürt haben muss5.


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Auf Grund solcher Quellenbelege ist die Geschichtsforschung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Vorstellung von Europa im Mittelalter im wesentlichen auf den westlichen Kontinent bezogen war und dass es für diese Vorstellung ein genaues Entstehungsdatum gibt: das Jahr 732, in dem Karl Martell die Araber bei Poitiers besiegte6. Denn in der Fortsetzung der Chronik Isidors von Sevilla († 636) werden die Soldaten Karl Martells, die nach der Meinung Henri Pirennes und vieler anderer Europa vor der arabischen Gefahr gerettet haben, vom anonymen Autor europenses7 genannt, womit er einen bedeutungsvollen Neologismus geschaffen hatte. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der auf dem Kontinent lebenden Europäer ist - dieser Forschung zufolge - später, in karolingischer Zeit, durch Theodulf von Orléans (†821) gefestigt worden, der in einer Analogiebildung von den Europeia regna sprach. Habe der Begriff Europa8, dem eine universale Bedeutungskomponente anhaftete, auch nicht den realen Verhältnissen der karolingischen Herrschaft entsprochen, so sei er doch rhetorisch geeignet gewesen, zum Ruhme des karolingischen Reiches beizutragen - vor allem auf Grund des sakralen Charakters der sog. Herrschaftsideologie, die dieses Reich bzw. sein Oberhaupt als vicarius Dei über die päpstliche Autorität erhoben habe9. Kurz: Europa habe als Begriff, welcher der Beschäftigung der frühmittelalterlichen Autoren mit der klassischen Rhetorik entstammte, eine auf den Kontinent und das karolingische Reich bezogene Bedeutung gehabt.

Der Fall der Europenses ist sicherlich bedeutungsvoll. Man darf ihn jedoch nicht losgelöst vom mittelalterlichen Wissen um die geographischen Umrisse dieses Begriffs interpretieren und auch nicht ohne Berücksichtigung von dessen rhetorischer Funktion, die – wie noch zu zeigen sein wird - nicht nur auf dem klassischen Vorbild beruhte, sondern vor allem auf andere Einflüsse zurückging, die wesentlich tiefer im Mittelalter verwurzelt waren. Auch hinsichtlich späterer Epochen hat die Forschung dieselbe Tendenz beibehalten, nämlich dem Begriff Europa Bedeutungen zuzuschreiben, die aus ihrer jeweiligen politischen Situation abgeleitet waren. So wird beispielsweise behauptet, der Begriff Europa habe während der Einfälle der Barbaren, also der Ungarn, Araber, Mongolen und Türken dieselbe Bedeutung angenommen wie "Christenheit", res publica Christiana und andere Vorstellungen, deren gemeinsamer Nenner die christliche Religion ist, und sei dann vom 13. Jahrhundert an zur bevorzugten Benennung geworden: Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (†1464), stelle den Höhepunkt dieser Entwicklung dar10. Demgegenüber muss allerdings betont werden, dass – soweit ich bisher anhand von Quellenstudien feststellen konnte – ein ansteigender Gebrauch des Begriffes Europa in den genannten Jahrhunderten jedenfalls nicht zu beobachten ist, er scheint mir im Gegenteil deutlich abzunehmen.

Aus den Europa-Belegen, die sich bei Piccolomini finden, lässt sich deutlich ein neues europäisches Bewusstsein ablesen, hinter dem sich die Erkenntnis von der großen Gefahr abzeichnet, die die Türkeneinfälle für die gesamte Christenheit darstellten, vor allem aber für die griechisch-römische Kultur, die sich nach Piccolomini entsprechend der göttlichen Vorsehung in eben dieser Christenheit entwickelt habe11. Auf diese Kultur bezieht er sich, wenn er den Begriff Europa in den Briefen benutzt, die er an Friedrich III. und andere christliche Könige richtet, um sie anzuflehen, den Türken Einhalt zu gebieten. Die Vorstellung, die Piccolomini von Europa gehabt hat, ist vom Humanismus seiner Zeit geprägt und hat, wenn man so will, "ideologischen" Charakter. Diese Art weltanschaulicher "Bedeutungsaufladung" des Begriffs Europa steht, wie ich glaube, am Anfang aller modernen "Europäismen", die sich durch immer wieder andere, aber eindeutig politische oder kulturelle Doktrinen auszeichnen und die zum großen Teil auf einem Eurozentrismus beruhen, der sich selbst in Polemiken dagegen nachweisen lässt. Kurz: Es scheint offensichtlich, dass die Geschichtsforschung bei ihrer Interpretation der mittelalterlichen Europa-Vorstellung von einer modernen Haltung und von modernen Gesichtspunkten ausgegangen ist.


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Offensichtlich waren Termini wie Christianitas, res publica Christiana, populus Christianus, populus Christianorum, populus Dei und societas fidelium durch ihre säkularisierten Bedeutungen daran beteiligt, den Weg zur christlichen Interpretation des Begriffes Europa zu bahnen. Dies zeichnet sich besonders seit der Zeit der Kreuzzüge ab, gleichsam als Vorläufer humanistischer Europa-Konzepte, und bestätigt sich endgültig im Zusammenhang des Falls von Konstantinopel, der europäisch-christlichen Stadt, wie Augenzeugenberichte dieses Ereignisses und ihr Echo bei anderen Zeitgenossen beweisen. Es handelt sich hierbei um eine Forschungsproblematik, mit der sich die Historiographie bisher nie auseinandergesetzt hat. So ist es nötig, grundsätzlich nach dem Verhältnis der im Mittelalter herrschenden christlichen Kultur zum mittelalterlichen Europa-Bewusstsein zu fragen. Aber das würde an dieser Stelle zu weit führen.

Was die Interpretation des Begriffes Europa durch christlich geprägte Termini betrifft, so hat man die aus der Antike übernommenen geographischen Vorstellungen des Mittelalters bisher zuwenig berücksichtigt. In der Antike vertraten die Griechen die Meinung, die Welt bestehe aus zwei Teilen: Europa und Asien (wobei Libyen als Teil Asiens galt), später hat man daraus ein Dreier-Schema gemacht: Europa, Asien, Libyen (das bei den Römern zu Afrika wurde). Die Drei-Teilung des orbis hatte in der römischen Welt und in den christlichen Jahrhunderten bis zum Humanismus kanonische Geltung. Flavius Josephus, Strabo, Plinius der Ältere, Pomponius Mela, Solinus und viele Autoren aus patristischer und mittelalterlicher Zeit sind dieser Dreiteilung, dem tripertitus orbis, wie Orosius sagte, treu geblieben12.

In den mittelalterlichen Darstellungen waren die Grenzen zwischen den Weltteilen von besonderer Bedeutung. Man legte sie sozusagen endgültig fest, vor allem auf Grund der diesbezüglichen Aussagen des Orosius und Isidors von Sevilla, um nur die wichtigeren zu nennen. Orosius beschreibt die Grenzen Europas, indem er im wesentlichen den Wasserläufen und Meeren folgt. Das initium des Erdteils liegt beim Tanais, dem heutigen Don, dessen Quellen im Riphaei-Gebirge entspringen und der nach der Durchquerung der ungeheuren paludes Maeotides, einem Sumpfgebiet am Schwarzen Meer, in den Oceanus Sarmaticus mündet. Die Grenzlinie führt weiter über das Wasser nach Konstantinopel und zum mare nostrum, durch das man schließlich zum terminus Europae gelangt. Dieser terminus ist durch die columnae Herculis auf den Gades-Inseln, die in der Meerenge liegen, durch welche das mare nostrum in die fauces Oceani mündet, genau bezeichnet13. Ferner ist Europa durch die Inseln Thyle und Hibernia im britannischen Ozean begrenzt: "Hi sunt fines totius Europae"14. Auch in anderen geographischen Darstellungen sollten diese Orte die wichtigsten Grenzpunkte Europas sein. Ein weiterer bedeutender Beitrag, den Orosius in diesem Zusammenhang für das Mittelalter geleistet hat, ist seine schematische Beschreibung der drei Teile des orbis, welche die Grundlage der sogenannten T-O-Landkarte oder Isidor-Karte bildete15.

Von besonderer Bedeutung sind ferner die Etymologiae Isidors von Sevilla, auch wenn sie keine vollständige Beschreibung Europas liefern, denn Isidors Angaben wurden im Mittelalter mit Vorliebe verwandt. Der Bischof geht stärker auf die einzelnen Gebiete und Völker Europas ein16: Die Scythia inferior sei die prima Europae regio und erstrecke sich von den Maeotides paludes bis zur Germania hin. Auf diese Weise verbindet er die antiken Mythen der Scythia und der Maetodides paludes mit Germanien und weist uns auf die Bedeutung hin, die die Beziehung zwischen der Germania und den unbesiegbaren Kriegern in Skythien und den Maeotides paludes bei der wenig genauen geographischen Vorstellung von Europa gehabt hat. Europa setzt sich im übrigen für Isidor aus zwei Teilen zusammen: der eine ist die Hesperia, zu der Italien und Spanien gehören; der andere umfasst die Regionen im Norden und Westen, wo die aus Skythien stammenden gentes barbaricae lebten. Den Zusammenhang zwischen diesen gentes barbaricae und der Scythia erklärte Isidor durch ihre Abstammung von Japhet, dessen Nachkommen sich der mittelalterlichen Exegese zufolge von Skythien her ausbreiteten.


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Die Geschichte der drei Söhne Noahs Sem, Ham und Japhet (Gen. 9, 18-27) ist bekannt. Die patristischen und mittelalterlichen Quellen interpretieren sie in der folgenden Weise: Die Nachkommen Japhets werden mit den Nicht-Juden identifiziert, die sich nach der Prophezeiung Noahs bis hin zu den Zelten Sems, des Ahnherrn der Juden, ausdehnen. Die Nicht-Juden sind die multitudo der zum christliche Glauben Berufenen; ihre schnelle Vermehrung zeigt sich auch an der etymologischen Bedeutung des Namens Japhet (latitudo und dilatatio). Mit diesen Erklärungen wird dann die Theorie des tripertitus orbis verbunden, wobei die drei Teile des orbis den drei Söhnen Noahs entsprechen und Europa zum Land Japhets und seiner Nachkommen wird.

Schon Flavius Josephus († 95) teilte mit, dass die Söhne Japhets bis zum Fluss Tanais und dem Taurus-Gebirge gekommen seien, den emblematischen Orten des initium von Europa17. Später hat Hieronymus die gleiche Vorstellung wiederholt18. Auch Isidor bleibt grundsätzlich dabei19, misst aber dem einheitlichen Gebiet Skytiens größere Bedeutung bei: Er stellt fest, dass die erste regio von Europa, wie wir schon gesehen haben, die Scythia inferior sei, schreibt aber der Nachkommenschaft Japhets die gesamte Scythia zu, die sich zum Orient hin bis auf einen Teil Asiens erstrecke. Er stellt die Scythia als ein geheimnisvolles, schwer zugängliches Land dar, in dem unter anderem die Maeotides paludes von ungeheurer Ausdehnung seien - ein Land, das von Indien bis an die Grenzen Germaniens reiche. Dieses von Isidor entwickelte Skythien-Bild leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, die Vorstellung vom initium Europae im Mittelalter zu verstehen, die in einer besonderen Verbindung zu Asien steht, dessen prima regio Indien ist. Die Definition Indiens sollte kanonische Geltung erlangen, wie es uns der Geographus Ravennas um 70020 und eine Reihe späterer Autoren deutlich machen. Kurz vermerkt sei noch, dass Isidor auch den Garten Eden in Indien lokalisierte, und zwar jenseits riesiger, unzugänglicher Wüsten, geschützt durch eine von Engeln bewachte Feuermauer. Genau in diesem Gebiet tauche auch die Sonne nach ihrer geheimnisvollen nächtlichen Bahn wieder auf.

Die für Japhet bestimmte Scythia weist also die oben geschilderten Dimensionen auf und hat emotionale, religiöse und kulturelle Verbindungen zu Asien. In diesem Bilde der Scythia ist die Verbreitung der Nachkommen Japhets Realität geworden, die vom Taurus-Gebirge ausgehend, im Orient bis nach Asien hinein gelangen und im Okzident omnem Europam usque Oceanum Brittanicum21 in Besitz nehmen. Die Skythen sind eine gens antiquissima, voller Geheimnisse (so gehört z.B. Zoroastres, inventor magicae artis und König der Baktrer zu ihnen) und besitzen große körperliche und kriegerische Tüchtigkeiten (selbst die Amazonen sind ihnen zuzurechnen). Die Scythia ist aber auch die Wiege anderer starker Völker.

Wir haben etwas länger bei der Scythia verweilt, um zu zeigen, dass deren Beziehung zu Asien und den germanischen Völkern eine wichtige Komponente in der mittelalterlichen Vorstellung von Europa darstellt. Dieselben Charakteristiken der Europa-Vorstellung finden sich auch bei anderen mittelalterlichen Autoren: Immer wieder stoßen wir bei ihnen auf Hinweise auf das antike Skythien. In der Cosmographia des Geographus Ravennas heißt die Japhet zugewiesene portio Europa (wobei der Autor angibt, einer Bezeichnung der phylosophi zu folgen); gleichzeitig charakterisiert er die Scythia patria als heremosa und stellt fest, dass sie im Westen an Germanien grenze. Im Osten reiche sie bis Indien, jenseits dessen sich das Ende der Welt und der Garten Eden befänden; hinter dem Garten Eden erstrecke sich schließlich der Ozean, der deo nostro tantummodo bekannt und dem Menschen verboten sei. Dieser Ozean stehe, da der orbis die Form einer Kugel habe, in Verbindung zu dem Ozean im Westen. Der Mensch dürfe daher nicht über die britannischen Inseln hinaussegeln, wo Europa ende. Damit hatte Europa ein initium, das zum Orient hin offen war, auch geographisch, im Westen aber eine feste Grenze. Auch diese Beschreibung von Europa – andere wichtige müssen an dieser Stelle unerwähnt bleiben - macht deutlich, dass Skythien im Kontext mittelalterlicher Europa-Vorstellungen eine zentrale Rolle spielte.


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Nach Isidor führte dieser Zusammenhang zu neuen Legenden von der Unbesiegbarkeit der Skythen und zu neuen Mythen von einem griechischen oder troianischen Ursprung der germanischen Stämme, die während ihrer peregrinatio als Flüchtlinge durch Skythien gekommen seien.

Die im 7. Jahrhundert entstandene sog. Fredegar-Chronik ist bekanntlich im Mittelalter eine wichtige Quelle gewesen22. Ihr Autor will, was die troianischen Flüchtlinge betrifft, vor allem zeigen, dass sie in der Asia und der Europa verbreitet gewesen seien und, nachdem die Macedoni und Romani ihre Kraft verloren hatten, die Rolle der Beherrscher des orbis übernommen hätten. Fredegar nennt Priamus als ersten König der Flüchtlinge, erwähnt Anchises und Aeneas aber nicht. Im 11./12. Jahrhundert greift Sigebert vom Gembloux diese Überlieferung auf und ergänzt sie um weitere Details, wozu er weitere Quellen heranzieht23. Er teilt die troianischen Flüchtlinge in zwei Gruppen: An der Spitze der einen habe Aeneas gestanden, an der der anderen Antenor, der mit seinen Leuten in finitimas Pannoniae partes secus Meotides paludes gezogen sei. Dann berichtet Sigebert von dem neuen großen Volk von Sicambria, das sich bis zu den Galliae (usque ad Gallias ferocitatis suae vestigia dilataverunt) hin erstreckt habe, dann aber von Konstans, dem Sohn Konstantins des Großen, besiegt und unterjocht worden sei. Als später Valentinian als Belohnung für diejenigen, die die Alani in den intransibiles Meotides paludes besiegen würden, eine 10jährige Befreiung von Tributzahlungen versprochen habe, sei dies für die Flüchtlinge eine Gelegenheit gewesen, wieder an Bedeutung zu gewinnen. Sigebert verweist hier auf Priamus als dux des Heeres der troianischen Flüchtlinge. Nach ihrem Sieg seien sie von Valentinian zunächst Antenoridae, dann Sicambri und auch Franci genannt worden, was die griechische Entsprechung von lateinisch feroces darstelle. Sigebert teilt uns weitere Erklärungen für den Namen Franci mit und spricht über einen Priamus, der in der Zeit vor Valentinian gelebt habe und das Volk durch seinen Namen an die nobilitas illius Priami sub quo eversa est Troia erinnert habe. Sigebert war allerdings vor allem an den Barbaren interessiert, die die Welt beherrschten und die - nach Darstellung des Jordanes, der Sigeberts wichtigste Quelle darstellt24 - fast alle aus der Scythia kamen. Die Geschehnisse, von denen er uns berichtet, spielen sich großenteils in der Scythia, der Pannonia und den Maeotidae paludes ab.

Honorius Augustodunensis (12. Jh.) hingegen erwähnt lediglich die Flüchtlinge Francus und Aeneas25. Francus habe ein neues Troia am Rhein gegründet, in einem Gebiet, das nach seinem Namen Francia genannt worden sei. Aber diesem Hinweis lässt der Autor keine weiteren Überlegungen folgen. Etwas später geht Otto von Freising (12. Jh.) ausführlicher auf die Geschichte der Flüchtlinge ein, wobei er auf Sigebert von Gembloux zurückgreift26. Da ihn aber hauptsächlich die Beziehung zwischen den Romani und den Franci interessiert, übergeht er den Sieg über die Alanen, berichtet vielmehr, dass den Flüchtlingen die libertas auf Grund ihrer freiwilligen Unterwerfung unter die Romani gewährt worden sei. Dann allerdings erwähnt er diese libertas mit Nachdruck in einem anderen Zusammenhang, in dessen Mittelpunkt Priamus und Antenor stehen: Sie seien die Fürsten gewesen, die sich auf Grund der libertas ihres Volkes gegen die Romani erhoben hätten; Otto von Freising erklärt ihren ausgeprägten Freiheitswillen mit ihrer Herkunft aus Troia.

Bei Gottfried von Viterbo (12. Jh.) ist die Parallele zwischen den Theutonici und den Romani bzw. Ytalici besonders interessant, weil er sie ausdrücklich dazu benutzt zu zeigen, dass sich beide Völker zu einem Reich und einem Volk (unum regnum und unus populus) verbinden müssen27. Nach Gottfried beruht die gemeinsame nobilitas der beiden Völker auf ihrer Zugehörigkeit zum troianischen Geschlecht, das auf den ersten König von Athen zurückgeht, der seinerseits von Sem, dem Sohn Noahs, abstamme. Die Herleitung der "teutonischen" und "italischen" Könige von Sem ist ungewöhnlich. Sem wird jedoch in der mittelalterlichen Überlieferung als Ahnherr der Juden betrachtet, der die priesterliche dignitas auf diese übertragen habe. Vermutlich ging es Gottfried darum, eine solche oder eine entsprechende dignitas auch dem Königtum "teutonischer" bzw. "römischer" Qualität zuzuschreiben. Jedenfalls zeigt sich bei ihm ein gewisses Proselytentum, wenn er die parallele Abstammung der Theutonici und der Romani oder Ytalici von der königlichen prosapia in Athen bis in jüngere Zeiten verfolgt. In seinen Augen hat sich diese prosapia in zwei Zweige aufgeteilt, an deren Anfang jeweils Priamus und Anchises stehen. Von dem jüngeren Priamus nun, einem Neffen des Magnus Priamus und Sohn seiner Schwester, stamme die universa Theutonicorum nobilitas ab28.


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Ohne hier weitere Belege meiner - im übrigen keineswegs abgeschlossenen - Forschungen häufen zu wollen, möchte ich noch einen kurzen Blick auf die, wie ich sie nennen möchte, "skythische" Geschichtsschreibung werfen, d. h. auf die beiden frühesten ungarischen Geschichtsdarstellungen, welche die bei Regino von Prüm (9./10. Jh.; Chron. ad. a. 889) zuerst auftauchende Gleichsetzung von Ungarn und Skythen übernommen haben: auf die um 1200 verfassten) Gesta Hungarorum eines anonymen Notars29 und auf ein weiteres Werk mit gleichem Titel von Simon von Kézai († nach 1285)30. Beide Werke zeigen sich vom "skythischen Geist" durchdrungen und berichten uns von sagenhaften Heldentaten der Ungarn während ihrer kriegerischen Streifzüge, weswegen sie, wie in den Quellen zu lesen ist, auch Hass, Verachtung und Schrecken eingeflößt haben - neben heimlichem Respekt für ihre kriegerische Tüchtigkeit. Diese hervorragenden Krieger hätten sich nach Aussage beider Chronisten in der unzugänglichen, von niemandem berührten Scythia gestählt.

Auch die Bezeichnung Attilas, der gleichfalls den Skythen zugerechnet wird , als flagellum Dei zeigt vor allem die Angst, aber auch die Bewunderung, die die Hunnen hervorgerufen haben. Der anonyme Notar verspürt keinerlei Bedenken, den Ursprung der Stämme Skythiens auf Gog und Magog zurückzuführen, die apokalyptischen Verbündeten des Satans, zu denen - wie er meint - auch Alexander der Große zu zählen sei. In seiner ganz auf die Scythia und die Darstellung des Kriegsruhms der Ungarn konzentrierten Darstellung findet sich vielleicht ein Anklang der Europa-Idee, wenn er beschreibt, dass sich die besonderen Fähigkeiten der Skythen durch die Eroberungen Attilas und des ersten Königs der Ungarn Almus nach Westen hin verbreitet haben Auch Kézai weist im Prologus auf die dunkle Vorgeschichte der Ungarn hin: Sie stammten von weiblichen Dämonen ab, die durch die diserta und die paludes Maeotides geschweift seien. Allerdings beziehen sich seine Quellen (Hieronymus, Orosius usw.) dabei auf die Hunnen, denn die Bezeichnung Hungarus kommt überhaupt erst im frühen Mittelalter in Gebrauch. Die mangelnden Trennung zwischen den Hungari und den anderen Stämmen Skythiens und der Grenzgebiete nutzend, schreibt Kézai den Ungarn - mit einem gewissen Vergnügen - die ursprünglich den Hunnen geltenden diffamierenden Geschichten zu. Er spricht auch ganz explizit von den Huni sive Hungari, um die feritas Attilas und der Hunnen für die Ungarn in Anspruch nehmen zu können. Für Simon besteht kein Zweifel, dass Skythien in Europa zu lokalisieren ist: "Scythia enim regio in Europa situm habet", wobei er sich bei den genaueren geographischen Angaben auf das initium Europae beschränkt. Jedoch ist seine Terminologie von größerem Interesse, wenn sie keinerlei Anklang an den Terminus Europa erkennen lässt, z. B. in den Ausdrücken terra latina, Teutonici et Latini, Christiana regio und terrae Christianorum. Die gemeinsamen Nenner darin sind latinus und Christianus - Begriffe, die Kézai allerdings nicht auf die Ungarn bezieht, auch wenn sie gegen Ende des 13. Jahrhunderts , als er sein Werk verfasste, schon längst christianisiert waren und Kézai in Latein schrieb. Noch andere Werke der ungarischen Geschichtsschreibung und der angrenzenden Zonen müssten untersucht werden, um festzustellen, wie sie auf das Interesse des Westens reagiert haben, das sich diesen Gebieten zuwandte, als sie in vorderster Front die mongolischen und türkischen Invasionen erlebten.

In diesem Zusammenhang sei mir eine Bemerkung erlaubt, die das nach Asien offene initium Europas betrifft und die mit einem Anflug von Sehnsucht nach der natürlichen Zivilisation Indiens, besser: nach dem verlorenen Paradies verbunden ist. Für die Vorstellung, die man im Mittelalter von der Asia, d. h. der India hatte, ist die gefälschte Briefsammlung zwischen Alexander dem Großen und dem Brahmanen-König Dindimus31, die schon im 11. Jahrhundert verbreitet war, ein bedeutendes Zeugnis. Man kann darin, wie ich glaube, eine Kritik an den ethischen Vorstellungen des Okzidents, eine Art Selbstkritik erkennen. In dieser Funktion, nämlich als orientalisches Gegenbild zur westlichen Ethik, spielt die India in der Alexander-Legende, auch in anderen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Interessanterweise war die Alexander-Legende zur Zeit Friedrichs II. äußerst populär, woran der Hofdichter des Kaisers Quilichinus nicht ganz unbeteiligt war, der sie in Verse setzte mit dem offensichtlichen Ziel, für Friedrich II. einen speculum regis zu entwerfen32.


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In der ersten Hälfte dieser Dichtung tritt Alexander der Große als ein mit allen Tugenden ausgestatteter Held auf, der den stolzen Darius unter seine Herrschaft beugt und als Eroberer Europas und des orbis erscheint; in der zweiten Hälfte entsteht jedoch ein ganz anderes Bild: Schon beim Betreten Indiens erfährt Alexander der Große von Dindimus radikale Kritik an der aggressiven Haltung des Westens; im Innern Indiens geht er dann - ohne Gewalt zu erleiden - in eine mit List gestellte Falle der Königin Candacis, die dem zitternden und wehrlosen Makedonier entgegenhält, er sei ein destructor orbis, während sie ihn jetzt ohne Waffen, nur durch ihre virtus gefangen genommen habe ("nullo pugnante te, te mea virtus habet")33. Als sie sieht, dass seine Zähne klappern und sein Haupt aus Angst unruhig hin- und herfährt, redet sie ihn an: "Sag,' wo ist jetzt Deine kaiserliche virtus!" ("Dic, ubi nunc virtus imperialis adest!")34.

Die Philosophie Indiens, von der in der Alexander-Legende wiederholt berichtet wird, kann man dem Interessenbereich des Kaisers zuordnen, der bekanntlich ein Weltverständnis besaß, das sich nicht auf das Christentum allein beschränkte. Auch der weite Raum, auf den sich seine Herrschaftsauffassung bezog, bei dem das Gebiet der Scythia (das ungarische Königreich) und der Titel "König von Jerusalem" wichtige Eckpunkte darstellten, kam tendenziell den mittelalterlichen Dimensionen Europas sehr nahe. Besonders bezeichnend dafür scheint der Begriff Europa imperialis zu sein, den man erstmals am Hofe Friedrichs II. benutzte und der sicherlich kein intolerantes Europa bezeichnete, das ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der Kultur an seinen Grenzen verspürte.In der Zeit des Humanismus hat es in der Entwicklung der Europa-Idee einen Bruch gegeben, auf den wir eingangs hingewiesen haben. Auch bei Lorenzo Valla ist dies gut erkennbar. In seinem De rebus a Ferdinando Hispaniorum rege et maioribus eius gestis35 entwickelt er zunächst das traditionelle Bild von Europa als der tertia pars orbis, um dann hinzuzufügen: "Palmam Europae tribuimus in omni prope genere dignitatis" - Europa gebühre die Ruhmespalme, da es in allen würdigen Dingen an erster Stelle stehe. Demnach verleiht Valla Europa aufgrund der ihm eigenen Kultur den Vorrang, wobei ihm bewusst ist, dass er damit der traditionellen Europa-Vorstellung widerspricht. Denn er stellt hinsichtlich der fines Europae ausdrücklich fest, dass Europa am Ozean und nicht an einem Fluss beginnen dürfe (dabei denkt er natürlich an den Tanais) und auch nicht bei einem mons (also dem Taurus). Aus diesem Grunde sei die Hispania das caput Europae, was bei Valla gleichbedeutend ist mit caput orbis terrarum, da "illa (sc. Europa) trium [sc. partium] dignissima est". Valla sucht anschließend seine Theorie ausführlich zu untermauern. Sicher kam es ihm darauf an, die Hispania hervorzuheben, jedoch ist interessant zu sehen, dass er die Bedeutung erkannt haben muss, die das initium Europae (er nennt es caput) in der mittelalterlichen Texten gehabt hat, und daher versucht, es vom Osten in den Westen zu verschieben. Zu dieser totalen Umkehrung kommt es auf Grund einer Neubestimmung der kulturellen Werte, die den Vorrang Europas gegenüber den anderen Teilen des orbis rechtfertigen, was einem Bruch mit der mittelalterlichen Europa-Vorstellung gleichkommt.

In diesem Zusammenhang sind sinnbildlich die gegenständlichen Darstellungen Europas in der Kartographie als einer Königin mit einer Krone auf dem Haupt, das die Hispania darstellt, und der Weltkugel in der Hand, wie sie sich in der zuerst 1537 von Johannes Putsch gezeichneten Karte36 oder in der zweiten Auflage der Cosmographia Sebastian Münsters im 16. Jahrhundert findet37. Besonders aufschlussreich ist der Kommentar von Johannes Putsch, der in unmittelbarer Gegenüberstellung mit der im Mittelalter kanonisch geltenden Apposition für Europa als tertia orbis pars behauptet: Europa sei prima pars terrae in forma virginis. Im Mittelalter hat sich Europa als tertia orbis pars nicht in einer deutlich hervortretenden Personifikation konkretisiert, wie es dann im 12. Jahrhundert bei Alain de Lille für die Sieben Tugenden geschehen sollte, die als schöne Mädchen dargestellt werden, beschrieben mit ausführlichen detaillierten Merkmalen38, oder wie die oben genannten Vergegenständlichungen Europas.


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Der antike Mythos, die Sage von Europa, blieb im Mittelalter ohne Bedeutung, auβer als evocatio für das Europa-Konzept; daran konnte auch der Erfolg von Ovids Metamorphosen nichts ändern. Diese Evokationskraft war, auch wenn Europa im Mittelalter nicht auf eine spektakuläre Bühne gestellt worden ist, dennoch tief im Bewusstsein verhaftet, im Spannungsfeld Europas zusammenzugehören. Sonst wäre die Faszination des Begriffes Europa unerklärbar, die die mittelalterlichen Autoren verspürt haben müssen, insbesondere die affektive Einstellung Karls des Groβen als pater Europae39 gegenüber Germania als mater Europa40, das heiβt als mater namens Europa, wie es viele mittelalterliche Belege dokumentieren.

In einem solchen Bedeutungsfeld des Europa-Begriffs und im Rahmen der damit verbundenen "europäischen" Genealogien war es also für die Zeitgenossen möglich, die Faszination von Persönlichkeiten oder auch anderen Gröβen zum Ausdruck zu bringen. Ohne Zweifel haben die Japhet-Exegese und das sich daraus ergebende Bild einer kompakten Einheit Europas die mittelalterliche Vorstellung von Europa geprägt, und zwar mit all den semantischen Anklängen, die mit den alten und neueren Mythen um die Scythia verbunden waren. Besonders zeigt sich dies in der Verbindung zwischen den mittelalterlichen Mythen und Aeneas als dem römischen Gründerheros. Diese Parallele hat sicher auch dazu beigetragen, dass man im ganzen Mittelalter ein noch stärkeres Gewicht auf Rom legte, was sich auch zu Gunsten des westlichen Christentums auswirkte, ohne dass dadurch jedoch die von der modernen Wissenschaft vertretene christliche Europa-Idee gerechtfertigt würde.

Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zusammen: Der Terminus Europa stellte eine geographische Kategorie mit präzisen Merkmalen dar, die weitgehend von den Vorstellungen über die Lage seines initium abhingen und die mit einer Reihe von antiken und neueren Mythen verknüpft waren. Wir haben demnach im Mittelalter die Rezeption einer geographischen Überlieferung aus der Antike vorliegen, die eine starke kulturelle, besser: emotionale Komponente aufweist. Diese Komponente ist ohne weiteres in dem rhetorischen Wert zu erkennen, der dem Terminus Europa in den literarischen Texten der Zeit zukommt.

Einige mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und Erzählungen beginnen mit dem Hinweis auf die verschiedenen Teile des orbis wie Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum, die Historia Langobardorum von Paulus Diaconus, die Antapodosis von Liudprand von Cremona, die Historiae von Richer, das Carmen de Synodo Ticinensi, die Gesta Treverorum und das Waltharilied. Die topographischen Anfänge der historischen Werke könnten zwar Topoi sein, wie es auch die chronologischen sind, aber man hat doch den Eindruck, dass die Autoren deren symbolischen Wert bewusst einsetzen, wofür die Darstellung der Ursprünge Triers in den Gesta Treverorum als Stütze herangezogen werden kann41. Der anonyme Autor preist die Stadt dadurch aufs höchste, dass er sowohl auf die zentrale Lage hinweist, die Trier mitten in Europa einnehme, als auch darauf, dass es die älteste Stadt in Europa sei, die folglich einen ersten Beitrag zur Bevölkerung in Europa geleistet habe. Bei den Europa-Vorstellungen spielten, wie wir gesehen haben, die Begriffe initium, fines, medium, caput, ultimum usw. eine besondere Rolle. Schon Isidor hatte, um seinem Lande besondere Ehre zu erweisen, das Attribut ultimum verwandt, als er davon sprach, dass die Hispania als die ultima et vera Hesperia zu betrachten sei und das Kapitel De Europa mit einem Passus voller Wortspiele schloss, in deren Mittelpunkt die Vorstellung von der ultima terra stand42. Auch Vinzenz von Beauvais (†1264) wollte der Apulia ein besonderes Gewicht verleihen, wenn er sie als "finis Europae contra meridiem, quae solo mari e barbaria est divisa" charakterisierte43. Bei demselben Autor diente der Terminus Europa dazu, nicht nur eine Region, sondern auch ein ganzes Land hervorzuheben: "Inter omnes autem Europae regiones occidentales Italia obtinet principatum" - Italien gebühre der Primat unter allen westlichen Gebieten Europas. Verblüffend ist auch ein ganz anderer Aspekt, der sich bei Sulpicius Severus (5. Jh.) in den Dialogi findet: Europa könne auf Grund der Heiligkeit Martins von Tours neben dem an Heiligen reichen Ägypten und der universia Asia bestehen44.


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Mir ist bewusst, dass die Forschung der mittelalterlichen Vorstellung von Europa noch in weiteren Bereichen, als ich es getan habe, nachgehen müsste: So müssten etwa die, wie ich sie nennen möchte, "skythischen" Geschichtsdarstellungen, d. h. die Werke der ungarischen Geschichtsschreibung und der angrenzenden Gebiete untersucht werden. Aber ich will hier einhalten und darauf hinweisen, dass ich in einem ersten Schritt die wesentlichen Züge der mittelalterlichen Europa-Idee anhand der von mir untersuchten Quellen herausarbeiten wollte, um dadurch einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu schaffen.

Anmerkungen

1 Vgl. F. Chabot, L’idea d’Europa, in : La Rassegna d’Italia, 2, 1947, S. 3-17 u. 25-37; Ders., Storia dell’Idea d’Europa, Bari 1962; P. Brezzi. Realtà e Mito dell? Idea dell’Europa, Roma 1955; J. Fischer, Oriens – Occidens – Europa. Begriff und Gedanke "Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957; D. Hay, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957.

2  E. Dümmler (ed.), in: MGH, Ep, IV, S. 501-505.

3  E. Dümmler (ed.), in: MGH, PLMA, I, Berlin 1881, S. 368-379.

4  Ebd., S. 531.

5  L. Traube (ed.), Carmina in: MGH, PLMA, III, Berlin 1896, S. 166-237: "Est pius ille melis condignus, laude canoris, / Europae sidus nobilitasque potens"(S. 166); "Europae quoniam nimias transcurrere metas / Gressibus exiguis ipse sophista nequit" (S. 174); "Nobilis emicuit Karolus de semine regum / Europae princeps, imperiale decus» (S. 182); «His Europa micat, his gaudet filia Sion" (S. 183); "Haec nova stella micat, laus orbis, spes quoque Romae, /Europae populis haec nova stella micat" (S. 189) "Caesar erat Karolus toto clarissimus orbe / Europae princeps, imperiale decus» (S. 193); «Te quoque magnanimo duce sic Europa coruscat" (S. 195).

6  Vgl. D. de Rougemont, Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962 (französische Originalfassung  Paris 1961, S. 45-49).

7  Th. Mommsen (ed.), in: MGH, AA, XI, Berlin 1894, S. 362.

8  E. Dümmler (ed.), in: MGH, PLMA, I, Berlin 1881, S. 32.

9  Was die Politik Karls des Groβen betrifft, so kann man deren theoretischen Inhalt aus den ungefähr 100 an die Karolinger gesandten Papstbriefen ableiten, die in einem einzigen Manuskript, dem sog. Codex Carolinus, auf uns gekommen sind. Vgl. I Deug-Su, Cultura e ideologia nella prima età carolingia, Roma 1984.

10  Vgl. W. Fritzemeyer, Christenheit und Europa, München/Berlin 1931, S. 1-28; H. Gollwitzer, Zur Wortgeschichte und Sinndeutung von "Europa", in: Saeculum, 2, 1951, S. 161-172; D. Hay, Europe. The Emergence of an Idea, a.a.O., S. 16-55, 96-114 ; R. J. Sattler, Europa, Braunschweig 1971, S. 1-35; K. Bosl, Europa im Mittelalter, Bayreuth 1992, S. 11-15; B. Karageros, Der Begriff Europa in Hoch- und Spätmittelalter, in: Deutsches Archiv, 48, 1991, S. 137-164; D. Kurze, La "Respublica Christiana" et l’Europe médiévale, in: Imaginer l’Europe, hrsg.v. K. Malettke/D.A.Canal, Paris/Bruxelles/Berlin 1998, S. 11-49, 228-236.


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11  Opera, Basel 1551 (Nachdr. 1967), S. 678-689, 702-708, 712-717, 840-855, 860-862, 865-893 ("Deus terrenus est imperator", S. 704).

12  Vgl. D. Hay (wie Anm. 1) S. 1-15.

13  "Europa incipit ut dixi sub plaga septentrionis, a flumine Tanai, qua Riphaei montes Sarmatico aversi oceano Tanaim fluvium fundunt, qui praeteriens aras ac terminos Alexandri Magni in Rhobascorum finibus sitos Maeotidas auget paludes, quarum inmensa exundatio iuxta Theodosiam urbem Euxinum Pontum lato ingreditur. Inde iuxta Constantipolim longae mittuntur angustiae, donec eas mare hoc quod dicimus Nostrum accipiat. Europae in Hispania occidentalis oceanus termino est, maxime ubi apud Gades insulas Herculis columnae visuntur et Tyrrheni maris faucibus oceani aestus inmittitur" (Pauli Orosii Historiarum adversum Paganos libri VII, ed. C. Zangemeister, in: CSEL, V, Wien 1882, S.10).

14  Ebd., S. 30.

15  Ebenda., S. 9-12.

16  W. M. Lindsay (ed.), Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, Oxford 1957, lib. IX, ii (De gentium vocabulis) und lib. XIV, iv (De Europa).

17  Antiquitates Iudaicae, übers. V. H.St.J.Thackeray , in: Loeb Library IV, S. 117-119.

18  P. de Lagarde (ed.), S. Hieronymi presbyteri Hebraicae quaestiones in libro Geneseos, in: Corpus Christianorum, SL, 72, Turnhout 1959, S. 11 : "Iafeth filio Noe nati sunt septem filii, qui possiderunt terram in Asia ab Amano et Tauro Syriae Coeles et Ciliciae montibus usque ad fluvium Tanain".

19  W. M. Lindsay (wie Anm. 16).

20  Cosmographia, ed. J. Schnetz, in: Itineraria Romana, Stuttgart 1990. S. 15.

21  W. M. Lindsay (wie Anm. 16) lib. IX, ii.

22  B. Krusch (ed.), Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV, in: MGH, SS rer. Merov., II, Hannover 1888, S. 92-95.

23  L. C. Bethmann (ed.), Chronica, in: MGH, SS, VI, Hanover 1884, S. 300-302.

24  C. A. Clos (ed.), De Getarum sive Gothorum origine et rebus gestis, Stuttgart 1866, S. 13-188.

25  De imagine mundi, in: PL, 172, Sp. 121-133.

26  A. Hofmeister (ed.), Chronica, in: MGH, SS rer. Germ., Hannover/Leipzig 1912, S. 22 und 31-32.

27  G. Waitz (ed.), Speculum regum, Memoria saeculorum, Pantheon, in: MGH, SS, XXXII, Honnover 1872, S. 21-93, 98-104, 138-303.


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28  S. auch andere Quellen: B. Krusch (ed.), Historia Daretis Frigii de origine Francorum, in: MGH, Ssrer. Merov., II, Hannover 1888, S. 199; Ders. (ed.), Gregorius von Tours, Liber historiarum Francorum, S. 241-242; G. Waitz (ed.) Gesta Treverorum, in: MGH, SS, X, S. 130-131, 134-158; B. Schmeidler (ed.), Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae, in: MGH, SS. Rer. Germ., Hannover 1917, S. 4-6, 61, 79, 159, 248-249; H. Bresslau (ed.), Wipo, Gesta Chunradi II. Imperatoris, in: MGH, SS rer. Germ., Hannover/Lepzig 1915, S. 16; G. Waitz (ed.), Hugo von Fleury, Historia regum Francorum, in: MGH, SS, IX, Hannover 1851, D. 395; Vinzenz von Beauvais, Speculum Historiale, Douai 1624 (Nachdr. 1965), S. 24-28; O. Holder-Egger (ed.), Theodorich Aedituus von Deutz, Summa chronicorumin MGH, SS, XIV, Hannover 1883, S. 571-573; A. Domanovszky (ed.), Die "Gesta Hungarorum" von Simon Kézai, in: SS. Rer. Humgarorum, I, Budapest 1937; G. Silagi/L. Vesprémy (edd.), Die "Gesta Hungarorum" des anontmen Notars, Sigmaringen 1991, S. 28; F. Toldy/C. Szabό (edd.), Marci chronica de gestis Hungarorum, Budapest 1876, II-III; F. Schmeidler (ed.), Johannes von Viktring, Liber certarum historiarum, in MGH, SS, rer. Germ., Hanover/Leipzig 1909/1910, S. 239-241; Aeneas Sylvius Piccolomini, Cosmographia, Helmstadt 1700. S. 299. Vgl. A. Borst, Der Turmbau von Babel I-IV, München 1995 (Nachdr. Dr Originalausgabe 1957-1963); H. Hommel, Die Sage von der trojanischen Herkunft der Franken, in: Württembergisch-Franken, N. F. 50, 1966, S. 11 ff.

29  G. Silagi/L. Vesprémy (wie Anm. 28).

30  A. Domanovszky (ed.), in: SS. Rer. Hungarorum, I, a.a.O.

31  F. Pfister (ed.), Kleine Texte zum Alexanderroman. Commonitorium Palladii, Briefwechsel zwischen Alexander und Dindimus, Brief Alexanders über die Wunder Indiens, Heidelberg 1910, S. 10-20.

32  W. Kirsch (ed.), Quilichinus de Spoleto, Historia Alexandri Magni, Skopje 1971.

33  Ebd., S. 156.

34  Ebd.

35  O. Besomi (ed.), Laurentius Valla, Gesta Ferdinandi regis Aragonum, Padova 1973, S. 9. Vgl. F. Tateo, Gli stereotipi letterari, in: Europa e Mediterraneo tra Medioevo e prima età moderna: l’osservatorio italiano, hrsg. v. S. Gensini, San Miniato 1992, S. 13-34.

36  Vgl. A. Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 13.

37  D. Hay (wie Anm. 1) S. 105 und 119.

38  R. Bossuat (ed.), Alain de Lille, Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables, Paris 1955.

39  E. Dümmler (ed.), Carolus et Leo papa, in: MGH, PLMA, I, Berlin 1881, S.. 379: «Rex, pater Europae, et summus Leo pastor in orbe / Congressi, inque vicem vario sermone fuuntur»

40  G. H. Pertz (ed.), Annales Quedlinburgenses, in : MGH, SS, III, Hanover 1839, S. 88.

41  G. Waitz (ed.), Gesta Treverorum, in: MGH, SS, VIII, Hannover 1848, S. 130-131; Ders. (ed.), Gesta Boemundi archiepiscopi Treverensis, S. 466-467.


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42  W. M. Lindsay (wie Anm. 16) lib. XIV, iv.

43  Vincentius Bellovacensis, Speculum Naturale, Douai 1624 (Nachdruck 1964), Sp. 2408.

44  C. Halm (ed.), Sulpicii Severi Dialogi, in: CSEL, I, Wien 1886, S. 215-216.

 

Prof. Dr. I Deug-Su

Universität Siena / Freie Universität Berlin