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 Clemens Zintzen

Marsilio Ficino

In den letzten Jahren gewinnen Unterrichtsthemen zu Renaissance und Humanismus im Lateinunterricht zunehmend an Bedeutung. Zahlreiche Lektürevorschläge liegen inzwischen in gut zugänglicher Form vor. Kaum angemessene Berücksichtigung als Unterrichtsthema fand bisher der Neuplatonismus, eine der bedeutendsten und wirksamsten philosophischen Richtungen der Renaissance.

Prof. Dr. Clemens Zintzen, der Präsident der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Prof. em. für Klassische Philologie an der Universität Köln und international renommierter Kenner der Philosophie des Neuplatonismus sowie der Florentiner Renaissance, stellt in seinem kenntnisreichen, höchst anregenden Beitrag mit Marsilio Ficino einen der wichtigsten Vertreter des Neuplatonismus in der italienischen Renaissance des 15. Jahrhunderts vor. Der Beitrag enthält somit nicht nur zahlreiche Anregungen für den Lateinunterricht, sondern kann auch dem Griechischunterricht wertvolle Impulse verleihen.

Der Artikel führt in Leben und Werk Ficinos ein und skizziert die Grundzüge seiner Philosophie. Ficinos Ontologie fußt auf der Philosophie Plotins, berücksichtigt aber auch die christliche Lehre. Zentrale Punkte seiner Lehre sind die Mittelstellung der menschlichen Seele, ihre Unsterblichkeit, die vita contemplativa als die für die Rückkehr zu Gott angemessene Lebensform und schließlich die "Platonische Liebe" als das rechte Verhältnis des Menschen zu Gott. Ficinos Auffassung von Kunst wird am Ende des Beitrages ebenfalls kurz berührt.

Marsiliusque hic est, alter et ipse Plato.

Marsilio Ficino ist dies , ein zweiter Platon in eigner Person.

Ugolinus Verinus

 

Hic situs est, magni sacrum qui dogma Platonis

Marsilius patriae tradidit et Latio.

 

Hier liegt Marsilius, der des großen Platon heilige Lehre

der Vaterstadt überliefert und auch Italien

Andreas Dactius

Mit diesen Worten haben Ugolinus Verinus und Andreas Dactius, beides enge Bekannte Ficinos, den ihrer Meinung nach größten Philosophen der Zeit gekennzeichnet.1 Tatsächlich besteht die besondere Leistung Ficinos darin, der platonischen Philosophie in seiner Zeit eine weite Akzeptanz verschafft zu haben, indem er sie zur Grundlage einer systematisch ausgebildeten Anthropologie machte. Sie wurde damit zugleich zum Angelpunkt philosophischer wie theologischer Betrachtungen.

Ficino wurde am 19. Oktober 1433 in Figlione im Arnotal geboren. Sein Vater war Arzt und später Leibarzt des Cosimo de‘ Medici. Vom Namen des Vaters Diotifeci leitet sich das Deminuitiv Fecino ab, demzufolge Ficino seinen Namen erhielt. Er starb am 1. Oktober 1499. Zwei Tage zuvor hatte er am 29. September sein Testament verfasst, in dem aber nur die Verteilung seines Besitzes geregelt ist2. Im Dom zu Florenz wurde ihm als Canonicus der katholischen Kirche ein Denkmal errichtet: Die Inschrift im Dom, noch heute zu lesen, bezeichnet ihn in Analogie zu Cosimos Titel pater patriae als den Vater der Weisheit, den pater sophiae.


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Ficino studiert zunächst - neben den üblichen Artes - Medizin in Florenz, weicht 1448/49 wegen der Pest nach Pisa aus und hat dann offensichtlich in den 50er Jahren in Florenz sich weiter mit dem Studium der Philosophie beschäftigt. In dieser Zeit lernte er Cristoforo Landino kennen, der zunächst für ihn Autorität und Lehrer war, aber in der Folgezeit hinsichtlich der platonischen Philosophie sein Schüler wurde. Ficino begab sich 1457 plötzlich nach Bologna, um dort das Medizinstudium fortzuführen. Dieser Wechsel ist erstaunlich; vielleicht ist er auf den Einfluss zurückzuführen, den der damalige Bischof von Florenz, Antoninus Pierrozzi auf den Vater Ficinos ausübte. Antoninus war ein Dominkanermönch, der fanatisch die aufkommende platonische Philosophie bekämpfte und Ficino zu beeinflussen suchte3. Durch die Berufung des Griechen Argyropoulos, der zwar auch über Platon las, aber doch vorwiegend aristotelische Philosophie lehrte, mag Antoninus sich in seinem Antiplatonismus, den er längst vorher entwickelt hatte, bestärkt gesehen haben. Jedenfalls zeigte sich der erst zwanzigjährige Ficino für die antike Philosophie höchst aufgeschlossen. Er verfasste in frühem Alter (puer adhuc) einen kleinen Kommentar zu Lukrez, der ihm aber später ( maturiore aetate) nicht mehr gefiel und den er dann verbrannte, so wie es Platon mit seinen Tragödien und Elegien getan haben soll4. Die entscheidende Philosophie wurde aber in dieser Zeit für Ficino der Platonismus. Ein in erster Begeisterung entstandener Versuch stellte das kleine in vier Büchern verfasste Werkchen über die Lehren Platons dar (libri quattuor institutionum ad Platonicam disciplinam). Dazu hatte ihn offensichtlich sein Lehrer Landino aufgefordert. Ficino konnte zu dieser Zeit offensichtlich noch nicht hinreichend Griechisch, um Platon im Original lesen zu können; so schöpfte er aus den lateinischen Quellen, die er bei Augustinus und Apuleius fand; vielleicht hat ihm auch Leonardo Brunis Platonübersetzung zur Verfügung gestanden. Als er seine Schrift fertiggestellt hatte, zeigte er sie Cosimo und Landino; beide lobten das Buch, rieten ihm aber, es unter Verschluss zu halten, bis er soviel Griechisch gelernt habe, um aus den Originalquellen schöpfen zu können. Das Werk ist leider verloren.5

Als Ficino im Jahre 1492 eines seiner Hauptwerke, die Plotinübersetzung, Lorenzo de‘ Medici widmete, schilderte er in der Einleitung, wie Cosimo ihn schon als Knaben zur Führung einer "platonischen Akademie" bestimmt habe, und ihn daraufhin erzogen habe6. Der Bericht des nahezu 60jährigen Ficino über seine Jugend ist sicher in manchen Darstellungen geschönt, dahinter wird aber sichtbar, wie die platonische Philosophie ihm schon in früher Zeit nahegebracht worden ist und mit welcher Konsequenz Cosimo von dieser Philosophie fasziniert war.


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Im Jahre 1439 hatte Cosimo das Unionskonzil von Ferrara nach Florenz gezogen. Zu diesem Konzil kamen die griechischen Gelehrten, unter ihnen Bessarion und vor allem der alte Plethon7. Dieser übte auf Cosimo einen nachhaltigen Einfluss aus und bewog ihn, dem Platonismus in Italien eine Heimstatt zu geben. Also plante Cosimo, eine Akademie einzurichten, in der die Philosophie Platons gelehrt werden sollte. Nach dem Bericht Ficinos bestimmte er ihn, den Sohn seines Leibarztes für diese Aufgabe. Nun war Ficino damals gerade sechs Jahre alt, also kann dies nur aus der späteren Sicht eine Rückprojektion sein. Es geht auch aus dem Text hervor, dass diese Akademie zur Zeit des Konzils erst geplant wurde und ihre tatsächliche Einrichtung erst für eine Zeit vorgesehen war, wenn sich die Gelegenheit bieten würde8. Es mögen sicher gut zehn Jahre darüber vergangen sein, denn beim Tode des Cosimo im Jahre 1464 schreibt Ficino, er sei bereits 12 Jahre mit Cosimo im philosophischen Diskurs gewesen. Diese Angabe führt auf das Jahr 1452; für diesen Zeitpunkt ist es wahrscheinlicher, dass Cosimo und der junge philosophiebeflissene Student in engere Verbindung getreten sind, um der Philosophie Platons in Florenz Geltung und Ausbreitung zu verschaffen. Tatsächlich hatte Cosimo Ficino angeregt, eine neue Übersetzung Platons zu schaffen. 1464 präsentierte dieser kurz vor Cosimos Tod ihm die ersten zehn Dialoge seiner Platonübersetzung; sie wurden 1484 in Buchform gedruckt. Eine entscheidender Schritt im Hinblick auf Förderung und Verankerung der platonischen Philosophie geschah, als im Jahre 1462 Cosimo in Careggi Ficino eine Villa schenkte, in der nun die Platoniker zu ihren Versammlungen sich zusammenfinden konnten9. An dieser Runde haben neben Juristen, Politikern und Philosophen Gelehrte und Literaten teilgenommen wie Cristoforo Landino, Lorenzo de‘ Medici, Angelo Poliziano und später auch Pico della Mirandola10.

Ficinos Werk zeigt schon früh Ansätze, sich die griechische Philosophie anzueignen. Dem oben erwähnten Kommentar zu Lukrez aus dem Jahr 1454, wo die epikureische Lehre fassbar wurde, folgte 1456 mit den Institutiones ad platonicam philosophiam eine konzise Darstellung der platonischen Lehre, die Ficino aber ebenfalls selbst vernichtete. Im folgenden Jahr 1457 verfasste er das Buch De voluptate ac vero bono, in dem die Lustlehre der verschiedenen philosophischen Richtungen doxographisch dargestellt wird. Dies alles sind offensichtlich Schriften gewesen, die eher als Versuche zu werten sind, sich selbst die antike Philosophie zu erschießen, als dass sie für die Belehrung Dritter gemeint waren. Den Platonübersetzungen ging die Übersetzung der Hermetischen Traktate voran (1463). Ficino wie Landino haben diese etwa im 2. nachchristlichen Jahrhundert entstandenen Schriften wegen ihrer religiösen Einkleidung als eine Vorstufe ägyptischer Weisheit vor Platon betrachtet. Der Übersetzung platonischer Dialoge, von denen 10 im Jahre 1464 Cosimo gewidmet wurden, und 1468 weitere neun Piero de‘ Medici zugeeignet sind, folgte 1469 eines der berühmtesten und am nachhaltigsten wirkenden Werke Ficinos, der Kommentar zum platonischen Symposion.


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 Begonnen wird in dieser Zeit auch die Theologia Platonica, die 1474 abgeschlossen ist und 1482 im Druck erscheint. Der Kommentar zum platonischen Phaidros wird ebenfalls 1469 begonnen, aber erst 1492 beendet. In den Jahren 1474-1479 folgen einige kleinere Schriften, darunter 1474 De Christiana religione. 1480 verfasst er das erste Buch De vita. 1484 wird die gesamte Platonübersetzung herausgegeben und der Hermeias-Kommentar zum Phaidros übersetzt11. Im gleichen Jahr beginnt Ficino auf Anregung Pico della Mirandolas mit der Übersetzung des Plotin, den er wohl seit etwa 1460 kennt und ausgiebig für Ausbildung und Darstellung seiner Ontologie benutzt hatte; zwei Jahre später ist die Übersetzung der 54 Traktate Plotins abgeschlossen, sie wird 1492 zusammen mit den nach 1486 entstandenen Kommentierungen gedruckt. 1488 folgt die Übersetzung von Jamblichs De mysteriis (abgedruckt in der Jamblich-Edition von G. Parthey, Berlin 1857) und Teilen aus Synesios, Psellos, Priscian, Porphyrios und Proklos. Buch II und III der Schrift De vita entstehen 1489 und werden zusammen mit dem schon 1480 verfassten ersten Buch gedruckt. Übersetzung und Kommentar zu Dionysios Areopagita, Mystica theologia und De divinis nominibus sowie Exzerpte aus Athenagoras’ De resurrectione übersetzt er 1490. Der Kommentar zum platonischen Philebos entsteht 1492, Bemerkungen zum platonischen Parmenides und Sophistes bezeugt er brieflich für 1494. Im folgenden Jahr 1495 hat Ficino eine erste Edition seiner Briefe, die er ab 1473 sammelte, arrangiert und in den Druck gebracht. Am Ende seiner literarischen Produktion steht unmittelbar nach der Hinrichtung Savonarolas eine Apologie gegen den Dominikanermönch (qua quidem peste nuper nos divina clementia (...) feliciter liberavit)12. Sie ist wohl darum so scharf geraten, weil auch Ficino wie viele Florentiner Noblen beim ersten Auftreten des Dominikaners in Florenz (1492) ihm nicht feindlich gegenüber gestanden hatte. Er entzweite sich aber schon vor dem Prozess gegen Savonarola mit ihm. Streitpunkt war vor allem die Bedeutung der von Ficino hochgeachteten Astrologie, die beide sehr unterschiedlich bewerteten.

Die Philosophie Ficinos kann in diesem Rahmen nicht ausführlich dargestellt werden; es sollen nur wenige Akzente gesetzt werden. Die philosophischen Erwägungen Ficinos stehen zunächst in der Tradition mittelalterlichen Denkens13, aber sie beziehen ihren eigentlichen Standort in dem Versuch einer Wiederbelebung platonischer Lehre und der Gedankenwelt der Neuplatoniker, vor allem Plotins14. Mit Platons Philosophie ist er schon in frühen Jugendjahren bekannt gemacht worden15. Leitlinie und Ziel seines Philosophierens war eine Harmonisierung platonischer Philosophie mit den Lehren des Christentums, oder umgekehrt formuliert, christliche Glaubenslehren durch eine adäquate Philosophie zu untermauern16. Der Zugang zu den Quellen antiker Philosophie eröffnete sich Ficino durch die philosophische Ausbildung, die die aristotelische


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 Philosophie als Schulphilosophie in den Universitäten auch des 15. Jahrhunderts noch fest verankert sah; darüber hinaus erschloss er sich die ganz Breite des Stroms platonischer und platonisierender Philosophie. Neben dem Mittelplatoniker Albinos (Alkinoos) kennt er etwa ab 1460 Plotins Schriften, erarbeitet sich auch durch Übersetzen die pseudoplatonische Literatur der Hermetica, Orphisches und pythagoreisches Gedankengut; er kennt Jamblich und Proklos und vor allem wird ihm maßgebend auch Dionysios Areopagita, bei dem er Platonismus und christliche Lehre schon in enger Verbindung findet17.

Ficinos Denken kann man unter vier zentralen Zielpunkten charakterisieren: (1) Die Stellung der menschlichen Seele im Universum, d. h. die anthropologische Definition des Menschen in einem metaphysisch orientierten System; (2) die Lehre von der Unsterblichkeit der Einzelseele; (3) die Bedeutung der vita contemplativa hinsichtlich der Erreichung der eigentlichen Bestimmung des Menschen; (4) die Lehre von der platonischen Liebe, in der die anthropologischen Erwägungen Ficinos subsumiert werden.

1) Die Stellung der menschlichen Seele im Kosmos ist durch ihre mittlere Position gekennzeichnet. In einer ontologischen Hierarchie ist das Sein geordnet; es umfasst von oben nach unten gesehen die Stufen Gott, Geist (intellectus, Engel), Seele (anima, animus, mens), qualitas, Materie (corpus). Gegenüber dem ontologischen Schema bei Plotin fügt Ficino die Stufe der qualitas hinzu. Es ist zu vermuten, dass er damit auch im Schema sozusagen mathematisch die Seele in der Mitte des ganzen ontologischen Kosmos positionieren wollte18. Qualitas ist eine Wirkkraft in den Körpern. Sie ist das Prinzip aller physischen Wirkung19. Die Seele selbst, das größte Wunder in der Natur, ist zwischen Gott und den Dingen der Natur die Verknüpfung; dies kann sie durch ihre Mittelstellung leisten. Sie besitzt die Abbilder (imagines) der göttlichen Dinge in sich, wie sie die Begriffe und Urbilder (rationes et exemplaria) der niederen Dinge in sich trägt. Sie kann also zwischen den beiden Bereichen des Intelligiblen wie des Materiellen vermitteln20. Ficino hat damit ebenso wie Plotin den entscheidenden Fortschritt gegenüber dem Dualismus Platons erreicht, indem die verschiedenen ontologischen Stufen miteinander verflochten und so zu einer Einheit zusammengebunden werden. Die metaphysische Welt steht nicht mehr getrennt und diametral der wahrnehmbaren Welt gegenüber. Dies Problem beschäftigte Plotin und er hat daraufhin seine Ontologie konzipiert. Auch dem Christen Ficino musste daran gelegen sein, die Schöpfung Gottes nicht vom Schöpfer zu isolieren; es ist daher nicht verwunderlich, dass er auf die Philosophie Plotins zurückgriff und seine Ontologie nach dem Neuplatoniker entwickelte.


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2) Die Lehre von der Unsterblichkeit der individuellen menschlichen Einzelseele ist ein zentrales Thema dieser Zeit, dem Ficino sein Hauptwerk, die Theologia Platonica gewidmet hat (vor allem die Bücher 9–14). Sie trägt den Untertitel De animorum immortalitate. Das Thema lag in der Tradition der platonischen wie der aristotelischen Philosophie und wurde gerade aktuell in einer Zeit, die den Menschen als Individuum begriff. Wenn die Einzigartigkeit menschlicher Existenz betont wurde, so musste die Unsterblichkeit dieses Menschen geradezu postuliert werden. Die Kirche hat erst auf dem Laterankonzil von 1512 die Unsterblichkeit der Einzelseele als Dogma verkündet. Es war freilich weniger der Eindruck, den Ficinos Schriften hier hinterließen, als vielmehr die Aktivitäten Pomponazzis, der nach averroistischer Lehre ein Überleben der Seele nur in allgemeiner Form verkündet hatte21. Dadurch wurde die Kirche gezwungen, im offiziell sanktionierten Dogma Stellung zu nehmen, lange nachdem schon die Philosophie dieser Zeit eine solche Forderung aus anthropologischer Sicht erhoben hatte. Als Beispiel soll aus der Vielzahl der Unsterblichkeitsbeweise Ficinos nur der auf dem Affinitätsprinzip beruhende wichtigste Beweis hier genannt werden. Theologia Platonica Buch XI 2 (II 93 Marcel) führt Ficino aus: Die menschliche Seele ist das Organ des Denkens; mit ihr kann der Mensch Dinge erfassen, die von den Körpern getrennt existieren; er kann durch die Seele aufsteigen zu den intelligiblen Formen, den Ideen, zu Gott. Zwischen dem Erfassten und dem Erfassenden muss jedoch eine Verwandtschaft bestehen, insofern kann die Geistseele des Menschen nur darum Göttliches und Ewiges erfassen, weil sie selbst von dieser Art, also unsterblich ist22. Mit der zentralen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele hat Ficino in seiner Zeit den gleichen religiösen Bestrebungen Rechnung getragen, wie dies schon Plotin und der ganze Neuplatonismus mehr als tausend Jahre vorher getan hatten. Zugleich war in diesem Denkansatz die Möglichkeit geschaffen, Philosophie und Theologie ineinander übergehen zu lassen. Religiöses und säkularisiertes Denken stehen nicht nebeneinander, sie sind beide miteinander verschmolzene Formen menschlicher Reflexion.

3) In der Verwandtschaft der menschlichen Seele mit Gott ist zugleich auch der rechte Weg des Menschen begründet. Dem Geist des Menschen entspricht notwendigerweise die Kontemplation als die angemessene Form, durch die der Mensch sein eigentliches Ziel erreichen kann. In der philosophischen Besinnung vermag der intellectus sich Gott zu nähern und ihn zu erfassen. Der Akt der Gotteserfassung ist bei Ficino nicht prinzipiell von anderen Erkenntnisakten unterschieden oder abgesondert. Darin kristallisiert sich bei ihm in der Übernahme der plotinischen Ontologie dennoch ein wichtiger Unterschied, der den Christen Ficino vom neuplatonischen Philosophen prinzipiell trennt. Bei Plotin vermag das


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 philosophische Denken Gott nicht unmittelbar zu erreichen; es bildet nur eine Vorstufe zur eigentlichen Erfassung des höchsten Einen, das selbst jenseits von Sein und Denken steht. Für Plotin ist das Eine, auch Gott genannt, sozusagen die Extrapolation allen Denkens. Denken ist daher nur Vorbereitung, die eigentliche Gotteserfahrung kann nur auf mystischem Wege erreicht werden. Ficino trennt jedoch den christlichen Schöpfergott nicht vom Denken; bei ihm ist Gott die höchste Potenz von Sein und Denken, insofern ist auch die philosophische Kontemplation in der Lage, Gott zu erreichen23. Kontemplation ist bei Ficino das, was sie schon bei Platon gewesen war: Loslösung vom Körper, vom Irdischen und Hinwendung zum intelligiblen, göttlichen Bereich. Philosophie wird als eine meditatio mortis begriffen24. Das philosophische Besinnen löst den Menschen aus der körperlichen Welt, richtet ihn auf das erste Wahre und Gute, d. h. auf Gott, aus und vermag dem, der sich der vita contemplativa ergibt, den Aufstieg zu Gott zu gewähren. Dieser Aufstieg stellt zugleich die höchste und ideale Realisierung des Eigentlichen im Menschen dar25. Insofern kann Ficino auch zu Recht sagen, dass es das eigentliche Bestreben des Menschen ist, Gott zu werden. Die Geistverwandtschaft des Menschen mit Gott ist die Grundlage dafür, dass der Mensch ein potentieller Gott sein kann: "Das ganze Bestreben unserer Seele geht dahin, Gott zu werden. Ein solches Streben ist den Menschen nicht weniger von Natur aus gegeben als den Vögeln das Bestreben zum Fliegen gegeben ist26."

4) Dieses Streben zu Gott hat Ficino in seinem Kommentar zum platonischen Symposion, den er 1469 verfasste, mit dem Ausdruck amor Socraticus oder amor Platonicus bezeichnet. Die heutige Vorstellung von "platonischer Liebe" ist dagegen in höchstem Maße trivialisiert, suggeriert ein für den modernen Menschen weltfernes Verhalten und ist eher Anlass zu Witz und Gelächter27. Ficino hat damit in der Nachfolge Platons einen Kern seiner Philosophie zu verdeutlichen versucht. Liebe zwischen Menschen ist immer nur eine Verbindung, die sich auf dem gemeinsamen Göttlichen im Menschen begründet. Letztlich ist sie begründet durch die gemeinsame Liebe zweier Menschen zu Gott. Da alles geistige Streben des Menschen auf eine Vereinigung mit dem höchsten Schönen und Wahren, also mit Gott geht, bedeutet platonische Liebe immer das Aktivieren des Göttlichen im Menschen. Im Eros, der dem Schönen nachstrebt (amor desiderium pulchritudinis), reicht die metaphysische, göttliche Welt in die sinnliche hinein. Göttliche Schönheit manifestiert sich im körperlichen Bereich in der Harmonie der Einzelteile zueinander (concinnitas), im seelischen Bereich stellt sie die Einheit des Menschen mit Gott dar. Die Idee des Schönen ist im Einen, in Gott verankert; sie erscheint in der Vielheit der Dinge als Harmonie der Teile28. Das wahrnehmbare Schöne ist daher umgekehrt ein Abglanz der göttlichen Schönheit und besitzt so die Möglichkeit, den Menschen aus dieser irdischen Welt zum Urbild allen Schönen, zu Gott zurückzuführen. Damit ist ein zentrales Anliegen aller philosophischen Bemühung Platons wie Ficinos angerührt: die Verbindung des Menschen zu Gott und seine Möglichkeit, aus dieser wahrnehmbaren Welt aufzusteigen in die geistige Welt Gottes29.


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Das Schöne manifestiert sich für den Menschen der Renaissance vor allem auch in der Kunst. Ficino hat sich im 13. Buch der Theologia Platonica ausführlich mit dem Phänomen Kunst auseinandergesetzt30. In der gestalteten Kunst dokumentiert sich für Ficino die höchste Fähigkeit des geistbegabten Wesens Mensch. Schon Plotin hatte im Anschluss an Platon das sinnlich-wahrnehmbare Schöne auf Erden als eine Repräsentation der im Jenseits beheimateten Idee gesehen31. Ficino greift solche Gedanken auf. Nach ihm kann der Künstler nur dann wahre Kunst schaffen, wenn er die Idee im Kunstwerk verwirklicht. Das bedeutet nicht eine veristische Nachahmung der sichtbaren Natur, vielmehr besitzt der Ausdruck natura bei Ficno eine doppelte Bedeutung: Natura ist zunächst ein Synonym für species oder forma substantialis. Natur ist das beharrliche Wesen einer Sache, dies muss sich im echten Kunstwerk realisieren. Natura hat daneben einen zweite Bedeutung: sie ist die Bezeichnung für die Materie, also Holz, Stein oder Farbe, die zur Herstellung des Kunstwerkes nötig sind. Insofern bedeutet der Satz naturam ars imitatur (Theol. Plat. V 4; Bd. I 176 Marcel) nicht eine Forderung an den Künstler, die Gegenstände, die er im Kunstwerk darstellt, in besonders naturgetreuer Perspektive abzubilden. Vielmehr meint natura hier die Idee: also entsteht nur dann ein echtes Kunstwerk, wenn es die Idee einer Sache zum Ausdruck bringt. In der Herstellung des Kunstwerkes ahmt der geistbegabte Mensch den Schöpfer nach, indem er die Stoffe, Metalle, Steine durch die Gestaltung nach der Natur oder Idee in kunstgemäße Formen überführt32. Ficino bemerkt sogar, dass der Künstler die Werke der niederen Natur, also die Gegenstände, die sich in der Natur ihm zeigen, vollenden, korrigieren und verbessern kann. Dies gelingt ihm nur, weil er bei der Schaffung des Kunstwerkes die jeweilige Idee im Kopf hat und so Gegenstände, die sich unvollkommen zeigen, im Kunstwerk nach der Idee korrigieren kann33. Insofern ist auch nur der Mensch im Gegensatz zum Tier in der Lage, Kunst zu schaffen, denn nur der Mensch kann auf Grund seiner Denkkraft die Ideen erkennen und sie dann in der Gestaltung des Kunstwerkes verwirklichen.

Der Kunst kommt nun im Denken des Ficino nach dieser Definition aber nicht nur eine ästhetische Wirkung zu; sie ist im präzisen Sinn des Wortes anagogisch. Da sich im echten Kunstwerk die Ideen, die als Schöpfergedanken Gottes begriffen werden34, verwirklichen, kann ein solches Kunstwerk durch die Repräsentation der Ideen eben auch zu Gott zurückführen. Kunst, die philosophisch begründet ist, wird zur Psychagogie und damit zur praktischen Theologie. Ficinos ganzes philosophisches Denken ging darauf aus, Wege für die Salvation der menschlichen Seele zu weisen; darin ist er Petrarca vergleichbar, dem die salus animae Zielpunkt aller menschlichen Bemühungen war.


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Marsilio Ficino war im lebendigen geistigen Klima der zweiten Hälfte des Quattrocento in Florenz der bedeutendste Philosoph. In den sechziger Jahren wurde er vor allem nach der Begründung seiner Academia Platonica (1462) Mittelpunkt der gelehrten und gebildeten Gesellschaft in Florenz. Sein umfangreiches Briefcorpus, das er ab 1473 zu sammeln begann und 1495 eigenhändig edierte, gibt davon beredtes Zeugnis. Ficinos Beziehungen zu Lorenzo de‘ Medici waren eng und vertrauensvoll. Der Umgang mit Piero de‘ Medici war geprägt von Dankbarkeit für die Förderung, die dieser durch die Macht des Vaters und den Glanz des Sohnes zu Unrecht in den Schatten der Geschichte gerückte Medici der Kultur seiner Zeit hatte zukommen lassen. Cosimo, den Großvater Lorenzos verehrte Ficino zeitlebens mit pietätvoller Ehrfurcht. Ihm las er am 20. Juli 1464, wenige Tage vor Cosimos Tod, aus seinen Übersetzungen des platonischen "Philebus" und des "Parmenides" vor35. Cristoforo Landino und Pico della Mirandola standen mit Ficino in stetem geistigen Austausch36. Obwohl Ficino neun Jahre jünger als Landino war und zunächst bei diesem studiert hatte, wurde er für diesen doch zum Vermittler platonischer Philosophie37.

Die Wirkung Ficinos über sein eigenes und das nachfolgende Jahrhundert hinaus übersprang die Grenzen Italiens und reichte bis nach Spanien, Frankreich und vor allem durch die astrologischen Schriften auch nach Deutschland. Um das Menschenbild seiner Zeit metaphysisch zu verankern, benutzte Ficino die platonische Philosophie, wie sie sich bei Plotin und in der Tradition des Neuplatonismus präsentierte. Platon war schon von Petrarca gegenüber der vorherrschenden Philosophie des Aristoteles wieder ins Blickfeld gerückt worden. Ficino griff diese Fäden auf und zeichnete in seiner Philosophie das Bild des gottähnlichen Menschen, so dass es mit den Bestrebungen seiner Zeit in Einklang zu bringen war. Platon hatte nicht nur nach Florenz gefunden, er befand sich nun in einer Welt, die sich der Schönheit des Diesseits bewusst war38 und den Menschen nicht nur als Abbild, sondern schon als Ebenbild Gottes darstellte39.

Ficino galt in seiner Zeit als der inter Platonicos doctores facile princeps. Hermolaus Barbarus hat in einem Brief vom 12. September 1484 an Ficino geschrieben: "Alle können dich beneiden, aber sie vermögen dich weder nachzuahmen noch Tadel an dir zu üben40." Ficinos Einfluss schwand jedoch später in dem Maße, in dem Platon wieder direkt zugänglich wurde. Im deutschen Idealismus war dies der Fall, als 1804 Schleiermachers Platonübersetzung herauskam. Dennoch ist und bleibt Ficino Zeuge einer Epoche, die bis in die Aufklärung hinein wirkte und in der nach dem Mittelalter im Quattrocento zum erstenmal konsequent eine platonisch metaphysisch orientierte Anthropologie vertreten wurde. Die Renaissance beheimatete den Menschen im Jenseits, sah aber doch, dass er auf der Erde zu leben hatte.


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Anmerkungen

1) Texte zur Person Ficinos bei Paul Oskar Kristeller, Supplementum Ficinianum Florenz 1937 [ 1973] Bd. II 256 ff. Die ausführlichste Biographie gibt Raymond Marcel, Marsile Ficin. Paris 1958. Für die Philosophie des Ficinus ist immer noch unentbehrlich die Darstellung von Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino. New York 1943; dt. Übersetzung Frankfurt 1972. Eine gründliche Einführung in den Platonismus Ficinos bei James Hankins, Plato in the Italian Renaissance, Leiden-Köln 1990, Bd. I 267 ff. Umfassende Bibliographie zu Ficino bei P.O. Kristeller, in: Marsilio Ficino e il Ritorno di Platone, Studi e Documenti, ed. G.C. Garfagnini (Istituto Nazionale di studi sul Rinascimento, Studi e Testi, Nr. 15, Band 1, 3 – 196, Florenz 1986); als Monographie nachgedruckt mit Ergänzungen: Marsilio Ficino an his Work after Five Hundred Years. Quaderni di Rinascimento 7, Florenz 1987.

2) Das Testament befindet sich im Staatsarchiv Florenz, Archivio Notarile, vol. M 239 f.68, abgedruckt bei Kristeller, Suppl. Fic. II 193 – 201 und bei R. Marcel, Marsile Ficin S. 740-746.

3) Antonio degli Agli [Antoninus], De mystica statera BN,MS VIII F 9,f. 33 r: Ad hanc [sc. Dei scientiam] itaque Platone aliisque huiusmodi relictis convertere te non differas. [Zitiert bei Hankins I 279,31] Der Einfluss des Antoninus auf Cosimo dürfte ebenfalls beträchtlich gewesen sein. Im Kloster San Marco sind die einander schräg gegenüberliegenden Zellen des Antonino und Cosimos zu besichtigen; eine Tafel verkündet, dass Cosimo sich an Wochenenden gerne im Kloster aufhielt und intensive Gespräche mit Antoninus führte.

4) Ficino, Opera omnia I 933. Noch 1457 resümiert er in einem kleinen Traktat, den er an Michael Mercatus mit einem Begleitbrief schickt    (vgl. Kristeller Suppl. Ficin. II 81), die Lehre des Lukrez.

5) Einzelheiten schildert Ficino in einem Brief an Philipp Valor aus dem Jahre 1456, s. Opera I 929.

6) Ficino, Opera II 1537. Magnus Cosmus senatus consulto pater patriae, quo tempore concilium in Graecos atque Latinos sub Eugenio pontifice Florentiae tractabatur, philosophum Graecum nomine Gemistum, cognomine Plethonem, quasi Platonem alterum de mysteriis Platonicis disputantem frequenter audivit, et eius ore ferventi sic afflatus est protinus, sic animatus, ut inde Academiam quandam alta mente conceperit, hanc opportuno primum tempore pariturus. Deinde cum conceptum tantum magnus ille Medices quodammodo parturiret, me electissimi medici sui Ficini filium adhuc puerum tanto operi destinavit et ad hoc ipsum dedicavit [educavit?] in dies.

7) Plethon sprach auf dem Konzil offensichtlich griechisch; auch seine Vorträge, die er auf der anschließenden Rundreise in Norditalien hielt, wird er in griechisch gehalten haben. In Ficinos Widmung der Übersetzung von 10 Dialogen Platons an Cosimo (Kristeller, Suppl. Ficin. II 104) heißt es: Quippe iam pridem e Bizantia Florentiam spiritus eius [sc. Platonis] ipsis in licteris vivens attica voce resonus ad Cosmum Medicem advolavit. Gemeint ist Plethon, der die platonische Philosophie anläßlich seiner Teilnahme am Florentiner Konzil nach Italien brachte.

8) Vgl. Ficino, Opera s.o. Anm.6: ..ut Academiam quandam alta mente conceperit, hanc opportuno primum tempore pariturus.......me .....adhuc puerum tanto operi destinavit.


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9) In einem Brief vom 6. September 1462 bedankt sich Ficino ausdrücklich für die ihm in Careggi geschenkte Villa, die er wie ein Heiligtum der Kontemplation in Ehren halten will: Academiam quam nobis in agro Caregio parasti veluti quoddam contemplationis sacellum legitime colam. (Kristeller, Suppl. Ficin. II 88). P. R. Blum, Marsilio Ficino, in: Klassiker der Religionsphilosophie ed. F. Niewöhner, München 1995 S. 260 datiert die Schenkung des Landhauses an Ficino auf den 18. April 1463. Die Subscriptio des o.g. Dankbriefes an Cosimo lautet jedoch auf den 6. September 1462.

10) Natürlich war die Florentiner Akademie keine Institution, wie wir sie heute unter diesem Namen kennen; sie entsprach eher einer "gelehrten Gesellschaft", wo in lebhafter Diskussion über Platons Philosophie gesprochen wurde. Abwegig ist die Meinung von C. M. Woodhouse, Gemistos Plethon, Stuttgart 1988, S.156, der diese platonische Akademie eher als einen "intellectual dining club" bezeichnet. Vgl. auch J. Hankins, Plato in the Italian Renaissance [s.o.Anm.1] I 269,5 der den Einfluss Cosimos und der Medizeer auf Ficinos Akademie sehr gering einschätzt. Freilich ist nicht zu übersehen, dass Cosimo in enger Verbindung zur Gründung dieser Akademie stand, wie der Dankesbrief Ficinos vom 6. September 1462 zeigt [ vgl. Anm. 9].

11) Dieser Kommentar des Neuplatonikers Hermeias aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stellt keine eigenständige Leistung dar; er ist eine Kollegnachschrift der Vorlesung, die Syrian über den platonischen Phaidros gehalten hat.

12) Vgl. Kristeller, Suppl. Ficin. II 76. Quellen und Belege zur Chronologie der einzelnen Schriften Ficinos hat mit staunenswerter Akribie und Belesenheit gesammelt Kristeller, Suppl. Ficin. I p. CXX.

13) Dazu P.O. Kristeller, Medieval Aspects of Renaissance Learning. New York 1992 [ursprünglich Durham 1974].

14) Vgl. Platon spricht durch den Mund Plotins Ficino, Opera II 1548 sub Plotini personam loquentem und Plato quondam in Plotino revixit. Interessant und für einen Platoniker fast ungeheuerlich ist der Vergleich zwischen Platon und Plotin, wobei sich der Geist nach Ficinos Aussage in Plotin augustior ... nonnumquam ferne profundior manifestiert.

15) Ficino,Opera I 618: Ego a teneris annis divinum Platonem, quod nullus ignorat, sectatus sum Dies stimmt überein mit der Bemerkung aus der Einleitung zur Plotinübersetzung (II 1537 s. Anm. 6), wonach Cosimo ihn schon als Knaben für die spätere Leitung einer platonischen Akademie vorgesehen hatte.

16) Ficino, Opera II 1442: Platonem Christianae theologiae magis conciliabimus, sed ceteri Platonis interpretes reclamabunt. Opera II 1379: Oportet autem philosophari sine dolo, id est non humanae sapientiae gratia, sed divinae.

17) Ficino, Opera 925: Mihi certe nec ulla scientiae forma est gratiosior quam platonica, neque forma haec usquam magis quam in Dionysio veneranda. Amo equidem Platonem in Iamblicho, admiror in Plotino, in Dionysio veneror. Ficino setzte die Lebenszeit des Dionysios zur Zeit des hl. Paulus an und glaubte in Umkehrung der historischen Gegebenheiten, dass Dionysios auf Plotin und den ganzen Neuplatonismus eingewirkt habe. In Wirklichkeit schöpft der Areopagite vor allem aus Proklos.


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18) Die Seele als eine in der Mitte zwischen intelligibler und wahrnehmbarer Welt positionierte Substanz zu charakterisieren ist eine alte schon von Plotin ( IV 8 [6] 7,6) und Porphyrios (Sententiae V p. 2,20 ed. Lamberz) vertretene Lehre.

19) Ficino, Theologia Platonica I 42 (Marcel): Qualitas ist eine agendi virtus in den Körpern. Si quid igitur agere corpora videantur, non ex ipsa sui mole, ut Democritii, Cyrenaici,Epicurei putaverunt, sed ex aliqua vi et qualitate illis insita operantur.

20) Ficino, Theologia Platonica I 141 (Marcel): Haec illa est (sc. essentia = anima) quae seipsam inserit mortalibus, neque fit ipsa mortalis........Hoc est maximum in natura miraculum. Reliqua enim sub Deo unum quiddam in se singula sunt, haec omnia simul. Imagines in se possidet divinorum, a quibus ipsa dependet, inferiorum rationes et exemplaria, quae quodammodo et ipsa producit. Et cum media omnium sit, vires possidet omnium. Vgl. dazu P.O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino [s.o. Anm. 1] S. 103 ff.

21) Zur Seelenlehre Pomponazzis Jürgen Wonde, Subjekt und Unsterblichkeit bei Pietro Pomponazzi, Stuttgart und Leipzig 1994 ( Beiträge zur Altertumskunde Bd. 48).

22) Ficino, Theol.Plat. II 93 (Marcel): intellectus ergo perpetuus est, qui rationibus sempiternis unitur solisque perficitur. Si intellectus eas capit et quod capit proportionem aliquam habet cum eo quod capitur, congruentiam certe cum his rationibus intellectus habebit. Hae neque principium habent neque finem (...) Quapropter mens aut fuit semper et erit ut ipsae, aut si esse coepit quandoque, non tamen desinet umquam.

23) Ganz anders Plotin. Das höchste Eine (= Gott), das noch über der Stufe des Nous sich befindet, versagt sich seinem Wesen nach der zergliedernden Begrifflichkeit wissenschaftlicher Dialektik. Die Wissenschaft kann also das Eine nicht erfassen; sie kann es nur in lauter Negationen eingrenzen und definieren; vgl. V 3 [49] 14, 6. Gelegentlich schimmert bei Ficino allerdings auch Plotin durch, wenn er für die Rückkehr der Seele zu Gott das Erkennen Gottes relativiert und den Aufstieg allein durch die Liebe zu Gott befördert sieht. In seinem Kommentar zum platonischen Symposion (De amore) heißt es in der Rede Landinos (der dem Part entspricht, den bei Platon Aristophanes spielt) 4. Rede, Kap. 6 (Opera omnia 1333; ed. Blum, 3. Aufl. Meiner: Hamburg 1994, S.120): Qui cognoscunt et diligunt, non quia cognoscunt sed quia diligunt amantur a deo.....Quod ergo nos caelo restituit non dei cognitio est, sed amor. An die Stelle der plotinischen Mystik tritt hier bei Ficino die Liebe.

24) Platon, Phaidon 64 a ss.

25) Dazu P.O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino (s. o. Anm. 1) S.224 f.


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26) Ficino, Theol.Plat. 14,1 ( II 247 Marcel): Totus igitur animae nostrae conatus est ut deus efficiatur. Conatus talis naturalis est hominibus non minus quam conatus avibus ad volandum. Die Aussage Ficinos geht zurück auf Plotin I 2 [19] 6,3: "Das sittliche Streben geht nicht darauf, frei von Verfehlung zu sein, sondern Gott zu sein."( .) Dazu C. Zintzen, Ut deus efficiatur. Der Aufstieg der Seele bei Plotin und Ficino. Grazer Beiträge, Suppl. V, 1993, 263-269.[= Zintzen, Athen-Rom-Florenz. Ausgewählte Kleine Schriften. Olms: Hildesheim 2000, 441-447.]

27) Die heute geläufige Auffassung von "platonischer Liebe" taucht, soweit ich sehe, zum erstenmal auf bei Baldasar Castiglione, Il libro del Cortegiano, ed. Walter Barberis. Einaudi : Torino 1998, IV 55 (p. 421): Morello, ein Dialogpartner, antwortet Bembo, der ganz nach Art des bei Ficino dargestellten amor Socraticus (desiderium pulchritudinis) die echte Liebe als ein desiderar la bellezza auffasst, dass es Sache der Alten sei, die Schönheit zu lieben ohne den Körper besitzen zu wollen (e parmi che ‘l possedere questa bellezza, che esso tanto lauda, senza ‘l corpo, sia un sogno).

28) Ficino, Opera 1322 (S. 27 Blum [s.o.Anm. 22]: Cum amorem dicimus, pulchritudinis desiderium intellegite. Haec enim apud omnes philosophos amoris definitio est. Pulchritudo autem gratia quaedam est, quae ut plurimum in concinnitate plurium maxime nascitur. Plotin dagegen hatte in seiner Schrift über das Schöne I 6 [1] 1,20 ff. darauf hingewiesen, wenn Schönheit nur in der Symmetrie gesehen werde, könne es kein Schönes im Einen geben. Ficino hat später in der Theologia Platonica XII 3 ( II 162 ff. Marcel) differenziert: Die Idee des Schönen befindet sich im Einen; sie erscheint in der Vielheit der Dinge als Harmonie der Teile.

29) Platon, Symposion 211 b-c; Ficino, De amore S.42 und 48 Blum [ s.o. Anm.22].

30) Dazu Ute Oehlig, Die philosophische Begründung der Kunst bei Ficino. (Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 23, Teubner: Stuttgart 1992)

31) Plotin I 6 [1] 2-3.

32) Ficino, Theol. Plat. XIII 3 ( II 224 Marcel): Tractat (sc. homo) (...) elementa, lapides, metalla plantas et animalia et in multas traducit formas atque figuras (...) Vicem gerit dei, qui omnia elementa habitat colitque omnia. Deum quoque esse constitit elementorum qui habitat colitque omnia. Deum denique omnium materiarum qui tractat omnes, vertit et format.

33) Ficino, Theol. Plat. XIII 3 ( II 223 Marcel): Denique homo omnia divinae naturae opera imitatur et naturae inferioris opera perficit, corrigit et emendat.

34) Ficino, Theol. Plat. XI 4 ( II 114 s. Marcel); II 11 (I 109 Marcel). Dazu P.O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino [s.o.Anm.1] bes. S. 229 ff. Die Auffassung der Ideen als Gedanken Gottes ist Ficino ganz geläufig; sie begegnet schon im Mittelplatonismus bei Albinos. Willy Theiler hat sie auf Antiochos von Askalon zurückgeführt; vgl. dazu die Aufsätze von Roger Miller Jones und Audrey N.M. Rich in: Der Mittelplatonismus , Wege der Forschung Bd. 70, hrsg. C. Zintzen, Wiss.Buchgesellschaft: Darmstadt 1981; dort auch im Index s.v. Idee.

35) Vgl. Ficinos Brief an Lorenzo de‘ Medici in: S. Gentile, Marsilio Ficino, Lettere I, Firenze 1990, I 154.


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36) Ein schönes Zeugnis ist der Brief Ficinos vom 1. November 1495 an Gianfrancesco Pico della Mirandola, den Neffen des 1494 ermordeten Giovanni Pico della Mirandola. Der junge Pico hatte Ficino aufgefordert, Plotin zu übersetzen. In seiner Einleitung zur Plotinübersetzung hat Ficino seiner dankbar gedacht.

37) Eine gewisse Rancune des Lehrers zum Schüler, mindestens aber das Empfinden, in Konkurrenz zu stehen, legt der folgende Sachverhalt nahe: 1469 erschien die lateinische Übersetzung der Streitschrift In calumniatorem Platonis, die Bessarion schon 1454 in griechischer Sprache gegen Georg von Trapezunt gerichtet hatte. Ficino bedankte sich bei Bessarion für die Übersendung der Schrift, in der er das "Gold der platonischen Philosophie" wiederhergestellt sah (Brief bei Gentile [s.o.Anm.34] I 35 s.). Offensichtlich ließ Ficino sich durch die Schrift Bessarions zu seiner Theologia Platonica anregen, deren erste Anfänge in diese Zeit fallen. Zur gleichen Zeit sah sich Landino, der stets in engem gedanklichen Austausch mit Ficino stand, veranlasst, eine ähnliche Thematik wie Ficino in Angriff zu nehmen. Ehrgeizige Konkurrenz zum einstigen Schüler ist nicht auszuschließen. Landinos Werk De anima weist Übereinstimmungen zu Bessarion wie zu Ficino auf. Der große Gelehrte und begabte Poet Landino war Humanist, aber freilich kein Philosoph; so ist es verständlich, dass er für seine Schrift aus Bessarions Darstellung wie aus den Diskussionen in der Academia Platonica mit Ficino schöpft und zugleich die Vorlesung ausschreibt, die Argyropoulos 1460 in Florenz über die aristotelische Schrift De anima gehalten hatte. Wir besitzen die Nachschrift dieser Vorlesung des Donato Acciaiuoli (MS Magliabecchi V 42 in der Biblioteca Nazionale di Firenze) und können sie mit Landinos Ausführungen vergleichen. Vgl. dazu Ute Rüsch gen. Klaas, Untersuchungen zu Cristoforo Landino, De anima. Beiträge zur Altertumskunde Bd. 41, Teubner: Stuttgart 1993.

38) Ficino, Theol. Plat. XIII 3 (II 223 ss. Marcel) ; ich zitiere auszugsweise: (homo) ipsemet illa sua copia construit alimenta, vestes, stramenta, habitacula, suppellectilia, arma (...) Hinc proficiscitur inenarrabilis varietas voluptatum hos quinque sensus corporis oblectantium, quas ipsimet nobis proprio ingenio machinamur (...) Terram calcat, sulcat aquam, altissimis turribus conscendit in aerem (...) Quam mirabilis per omnem orbem terrae cultura. Quam stupenda aedificiorum structura et urbium. Irrigatio aquarum quam artificiosa. Vicem gerit dei qui omnia elementa habitat colitque omnia, et terrae praesens non abest ab aethere. Ähnlich hatte Giannozzo Manetti in der 1454 veröffentlichten Schrift De dignitate et excellentia hominis (III 20, p. 77,18 Leonhard) Künste, Bauwerke und Erfindungen des Menschen gewürdigt. Die von Filippo Brunelleschi 1436 fertig gestellte Kuppel des Florentiner Doms galt als ein Wunder menschlicher Ingenieurskunst. Zwanzig Jahre vor Manetti hatte schon Lorenzo Valla die Schönheit dieser Welt hervorgehoben in seinem Dialog De vero falsoque bono, ed. M. de Panizza Lorch, Bari 1970, I 21 p. 26 ss.

39) Ficino, Theol. Plat. XIII 3 ( II 226 Marcel): Cum igitur homo caelorum ordinem unde moveantur, quo progrediantur et quibus mensuris, quidve pariant, viderit, quis neget eum esse ingenio, ut ita loquar, pene eodem quo et auctor ille caelorum, ac posse quodammodo caelos facere, si instrumenta nactus fuerit materiamque caelestem.

40) Hermolaus Barbarus bei P.O. Kristeller, Supplementum Ficinianum II 213: Dicam de te quod sentio, Marsili, etiam cum periculo assentationis: Invidere tibi possunt omnes, sed possunt nec imitari nec reprehendere.

 

Prof. Dr. Clemens Zintzen

Präsident der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur