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Pegasus 2/ 2002, 25

Stefanie Manseck

Antike Mythen im Text-Bild-Vergleich: Eine Unterrichtsreihe in der Sekundarstufe I.

 

Mythen sind dazu da, von der Phantasie 

beflügelt zu werden. (Albert Camus)

.

Rezeption des Phaëton-Mythos durch einen Schüler der 8. Klasse

.

1 Einleitung: Der Mythos - Ein Glücksfall für den Lateinunterricht

1.1 "Die Jugend braucht Mythen"

1.2 Der Lateinschüler braucht Mythen

2 Theoretische Grundlagen und Planung

2.1 Der Text-Bild-Vergleich als Methode

2.1.1 Der veranschaulichende Vergleich

2.1.2 Der rezeptionshistorische Vergleich

2.1.3 Der darstellerische Vergleich

2.2 Die Unterrichtsreihe

2.2.1 Lernziele

2.2.2 Auswahl der Mythen

2.2.3. Didaktisch-methodische Struktur der Unterrichtsreihe

3. Durchführung und Unterrichtsmaterial

3.1 Die einzelnen Stunden

3.2.1   1. Stunde: Parisurteil (Schwerpunkt: Darstellerischer Vergleich)

3.2.2   2. bis 4. Stunde: Phaëton (Schwerpunkt: Veranschaulichender Vergleich)

3.2.3   5. und 6. Stunde: Lucretia (Schwerpunkt: Rezeptionsgeschichtlicher Vergleich)

3.2.4   7. – 10. Stunde: Vorbereitung und Durchführung des Museumsbesuchs

3.2.5   11. bis 13. Stunde: Eigenrezeption eines frei gewählten Mythos

4. Auswertung

4.1 Analyse der Rezeptionstätigkeit der Schüler

4.2 Bewertung der Effektivität der Methode

5. Literaturverzeichnis


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1. Einleitung: Der Mythos – Ein Glücksfall für den Lateinunterricht

1.1 "Die Jugend braucht Mythen"

Mit diesen Worten hat Paul Barié die alte Bettelheim-Forderung "Kinder brauchen Märchen" fortgeführt. In der Tat kann der Mythos eine wichtige Orientierungshilfe sein auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Wo Selbstreflexion und kritisches Bewusstsein erwachen und mit ihnen die Fähigkeit, komplexe Problemfelder differenziert zu betrachten, ist der Mythos ein Angebot, sich mit existentiellen Fragestellungen auseinanderzusetzen, und eine Aufforderung, dazu Stellung zu beziehen: "Der Mensch vermag sich in Übereinstimmung mit dem Mythos oder in Abhebung gegen ihn zu erkennen, wiederzuerkennen" (Wöhrmann, 21). Aber der Mythos ist nicht nur ein ‚Trainingsfeld jugendlicher Selbstfindung‘, sondern auch ein ästhetisches Lesevergnügen, das mit seinem phantastischen Personeninventar und fesselnden Handlungssträngen den Leser mitreißt, insbesondere den verspielten noch kindlichen Leser. So ermöglicht der Mythos für den Schüler der Sekundarstufe I eine ideale Lektüre: Seine phantastischen, häufig märchenhaften Elemente sprechen einerseits das Kind an, andererseits fordert der immanente Konfliktgehalt den Jugendlichen heraus. Es kommt zu einer Verschmelzung von Intuition und Logos.

1.2 Der Lateinschüler braucht Mythen

Wann immer sich das Fach Latein in legitimatorischer Bedrängnis befindet oder schulischen Nachwuchs rekrutieren möchte, kehrt es seine Sonnenseite als sprach- und kulturhistorisches Fach heraus und zieht als Trumpfkarte folgendes Argument aus dem Bausch der Toga: "Das Lateinische und mit ihm die römische und griechische Kultur bilden die kulturellen und geistigen Grundlagen Europas. (...) Europäische Schriftsteller und Künstler nehmen bis in unsere Zeit immer wieder antike Formen, Stoffe und Motive auf und gestalten sie neu."1 Bedauerlicherweise wird diesem Anspruch oftmals erst recht spät bei der Originallektüre nachgekommen. Dabei ist es gerade in der Lehrbuchphase wichtig, dass die Schüler Latein auch als kulturhistorisches Fach wahrnehmen und im Unterricht die geistes- und kulturgeschichtliche Bedeutung Roms und seiner Literatur bis in die heutige Zeit erfahren. In diesem Fall eignet sich der Mythos in besonderer Weise zur Sinnstiftung 2, wofür jedoch die bloße Kenntnis der Mythen nicht ausreicht. Gerade die nachhaltige Wirkung des Mythos auf die europäische Literatur-, Kunst- und Ideengeschichte muss den Schülern vor Augen geführt werden. Die rezeptionsgeschichtliche Betrachtung mythischer Stoffe erweist sich somit als Chance, den Schülern gerade in der Lehrbuchphase Sinn und Bedeutung des Lateinunterrichts bewusst zu machen und darüber hinaus die Interpretations- und Kulturkompetenz zu erhöhen. (vgl. Grau, 131)


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Ferner ist zu berücksichtigen, dass antike Mythen ein Schlüssel zum Verständnis der römischen Welt sind. Es ist kein Zufall, dass in der Geschichtsschreibung von Livius zahlreiche mythische Stoffe (Romulus und Remus, Lucretia etc.) präsent sind und dass die Herrschaft von Augustus durch Vergils Nationalepos Aeneis legitimiert wird und selbst Cicero in seinen Reden und philosophischen Schriften nicht auf die überzeugende Anschaulichkeit von Mythen verzichtet (z.B. Proserpina in den Verres-Reden). Daher erhält der moderne Leser nur mit gewissen mythologischen Grundkenntnissen Zugang zu den meisten antiken Texten. Somit ist Lektürefähigkeit, also die Fähigkeit lateinische Originaltexte zu lesen und zu verstehen, oftmals nur dann gegeben, wenn der Schüler auf die Kenntnis der wichtigsten Mythen zurückgreifen kann. Schließlich sollte man den Motivationswert der Mythen für den gesamten Unterricht nicht unterschätzen. Völlig zu Recht werden beispielsweise Ovids Metamorphosen für den Lateinunterricht als "Glücksfall" gewertet (Wöhrmann, 21). Erfahrungsgemäß werden gerade die Lehrbuchlektionen mit mythologischem Inhalt von den Schülern mit besonderem Interesse verfolgt, während viele der gängigen Sachthemen wie beispielsweise Philosophie, Geschichte oder Staatskunde trotz schülerorientierter Darstellung nicht so erfolgreich zu sein scheinen.

2. Theoretische Grundlagen und Planung

2.1 Der Text-Bild-Vergleich als Methode 3

Der Vergleich wird lerntheoretisch nicht nur als elementare Methode, sondern als Grundvoraussetzung des Erkenntnisgewinns begründet. Neuer Stoff wird nämlich erst in Bezug zu schon bekanntem Wissen erlernbar (vgl. Lohmann, 60). Durch Abgrenzung und Übereinstimmung gliedert der Vergleich die neuen Informationen in den bereits gefestigten Wissensbestand ein. So ist das Vergleichen eine Schlüsselkompetenz und zugleich ein didaktisches Postulat (vgl. Nickel, 37). Darüber hinaus fördert der Vergleich auch die Selbstständigkeit der Schüler. Die Schüler selbst sind die Akteure des Lernens, sie entdecken Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zu vergleichenden Gegenstände und werden auf den Problemgehalt aufmerksam. (vgl. Lohmann, 40-43). Der Lehrer schafft zwar die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, indem er die Vergleichsgegenstände auswählt und die Lernschritte organisiert, beim eigentlichen Lernakt steht er jedoch abseits (vgl. Lohmann, 41 f.). Im Hinblick auf die Vergleichsgegenstände Text und Bild fehlte in der didaktischen Literatur bisher eine genaue Analyse und Klassifizierung der verschiedenen Vergleichsebenen. Es wurden keine praktikablen Modelle erstellt, sondern eher allgemeine Ratschläge und Herangehensweisen formuliert. Daher ist an dieser Stelle eine kurze Bestandsaufnahme der didaktischen und methodischen Aspekte des Text-Bild-Vergleichs notwendig. Zuvor soll jedoch das Potenzial des Text-Bild-Vergleichs kurz dargestellt werden:

Der Text-Bild-Vergleich

  • vertieft die Anschauung der jeweiligen Mythen,

  • verdeutlicht die allgemeinen Unterschiede von textlicher (literarischer) und bildlicher (künstlerischer) Darstellung,

  • zeigt Rezeption und Nachwirkung der Mythen in der europäischen Geschichte und Gegenwart,

  • ermöglicht, die unterschiedlichen Aussagen von lateinischem Text und Rezeptionsdokument festzustellen und ihren Ursachen nachzugehen,

  • veranschaulicht das inhaltliche Potenzial des jeweiligen Mythos soweit, dass seine Gesamtaussage oder Teilaspekte auf die Gegenwart übertragen werden können (Aktualisierung),

  • macht die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten und Darstellungsarten von Literatur und Malerei nachvollziehbar,

  • befähigt und motiviert zur eigenen Rezeption und künstlerischen Umsetzung der Mythen.


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In diesem Zusammenhang kommen drei Formen des Vergleichs zur Anwendung, die einen neuen didaktisch-methodischen Ansatz bieten und im folgenden veranschaulichender, darstellender und rezeptionshistorischer Vergleich genannt werden. Der veranschaulichende Vergleich fokussiert die inhaltlichen Gemeinsamkeiten von Text und Bild und folgt der Fragestellung, was durch Text und Bild dargestellt wird. Beim rezeptionsgeschichtlichen sowie beim darstellerischen Vergleich richtet sich das Augenmerk auf die Unterschiede und Abweichungen der textlichen und bildlichen Darstellung. Es wird untersucht, wie das inhaltliche Thema in Text und Bild dargestellt wird und warum es so dargestellt wird. Dabei werden beim darstellerischen Vergleich die gestalterischen Mittel und Ausdrucksmöglichkeiten von Text und Bild untersucht und beim rezeptionsgeschichtlichen die bewusste Änderung von Aussageaspekten oder der Gesamtaussage. So wird sowohl den unterschiedlichen Darstellungsformen der zugrunde liegenden Medien Rechnung getragen als auch ihrer historisch-individuellen Besonderheit als kontextuell eingebettete Dokumente.

2.1.1 Der veranschaulichende Vergleich

Im Vorfeld der Lektüre dient der Bildeinsatz zur inhaltlichen Vorentlastung des Textes und zum Aufbau eines Erwartungshorizonts mit Hilfe von Leitfragen. Während der Lektüre kann so mit Unterstützung des Bildes eine natürliche Lesehaltung durch Hypothesenbildung und -überprüfung aufgebaut werden. Es findet ein impliziter Text-Bild-Vergleich als natürlicher Prozess der Dateneingliederung und -verarbeitung im Gehirn statt. Das Missverhältnis von sprachlichem und inhaltlichem Textverstehen aufgrund des hohen Dekodierungsaufwands des Lateinischen wird entschärft durch die bildhafte Vergegenwärtigung des Textinhalts. Nach der Lektüre ist das Bild Vergleichsgegenstand des expliziten und somit bewussten Text-Bild-Vergleichs. Durch den Fokus auf inhaltliche Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten werden die mythischen Inhalte von Text und Bild in wechselseitiger Erschließung anschaulich. Der Vergleich hat dabei den Charakter eines zu lösenden Rätsels, motiviert und erhöht die Lerneraktivität.

2.1.2 Der darstellerische Vergleich

Autor und darstellender Künstler beschreiten bei der Umsetzung desselben Stoffes auf Grund der gestalterischen Möglichkeiten, die durch ihr Medium bedingt sind, unterschiedliche Wege. Ganz anschaulich gesprochen setzen sich Texte aus Buchstaben, Bilder aus Formen und Farben zusammen. Aufgrund des unterschiedlichen Ausdrucksmaterials und der damit zusammenhängenden Dekodierungsvorgänge sind die prinzipiellen Ausdrucksmöglichkeiten von Bild und Text verschieden. Der größte Unterschied von textlicher und bildlicher Darstellung besteht darin, dass Literatur zeitlich Aufeinanderfolgendes darstellen kann, also Handlung, während Malerei Statisches darstellen muss, also eine Momentaufnahme, einen Augenblick. Das Problem von Bildern, sukzessive Ereignisse (Handlung) wiederzugeben, bedingt den Zwang, den fruchtbaren Augenblick (Argumentation nach Lessing, vgl. Piecha, 111) aus einem Text herauszulösen, also den Moment des Mythos, der Handlung und Aussage nach Meinung des Künstlers auf den Punkt bringt. Im Gegenzug dazu muss dieser Moment jedoch in allen Einzelheiten dargestellt werden - dies macht eine vertiefende Betrachtung möglich. Bei seinem schöpferischen Akt hat der Künstler also ‚gezwungenermaßen‘ die Freiheit, Angaben eines ihm als Inspirationsquelle dienenden Textes unberücksichtigt zu lassen und andererseits den dargestellten Augenblick mit zusätzlichen Informationen auszuschmücken. Ausgehend von dieser grundlegenden Bestandsaufnahme können die Theorie des fruchtbaren Augenblicks und folgende Gestaltungsformen der Malerei zur Darstellung von sukzessiven Handlungsabläufen erarbeitet werden, nämlich das Monoszenische Bild (Verschmelzung von Elementen verschiedener Phasen in einem Bild), das Pluriszenische Bild (simultane Darstellung aufeinander folgender Phasen) und die Bilderfolge (zwei oder mehr aufeinander folgende Bilder zu einem Thema). Des Weiteren kann der Schriftsteller in seinem Text konkrete Ereignisse und Personen benennen, während dies für den Maler schwierig ist. Daher hat die Malerei mit der Zeit spezielle Strategien und Konventionen entwickelt, um die dargestellten Inhalte zu konkretisieren. Im Verlauf der Reihe entdecken die Schüler diese besonderen Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei und können auf diese auch bei einer eigenen künstlerischen Betätigung zurückgreifen. Hierzu gehören u. a. die Bildperspektive (Vorder-, Mittel- und Hintergrund können zeitliche Abfolge oder inhaltliche Gewichtung darstellen), die Bildkomposition, die dargestellte Bewegung und Blickrichtung der Personen, ihre spezifischen Kennzeichen; ferner Bedeutung der Farbgebung, der Farb- und Helligkeitskontraste sowie die Verwendung von Umrisslinien zur Gliederung oder inhaltlichen Gewichtung.


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2.1.3 Der rezeptionsgeschichtliche Vergleich

Die meisten Rezeptionsdokumente entstehen als künstlerische Auseinandersetzung mit einem Stoff, bei der der Künstler bewusst inhaltliche Aspekte neu gewichtet und verändert, um die eigenen Mitteilungsintentionen einzubringen. Bei seinem schöpferischen Akt individualisiert und spezifiziert er durch Unterschiede (z. B. Blickwinkel und Details) die Aussage des zugrunde liegenden Themas. Der rezeptionsgeschichtliche Vergleich verdeutlicht somit nicht nur das Fortleben eines antiken literarischen Stoffes (vgl. Piecha 19), sondern auch seinen stetigen Wandel. Die Schüler erkennen, dass schon allein die Wahl des fruchtbaren Augenblicks ein subjektiver Akt ist, bei dem persönliche Interessen und Wertungen des Künstlers einfließen. Durch einen genauen Text-Bild-Vergleich können die Schüler weiterhin untersuchen, wie stark und aus welchem Grund der Künstler vom Mythos abweicht. Je mehr sich seine Umsetzung und inhaltliche Aussage von der lateinischen Originalfassung entfernen, desto eigenständiger ist seine Rezeption.4 Diese kann sich sogar so weit vom Originalstoff entfernen, dass das mythologische Motiv nunmehr als Vorwand für eine bestimmte Form der malerischen Darstellung fungiert. Da bis in das 19. Jahrhundert hinein die unangefochtene Meinung herrschte, "dass die Malerei nicht etwa nur eine ästhetische, sondern auch eine moralische, belehrende Funktion habe" (Piecha, 99), konnten sich bestimmte Formen der bildenden Kunst, wie beispielsweise Landschafts- oder Aktmalerei, nur unter dem Deckmantel der antiken Mythologie herausbilden. Der Rezeptionsstoff wurde somit für legitimatorische Zwecke benutzt. Diese verselbstständigte Rezeption ist die Radikalisierung der eigenständigen Rezeption. Somit werden bei der Suche nach den Gründen für eine bestimmte Rezeption nicht nur die persönliche Interpretation des Künstlers, sondern auch der historische Kontext und künstlerische Traditionen berücksichtigt, wobei den Schülern in schriftlicher Form Zusatzinformationen zu Künstler, Werk und historischem Kontext bereitgestellt werden.5

2.2 Die Unterrichtsreihe

2.2.1 Die Lernziele

Stärkung der Sprachkompetenz

  • Schüler lesen (d. h. übersetzen und verstehen) Mythen in lateinischer Sprache.

Stärkung der Kulturkompetenz

  • Schüler erarbeiten sich ein mythologisches Basiswissen.

  • Schüler erhalten einen Einblick in das Fortleben antiker Mythen in der europäischen Kunst.

  • Schüler erarbeiten darstellerische Unterschiede von Text (Literatur) und Bild (Kunst).

  • Schüler erhalten allgemeines und konkretes Rezeptionsbewusstsein.

Stärkung der Methodenkompetenz

  • Schüler vergleichen Bilder und Texte unter inhaltlichen und formalen Aspekten.

  • Schüler wenden den Vergleich als Methode zur Informationserschließung und Veranschaulichung an.


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Stärkung der Interpretationskompetenz und des Reflexionsvermögens

  • Schüler erarbeiten unterschiedliche Aussagen von Mythos und Rezeptionsdokument.

  • Schüler analysieren Ursachen dieser Aussagen.

  • Schüler erhalten einen Einblick in das Interpretationspotential mythischer Stoffe.

Förderung der allgemeinen Motivation

  • Schüler erfahren durch die Mythen, dass Inhalte des Lateinunterrichts für sie interessant und für die europäische Kultur bis heute bedeutend sind.

Förderung der emotionalen Anbindung

  • Schüler setzten sich persönlich sich mit Aussageaspekten der Mythen auseinander.

Förderung der Eigenständigkeit (und Kooperation)

  • Schüler erarbeiten selbstständig die Inhalte der Mythen und die Aufgaben zum Text-Bild-Vergleich.

  • Schüler orientieren sich alleine im Museum, führen selbstständig Arbeitsaufträge aus

  • Schüler planen und verwirklichen eigenverantwortlich und arbeitsteilig eine Führung.

Förderung der Kreativität

  • Schüler nehmen als produktive Rezipienten (Künstler) inhaltlich zum Mythos Stellung.

  • Schüler erstellen ein eigenes Rezeptionsdokument.

2.2.2 Auswahl der Mythen

Bei der Auswahl der Mythen wurden folgende Kriterien angewendet:

1. Exemplarizität für die antike Geistes- und Ideenwelt

2. Rezeptionshistorische Relevanz: Die Mythen sollen im Sinne von Friedrich Maier 6 "Stichwörter europäischer Kultur" oder "abendländische Symbolfiguren" sein, um an ihnen das Phänomen der Rezeption anschaulich darzustellen und bewusst zu machen.

3. Bezug zur Erfahrungswelt und der Interessenlage der Schüler: Der existenzielle Gehalt 7 der Mythen soll für die Schüler bedeutsam sein. Hierfür eignen sich inhaltliche Themenkreise wie Autoritätskonflikte sowie Liebe, Sexualität und Partnerschaft, die erfahrungsgemäß bei Schülern der Mittelstufe von besonderer Bedeutung sind, da mit der Pubertät das kritische Bewusstsein und das Interesse für das andere Geschlecht erwachen.


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Auf dieser Grundlage wurden für diese Unterrichtsreihe sieben Mythen ausgewählt:

Parisurteil:

Zu 1: Menschliche Schwächen der Götter/Die drei Hauptgöttinnen/Vorgeschichte des troianischen Krieges

Zu 2: Die sprichwörtliche Bedeutung des Begriffs "Zankapfel"

Zu 3: Die Qual der (Partner-) Wahl/Flirten/Entscheidungen und ihre Folgen

Phaëton:

Zu 1: Hybrisgedanke/Antike Vorstellung vom Kosmos

Zu 3: Eltern-Kind-Konflikt/Überschreitung zugewiesener Grenzen/Selbstüberschätzung

Lucretia: 8

Zu 1: Geschlechterrolle/römische Ehe und Familie/Ursache des röm. Königshasses

Zu 2: Lucretia als Ideal- und Sinnbild weiblicher Tugend und Keuschheit

Zu 3: Sexuelle Triebe vs. Keuschheit/sexuelle Gewalt/gesellschaftliche Reaktion

Europa:

Zu 1: Beispiel für eines der vielen Liebesabenteuer des Göttervaters

Zu 2: Namensgebung für Europa/Fokus europäischer Identifikation

Zu 3: Sexuelle Anziehung/rücksichtslose Eroberung

Perseus und Andromeda:

Zu 1: Hybrisgedanke/Sippenhaftung/Heroentum

Zu 2: Vielfältige Rezeption in der bildenden Kunst der Neuzeit

Zu 3: Sich verlieben/um den anderen kämpfen/‚sanfte‘ Eroberung


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Pyramus und Thisbe:

Zu 1: Bekannteste antike Liebestragödie

Zu 2: Vorlage für Shakespeares "Romeo und Julia"

Zu 3: Völlige Hingabe und Einsatz für den anderen/Liebe bis in den Tod

Deukalion und Pyrrha:

Zu 1: Antiker Schöpfungsmythos

Zu 3: Zweisamkeit/Kinderwunsch/gemeinsam Probleme bewältigen/reife Liebe und Partnerschaft

2.2.3 Didaktisch-methodische Struktur der Unterrichtsreihe und konkretes Vorgehen

In dieser Unterrichtsreihe werden die drei verschiedenen Text-Bild-Vergleichsformen angewendet. Der veranschaulichende Vergleich wird bei der Erarbeitung jedes Mythos eingesetzt, da die inhaltliche Veranschaulichung der Mythen ein Hauptziel dieser Reihe darstellt. Obwohl die logische Reihenfolge der thematischen Erarbeitung eines Mythos zunächst den veranschaulichenden Vergleich verlangt, steht zu Beginn der Unterrichtsreihe der darstellerische Vergleich im Vordergrund: Nur wenn die Vergleichsgegenstände und ihre prinzipiellen Unterschiede den Schülern bekannt sind, können die verschiedenen Vergleichsformen auf einer fundierten Basis zum Einsatz kommen. Dadurch wird zudem eine angemessene Kunstbetrachtung im Unterricht gewährleistet. Dementsprechend erfolgt der Reiheneinstieg anhand eines bereits bekannten Mythos, wobei sich das Parisurteil anbietet, da es in vielen Lehrbüchern behandelt wird. Der Mythos wird durch den veranschaulichenden Vergleich nur reaktiviert, während der darstellerische Vergleich detailliert vorgenommen wird. Erst anhand des Phaëton-Mythos wird der veranschaulichende Vergleich intensiv durchgeführt und reflektiert. Beim Lucretia-Mythos bildet schließlich die genaue rezeptionsgeschichtliche Betrachtung den Unterrichtsschwerpunkt. Durch die Erarbeitung der weiteren vier Mythen werden die Lerninhalte aller drei Vergleichsformen in selbstständiger Anwendung geübt, gefestigt und erweitert. Durch die anschließende Auswertung, durch die Vorbereitung und Durchführung der Ausstellung sowie durch die abschließende handlungsorientierte Eigenrezeption findet eine weitere Vertiefung und Verinnerlichung des Gelernten statt.

Bei der Erarbeitung eines jeden Mythos ist die Betrachtung des fruchtbaren Augenblicks unerlässlich. Er bildet somit die Brücke zwischen den verschiedenen Vergleichsformen und ist gleichzeitig ihr Referenz- und Ausgangspunkt: Der fruchtbare Augenblick ist einerseits anschauungsvermittelnde Darstellung der inhaltlichen Quintessenz des Mythos, andererseits darstellerische Notwendigkeit der Malerei und zugleich ein Akt künstlerischer Rezeption. Textgrundlage für die inhaltliche Erarbeitung der Mythen bilden vereinfachte adaptierte Originaltexte (Hygin, Ovid und Livius).9  Der Text-Bild-Vergleich wird auf der Basis von Gemälden der Renaissance, des Barocks und des Neoklassizismus 10 vorgenommen. Die ersten drei Mythen werden gemeinsam im Klassenverband erarbeitet, wobei die verschiedenen Aspekte des Text-Bild-Vergleichs exemplarisch behandelt werden. Dabei findet eine inhaltliche Progression vom Bekannten zum Unbekannten, vom Einfachen zum Komplexen, vom Konkreten zum Abstrakten statt. In dieser Phase der Unterrichtsreihe werden die entsprechenden Bilder in Form von farbigen OH-Folien in DIN A 4 im Klassenraum präsentiert.11


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Die restlichen vier Mythen werden bei völliger Lernerzentrierung arbeitsteilig und selbstständig in Gruppen erarbeitet. Die inhaltliche Angemessenheit sowie der Vereinfachungs- und Adaptionsgrad 12 der Texte minimieren das Risiko einer Überforderung. Autor (Ovid) und übergeordnete Thematik der Texte ((Liebes-)Beziehungen zwischen Mann und Frau) sind jeweils gleich, um die leistungshomogenen Arbeitsgruppen vor einheitliche Anforderungen zu stellen. Die expliziten Vergleichstätigkeiten sollen möglichst in direkter Auseinandersetzung mit dem Originalgemälde stattfinden. So wird den Schülern die unmittelbare Betrachtung der Werke und das direkte Erlebnis ihrer Wirkung ermöglicht. Sollte ein Besuch in der Gemäldegalerie Berlin nicht möglich sein, kann dieser Teil der Unterrichtsreihe auch als Simulation realisiert werden. Anschließend stellen die Schüler im Rahmen einer schülermoderierten Museumsführung oder im Rahmen einer Präsentation im Klassenraum ihre Ergebnisse vor. Als Interpretationsabschluss und zur Lernerfolgskontrolle werden die Schüler aufgefordert, eine persönliche Stellungnahme zu einem der erarbeiteten Mythen ihrer Wahl in Form eines Bildes abzugeben und so das Gelernte als Rezipient selbst anzuwenden. Als zusätzliche Motivation steht am Ende der Reihe eine Ausstellung der Werke, z. B. am Tag der offenen Tür.

3. Durchführung und Unterrichtsmaterial

3.1 Die einzelnen Stunden

3.2.1    1. Stunde: Parisurteil (Schwerpunkt: Darstellerischer Vergleich)

Unterrichtsmaterial:

Textgrundlage: Lektionstext 27 "Parisurteil" aus dem Lehrbuch Cursus Continuus

Weiteres Arbeitsmaterial: Arbeitsblätter (AB) Parisurteil 13, Gemälde von Carlo Innocenzo Carloni "Der Aufbruch der Göttinnen Juno, Venus und Minerva, geleitet von Merkur" (um 1727/30) und von Hendrick van Balen d. Ä. "Das Urteil des Paris" (1600)14

Phasenziele:

  • Die Schüler erarbeiten die unterschiedlichen darstellerischen Mittel von Text und Bild.

  • Die Schüler erarbeiten Strategien der Malerei zur Handlungsdarstellung und inhaltlichen Konkretisierung eines mythischen Stoffes.

  • Die Schüler erkennen den malerischen Zwang, den fruchtbaren Augenblick aus dem Mythos herauszulösen.

  • Die Schüler wenden die malerischen Bildstrategien zur Handlungsdarstellung und inhaltlichen Konkretisierung an.

Zu Beginn des Unterrichts wird das Carloni-Gemälde präsentiert. Im Rahmen des veranschaulichenden Vergleichs beschreiben die Schüler das Bild und erkennen, dass das eigentliche Verstehen eines Bildes nur durch genaues Betrachten möglich ist und oftmals kleine Details (wie der Apfel in Merkurs Hand) den Zugang zur Mitteilungsabsicht des Bildes ermöglichen. Nachdem die Schüler den dargestellten Mythos identifiziert haben, suchen sie im Rückgriff auf die Textgrundlage inhaltliche Übereinstimmungen von Text und Bild und reaktivieren den Inhalt des Mythos. Danach findet der darstellerische Vergleich statt. Diese Phase sollte im Klassenverband stattfinden, da die Untersuchung der generellen Unterschiede von Malerei und Literatur einen hohen Abstraktionsgrad erfordert und eine für Mittelstufenschüler ungewöhnliche ‚Grundlagenforschung‘ ist. Nachdem die Schüler auf diese Weise für die Schwierigkeit sensibilisiert worden sind, mit malerischen Mitteln Handlung und konkrete Inhalte auszudrücken, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Strategien des Malers zur Handlungsdarstellung und inhaltlichen Konkretisierung (Attribute der Götter, Bildkomposition). Dafür werden die Übungen 1 und 2 auf den Arbeitsblättern (AB) Parisurteil erarbeitet. Im Anschluss daran wird das Balen-Bild auf einer OH-Folie präsentiert. Die erste Bildbetrachtung wird mit dem Arbeitsauftrag eingeleitet, allgemeine Informationen zum Maler auf das Bild zu beziehen. (AB Parisurteil, Ü 3, Stillarbeit). In Gegenüberstellung zum Carloni-Bild wird die Theorie des fruchtbaren Augenblicks


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 nachvollziehbar, nämlich als Wahl der nach Meinung des Künstlers interessanten oder entscheidenden Szene des Mythos: Carloni hat den Aufbruch der Götter, Balen die Entscheidung von Paris als fruchtbaren Moment gewählt. Die nun erworbenen Kenntnisse werden anschließend anhand des Balen-Bildes in Stillarbeit vertieft und um die Aspekte Bildhintergrund (AB Parisurteil, Ü 4), weitere kennzeichnende Attribute (AB Parisurteil, Ü 5) und Blickrichtung (AB Parisurteil, Ü 6) erweitert. Abschließend werden die Ergebnisse noch einmal im Unterrichtsgespräch zusammengefasst und durch Tafelanschrieb gesichert.

Als Hausaufgabe bietet sich bei der Arbeit mit dem Lehrbuch Cursus Continuus ein Rückgriff auf einen anderen Mythos an: Bereits in Lektion 26 werden "Hercules und Cacus" mit einem Barockgemälde visualisiert. Die Schüler können den Mythos wiederholen, den fruchtbaren Augenblick des Gemäldes herausfinden und einen weiteren wählen, den sie einem eigenen Bild zugrunde legen würden. So vertiefen die Schüler nicht nur die neuen Kenntnisse im Transfer, sondern sie werden auch auf eine spätere eigene Rezeption vorbereitet und lernen frühzeitig, sich von der Sichtweise der Alten Meister zu lösen.

3.2.2    2. bis 4. Stunde: Phaëthon (Schwerpunkt: Veranschaulichender Vergleich)

Unterrichtsmaterial: 15

Textgrundlage: Stark vereinfachte Kurzfassung des Mythos von Ovid, adaptierte Auszüge des Originaltextes von Ovid, met. I 747 – II 400

Weiteres Arbeitsmaterial:

  zur Abbildung AB Phaëthon, Gemälde von Nicolas Poussin "Helios und Phaethon mit Saturn und den vier 

Jahreszeiten" (1629/30)

Phasenziele der 2. und 3. Stunde:

  • Die Schüler erarbeiten durch eine eingehende Bildbetrachtung eine Grundlage für das Textverständnis.

  • Die Schüler übersetzen die Kurzfassung des Phaëton-Mythos.

  • Die Schüler erarbeiten Gemeinsamkeiten von Text und Bild und den sog. fruchtbaren Augenblick.

  • Die Schüler übersetzen die adaptierten Auszüge des Ovidtextes und ordnen sie den Bildteilen zu.

  • Die Schüler gewinnen Methodenbewusstsein.

Zu Beginn der Erarbeitung des neuen Mythos wird das dazugehörige Kunstwerk wieder in Form einer farbigen OH-Folie präsentiert. Der Titel des Kunstwerkes wird dabei zunächst nicht genannt, um den Schülern die Möglichkeit zu geben, nach der inhaltlichen Erarbeitung des Mythos den fruchtbaren Augenblick zu benennen. Die Schüler haben einige Minuten Gelegenheit, für sich allein das Bild zu betrachten und ganz individuell Zugang zu finden, bzw. sich mit der Darstellung auseinander zu setzen. Auf diese Weise soll ein dem Kunstwerk und seinen Ausdrucksmöglichkeiten angemessener Dekodierungsvorgang initiiert werden.16 Danach wird das Bild im Unterrichtsgespräch beschrieben (Bildverstehen erster Ordnung). Anschließend werden Fragen an das Bild formuliert und an der Tafel fixiert. Dadurch soll bei den Schülern ein Erwartungshorizont aufgebaut und auch die anschließende Bildinterpretation vorbereitet werden (Bildverstehen zweiter Ordnung). Bildbeschreibung und Formulierung der Leitfragen geschehen im Unterrichtsgespräch, um eine gemeinsame Ausgangsbasis für die anschließende Übersetzung zu schaffen.17 Die Übersetzung erfolgt zunächst in Stillarbeit. Nach der Ergebnissicherung kommt der veranschaulichende Vergleich zum Einsatz. Dabei sollen die soeben erarbeiteten Inhalte im Bild wieder erkannt werden. Durch dieses Vorgehen können die zuvor aufgeworfenen Fragen zum Bild größtenteils beantwortet und die inhaltlichen Übereinstimmungen von Text und Bild bewusst werden. Daran schließt sich die Behandlung des fruchtbaren Augenblicks an.


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Da mit Hilfe des ersten Textes außer Sol und Phaëton keine weiteren Personen (personifizierte Jahreszeiten etc.) im Poussin-Bild identifiziert werden können, sollen die Schüler Hypothesen zu den anderen dargestellten Personen aufstellen. Diese sollen anschließend in Auseinandersetzung mit adaptierten Ovid-Auszügen überprüft, also verifiziert oder revidiert, werden. Die Textstellen werden übersetzt und den passenden Ausschnitten des Poussin-Bildes zugeordnet. So werden auch die zuvor aufgeworfenen konkreten Fragen an das Bild geklärt. Als Hausaufgabe erstellen die Schüler eine Skizze eines weiteren fruchtbaren Augenblicks. Hierdurch wird nicht nur der Phaëton-Mythos vertieft, sondern zugleich auch auf die spätere Eigenrezeption eines Mythos vorbereitet sowie die in der Stunde zuvor behandelten Bildstrategien reaktiviert.

In der vierten Stunde der Reihe bilden der darstellerische und der rezeptionshistorische Vergleich den Schwerpunkt:

Phasenziele:

  1. Die Schüler erhalten einen Einblick in das Wesen von Rezeption.

  2. Die Schüler vertiefen und erweitern ihre Kenntnisse im Hinblick auf die malerischen Strategien zur Darstellung der mythischen Handlung und ihrer inhaltlichen Konkretisierung.

Bei der gemeinsamen Auswertung der Hausaufgaben stellen die Schüler fest, dass die Wahl des fruchtbaren Augenblicks ein subjektiver Akt ist, bei dem die persönliche Interessenlage mit einfließt. Zur Ergebnissicherung dieser Erkenntnis wird der Merksatz "Rezeption ist eigenständig" an der Tafel fixiert und noch einmal diskutiert, wobei auch die Etymologie des Wortes Rezeption angesprochen werden sollte. Durch den anschließenden darstellerischen Vergleich von Ovid-Auszügen und Poussin-Bild, werden weitere malerische Strategien zur Handlungsdarstellung und inhaltlichen Konkretisierung erarbeitet. Dabei wird erkannt, dass sich Poussin bei seiner Rezeption ganz eindeutig an Ovid orientiert hat, aber dennoch von der antiken Vorlage bewusst abweicht, um die Bildaussage für den Betrachter zu verdeutlichen. So kann am Ende der Stunde die Eingangsthese "Rezeption ist eigenständig" auch durch den malerischen Zwang, gewisse inhaltliche Konzessionen zugunsten des besseren Verständnisses der Bildmitteilung zu machen, untermauert werden.

3.2.3    5. und 6. Stunde: Lucretia (Schwerpunkt: Rezeptionsgeschichtlicher Vergleich)

Unterrichtsmaterial:18

Textgrundlage: Adaptierte und stark vereinfachte Kurzfassung des Livius-Textes

Weiteres Arbeitsmaterial: zur Abbildung AB Lucretia, Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. "Lucretia" (1533)

Phasenziele:

  • Die Schüler erkennen durch den Text-Bild-Vergleich, dass das Cranach-Bild nur geringen inhaltlichen Bezug zum Livius-Text aufweist.

  • Die Schüler lernen die Bedeutung des Lucretia-Mythos in der europäischen Geistesgeschichte kennen.

  • Die Schüler erarbeiten, dass sich ein Rezeptionsdokument von dem ursprünglichen Vorbild stark entfernen und verselbstständigen kann.

Diese Doppelstunde dient dazu, weitere Elemente des Rezeptionsvorgangs zu verdeutlichen. Die Vorgehensweise zur inhaltlichen Erarbeitung des Mythos mit Hilfe des veranschaulichenden Vergleichs entspricht dem Verfahren beim Phaëton-Mythos. Allerdings wird die erste Bildbetrachtung und -beschreibung durch zwei Sachtexte über Cranach und Lucretia unterstützt (AB Lucretia, Ü 1). Ferner sollen die Schüler im Lucretiabild auf ihrem Arbeitszettel vier Fehler entdecken, während der Lehrer per OHF das unverfälschte Original präsentiert (AB Lucretia, Ü 2). Durch diese Aufgaben erhalten die Schüler wichtige Informationen, die für die Bewertung der Eigenständigkeit der Rezeption ausschlaggebend sind. Nach der Übersetzung wird der Lucretia-Mythos mit Hilfe des veranschaulichenden Vergleichs weiter inhaltlich erarbeitet und vertieft.19 Es folgt im fließenden Übergang der rezeptionsgeschichtliche Vergleich. Die Schüler untersuchen anhand des Cranach-Bildes und der adaptierten


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 Originalstellen von Livius und Ovid, inwieweit sich Cranach an die antiken Vorlagen gehalten und die Vor- und Nachgeschichte der Lucretia-Tragödie dargestellt hat (AB Lucretia, Ü 3 - 4). Aufgrund der starken inhaltlichen Reduktion des Cranach-Bildes auf die nackte Lucretia und den angesetzten Dolch erhebt sich die Frage, warum überhaupt Lucretia als Motiv gewählt wurde, wenn ihre eigentliche Geschichte nicht weiter beachtet wird. Für den Vergleich des Lucretia-Bildes mit den anderen Werken Cranachs (AB Lucretia, Ü 5) präsentiert der Lehrer wieder per OHF die entsprechenden Gemälde. Die Schüler erkennen, dass die eigentliche Intention für Cranachs Darstellung der Lucretia vermutlich die Aktmalerei, weniger die Bedeutsamkeit ihres Mythos gewesen sein dürfte (AB Lucretia, Ü 6). In der nachfolgenden Phase entziffern und übersetzen die Schüler eine Inschrift und schätzen ihre Bedeutung in Bezug auf Cranachs Lucretia-Gemälde ein (AB Lucretia, Ü 7). Nach einer gemeinsamen Auswertung der erarbeiteten Informationen erfolgt die Ergebnissicherung durch die Erweiterung des Merksatzes an der Tafel: "Rezeption ist eigenständig und kann sich sogar so weit vom Original entfernen, dass sie sich verselbständigt."

3.2.4   7. – 10. Stunde: Vorbereitung und Durchführung des Museumsbesuchs 20

Unterrichtsmaterial: 21

Textgrundlage: Adaptierte und stark vereinfachte Kurzfassungen der Ovid-Texte

Weiteres Arbeitsmaterial: AB Deukalion und Pyrrha, AB Europa, AB Perseus und Andromeda, AB Pyramus und Thisbe; Gemälde von zur Abbildung Giovanni Benedetto Castiglione "Deukalion und Pyrrha" (1655), Jacob Jordaens "Die Entführung der Europa" (um 1615/16),

  zur Abbildung Peter Paul Rubens "Perseus befreit Andromeda" (um 1620/22)

zur Abbildung Giuseppe Cesari "Perseus befreit Andromeda" (um 1594/98) und von

  zur Abbildung Hans Baldung "Pyramus und Thisbe" (um 1530).

Phasenziele:

  • Die Schüler erarbeiten den Inhalt der Mythen Deukalion und Pyrrha, Europa, Perseus und Andromeda sowie Pyramus und Thisbe.

  • Die Schüler vertiefen ihr Wissen über die zuvor behandelten Mythen und Formen des Text-Bild-Vergleiches.

  • Die Schüler erarbeiten eine Führung durch das Museum und reaktivieren und vertiefen dabei ihre Kenntnisse der drei Formen des Text-Bild -Vergleiches.22

  • Die Schüler wenden ihre Kenntnisse im Bereich der Mythologie und des Text-Bild-Vergleiches bei der Museumsführung an.

Zur Vorbereitung des Museumsbesuchs werden die Schüler in 2 x 4 arbeitsteilige Gruppen (möglichst á 3 Personen) eingeteilt und mit den entsprechenden Texten und s/w-Kopien der Gemälde ausgestattet. In Form einer vorbereitenden Hausaufgabe (wahlweise auch Stillarbeit im Unterricht) wenden die Schüler ihre Kenntnisse des veranschaulichenden Vergleichs an. Im nachfolgenden Unterricht stellen die Schüler in den (arbeitsgleichen) Gruppen ihre Übersetzungen vor und können so gegebenenfalls Übersetzungsfehler korrigieren. Durch eine anschließende Quergruppenbildung werden die Übersetzungen nochmals von den Schülern überprüft und eine endgültige Übersetzung erstellt.

Für den Museumsbesuch, bei dem der Text-Bild-Vergleich in direkter Auseinandersetzung mit den Gemälden erfolgt, erhalten die Schüler folgende Aufgaben:

  • Betrachtung der zuvor behandelten Gemälde, um neue Erkenntnisse und erstaunliche Details festzuhalten.23

  • Bearbeitung der Arbeitsblätter; Vorbereitung einer Führung zu ‚ihrem‘ Mythos, die sich aus Bildbeschreibung, Präsentation (Vorlesen oder Nacherzählen) des zugrunde liegenden Mythos und Bildinterpretation (Text-Bild-Vergleich) zusammensetzt.


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Zwei Verhaltensregeln sollen Schüleraktivierung, Kooperation, Lernorganisation und Selbstständigkeit in den Gruppen sicherstellen: Jeder Schüler soll einen Führungsteil und innerhalb der Gruppe eine Funktion als Zeitmanager, Materialwart und Organisator übernehmen. Für jede der beiden Aufgaben erhalten die Schüler eine halbe Stunde Zeit. Damit die arbeitsgleichen Gruppen unabhängig von einander arbeiten können, wird von den Gruppen mit der jeweils anderen Aufgabe begonnen. Nach einer Stunde beginnt die von den Schülern gestaltete Museumsführung unter Berücksichtigung der drei Teilaufgaben. Die Ergebnissicherung der Aufgabe A erfolgt im Rahmen einer gemeinsamen Betrachtung der Originale.

3.2.5    11. bis 13. Stunde: Eigenrezeption eines frei gewählten Mythos

Textgrundlage:

Alle bis dahin verwendeten Texte

Weiteres Arbeitsmaterial:

Alle bisher verwendeten Arbeitszettel und Bilder, außerdem Karikaturen, Comics, Grafiken.24

Phasenziele:

  • Die Schüler vertiefen ihre Kenntnisse über Formen künstlerischer Rezeption mythologischer Stoffe.

  • Die Schüler erhalten einen Einblick in Form und Inhalt aktueller Rezeptionsformen mythologischer Stoffe.

  • Die Schüler gestalten selbstständig einen antiken Mythos mit bildnerischen Mitteln.

Am Schluss der Reihe sollen die Schüler ein eigenes Rezeptionsdokument erstellen. Hierfür können sie einen der behandelten Mythen frei wählen. Als Gestaltungsanregung werden die Schüler mit modernen Rezeptionsformen mythologischer Stoffe bekannt gemacht, und zwar mit Karikaturen, Comics und Collagen. Anhand des Zitats von Albert Camus ("Mythen sind dazu da, von der Phantasie beflügelt zu werden.") wird noch einmal darauf hingewiesen, dass der Gehalt eines Mythos individuell interpretiert und auf die eigene Zeit angewendet werden darf und sogar soll. Bei der kreativen Arbeit wird den Schülern nicht nur der Rezeptionsprozess bewusst vor Augen geführt, sondern es können noch weitere wertvolle Aspekte hinzukommen, nämlich Förderung der Kreativität, nochmalige vertiefte Beschäftigung mit dem Text, Methodenvariation, Förderung emotionaler Anteilnahme, Stolz auf das eigene Produkt, positive Wirkung nach außen, Vernetzung der wichtigsten Lerninhalte und Interpretationsabschluss anhand einer "persönlichen Stellungnahme in Form eines Bildes" (Piecha, 142).

Die Eigenrezeption erfolgt in Kooperation mit dem Kunstunterricht. Um den zeitliche Rahmen auf eine Doppelstunde zu beschränken, sollen die Schüler im Rahmen einer Hausaufgabe einen für sie interessanten Mythos auswählen, sich über ihre eigene Aussageintention klar werden und eine erste Skizze anfertigen. Die Skizzen werden dann zu Beginn der Doppelstunde im Teamteaching vor dem Klassenverband besprochen, wobei mögliche inhaltliche und darstellerische Verbesserungsvorschläge eingebracht werden können. Bei der eigentlichen Erstellung ihrer eigenen Rezeption arbeiten die Schüler selbstständig.


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4. Auswertung

4.1. Analyse der Rezeptionstätigkeit der Schüler

Bei der Erstellung des eigenen Rezeptionsdokumentes haben die Schüler konzentriert gearbeitet und sich ihrem Mythos phantasievoll genähert. Der Arbeitsauftrag wurde von den Schülern nicht als Überforderung wahrgenommen, sondern als Herausforderung. Gerade die schwächeren Schüler gingen eifrig zu Werk. Hier zeigten sich die motivatorischen, anschauungs-vermittelnden und leistungsüberbrückenden Effekte des Text-Bild-Vergleiches besonders deutlich. Mit ihren Arbeiten wiesen die Schüler nach, dass sie in allen Kenntnisbereichen erhebliche Lernerfolge erzielt hatten. Den Schülern waren die zugrunde liegenden Mythen inhaltlich so präsent, dass es ihnen kaum Probleme bereitete, sie in eigenständiger Rezeption darzustellen, auf die heutige Zeit und ihre persönliche Lebenserfahrung zu übertragen oder ihnen eine neue Aussage zu geben. So fährt beispielsweise der Phaëton des 21. Jahrhunderts mit Papas Wagen gegen einen Baum.

Bezüglich der Darstellungsart wurden alle drei Möglichkeiten realisiert: monoszenische und pluriszenische Darstellung sowie Bilderfolge (s. Deckblatt). Dass diese Darstellungsformen reflektiert eingesetzt worden sind, bezeugen einige Bildertitel, in denen die Schüler ganz dezidiert auf ihre Darstellungsart hinweisen. Eine Schülerarbeit hieß beispielsweise: "Pluriszenisches Bild von Pyramus und Thisbe." Pyramus und Thisbe werden von zwei Blumen symbolisiert, die Phasen ihrer Liebe (gemeinsame Jugend, Sterben, Vereinigung im Tod) werden nebeneinander dargestellt. Darüber hinaus haben die Schüler auch viele andere besprochene künstlerische Mittel bei ihrer Mythenrezeption eingesetzt.

Das Thema Liebe und Sexualität war in vielen Zeichnungen präsent. Dies zeigt m. E., dass die inhaltlichen Auswahlkriterien für die Mythen angemessen und anregend waren. Die Tatsache, dass sich auch die Alten Meister recht freizügig mit Nacktheit umgegangen sind, hat die Schüler vermutlich zusätzlich motiviert und ihnen die Scheu vor Akt-Darstellungen genommen. So wurde das Parisurteil allein auf Paris und Venus reduziert, die ganz offensichtlich mit ihren Reizen wirbt. Damit hat der Schüler den Aspekt der Brautschau, der auch auf dem Balen-Bild erkennbar ist, noch intensiviert und gleichzeitig die tragische Folge der Entscheidung stärker betont, indem er die Szene direkt vor Troia positioniert und mit schwarzen Wolken, die sich mit der Bewegung des dargereichten Apfels ins Bild schieben, auf das nahende Unheil hinweist.

Eine Schülerin versetzt Venus und Amor in eine bukolische Szene: Der verspielte Amor (herzförmige Flügel) springt vor einem Wasserfall in einen Fluss und hält sich dabei die Nase zu. Venus sitzt am Ufer und streckt genüsslich die Beine ins Wasser. Die Idylle wird noch unterstrichen durch einen umherflatternden Schmetterling. Damit präsentiert die Schülerin einen bewussten Gegenentwurf zu den beiden "düsteren" und mahnenden Venus und Amor-Gemälden Cranachs, die im Zusammenhang mit dem Lucretia-Mythos behandelt worden sind.


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Eine weitere direkte Auseinandersetzung mit den Originalgemälden der Alten Meister ist das Bild "Perseus, der Held." Durch Größe und Gefährlichkeit des Ungeheuers, das in den Darstellungen von Rubens und Cesari eher "niedlich" anmutet, betont die Schülerin den heldenhaften Einsatz von Perseus und weist durch den überdimensionalen Flügelschuh in Abgrenzung zu dem barocken Pegasus auf das Original-Fluggerät des Helden hin.

 

Eine andere Schülerin hat den Mythos bewusst umgewertet und ihm eine völlig neue Aussage gegeben. Die antike "Jungfrauenrettung" wurde umgedeutet als blutrünstiges Verbrechen gegen die Tierwelt. Perseus lacht und Andromeda streckt sogar die Zunge heraus, von Fesseln oder gar Ketten keine Spur. Ihr Bildtitel lautet "Rettet die Wale!"

Eine Schülerin konnte bei der Erstellung ihrer Eigenrezeption im Nachhinein durch den Hinweis ihrer Mitschüler zu einem richtigen Textverständnis gelangen: Auf ihrem pluriszenischen Bild stellte sie in einem römischen Atriumhaus die Vergewaltigung und den Selbstmord der Lucretia dar, sowie auf den Forum Romanum die Empörung des Volkes und die Vertreibung des Königs. Im Widerspruch zu dem Mythos ist der König jedoch auch bei dem Selbstmord der Lucretia dabei und trägt sie anschließend reumütig auf das Forum.

Einige Schüler haben sich den mythischen Themen sehr humorvoll genähert und wichtigen Schlüsselszenen die Schwere genommen, indem sie sie karikiert haben: Das Parisurteil als Torwurf (Titel: "(Parisurteil) 1, 2 oder 3") oder der Sturz des Phaëton als Moorhuhnjagd.

Keiner der behandelten Mythen blieb ohne Schülerrezeption. Daraus lässt sich schließen, dass die ausgewählten Mythen ansprechend waren, einen deutlichen Bezug zu der Erfahrungs- oder Gedankenwelt der Schüler aufwiesen und einen für sie fassbaren existenziellen Gehalt hatten.

 

 

4.2 Bewertung der Effektivität der Methode

Der veranschaulichende Vergleich milderte vor und bei der Lektüre den hohen Dekodierungsaufwand des Lateinischen, entlastete den lateinischen Text inhaltlich und erleichterte den Zugang zu den Mythen. Dabei ist bei der ersten Bildbetrachtung darauf zu achten, dass die Schüler das Bild tatsächlich nur beschreiben und nicht der Versuchung unterliegen, es gleich zu interpretieren. Durch die sich dabei ergebenden Fragen ließ sich ein Erwartungshorizont aufbauen, der das Interesse für den lateinischen Text weckte und die Übersetzungsarbeit durch implizite Vergleichstätigkeiten förderte. Nach der Lektüre vermittelte der explizite veranschaulichende Vergleich ein vertieftes Verständnis des Textinhaltes, initiierte durch das Beispiel des Gemäldes innere Bilder und bewirkte so letztendlich Anschauung des Geschriebenen. Die Identifizierung des fruchtbaren Augenblicks war für die Schüler fast immer problemlos zu meistern.25 Die Suche nach Gemeinsamkeiten von Text und Bild führte zu einer nochmaligen Überprüfung und detaillierten Auseinandersetzung mit dem Text und zur weiteren Festigung des Mythos. Durch die Reflexion der Methode konnten den Schülern Schlüsselkompetenzen vermittelt werden, die ihnen in Zukunft den Umgang mit Texten in anderen Sprachen erleichtern dürften.


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Der darstellerische Vergleich diente zur Auseinandersetzung mit den prinzipiellen Ausdrucksmöglichkeiten von Text und Bild, um so die interdisziplinäre Betrachtung von Malerei und Literatur auf eine solide Grundlage zu stellen und die Eigenständigkeit der Rezeption objektiv bewerten zu können. Bei dem hier vorgestellten Konzept hat sich m. E. die Vorgehensweise in zwei Schritten bewährt. Der generelle Vergleich von Text und Bild am Beispiel des Parisurteils sensibilisierte und schuf ein Problembewusstsein für die Schwierigkeit der bildlichen Darstellung von Mythen. Anschließend konnten verschiedene Strategien der Malerei zur Handlungsdarstellung und inhaltlichen Konkretisierung als Lösungsansätze erarbeitet und diese im weiteren Verlauf der Reihe erweitert und vertieft werden.26 Dass die Schüler die verschiedenen malerischen Strategien nicht nur verstanden und nachvollzogen, sondern auch verinnerlicht haben, bezeugen die Schülerarbeiten, bei denen eben diese Strategien zum Einsatz kamen.

Der rezeptionsgeschichtliche Vergleich hat den Schülern einerseits das Fortleben und die ungebrochene Aktualität der antiken Stoffe demonstriert und somit den Lateinunterricht aufgewertet. Andererseits hat er den Schülern verdeutlicht, dass Mythen zu unterschiedlicher Auslegung herausfordern.27 Es zeigte sich allerdings, dass bei dem rezeptionsgeschichtlichen Vergleich ganz gezielte Arbeitsaufträge und funktional ausgewählte Zusatzinformationen und Denkanstöße nötig sind, damit die Schüler die jeweilige subjektive Aussage des Künstlers selbstständig entdecken können. Das Wissen von Eigenständigkeit und Verselbstständigung von Rezeption sowie die zuvor erlangte vertiefte Anschauung der Mythen befähigten die Schüler im Zusammenspiel mit dem appellativen Charakter der mythischen Aussagen zu einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Die angefertigten Schülerarbeiten belegen, dass das Prinzip der Rezeption als subjektive Nachempfindung von mythischen Aussagen verstanden und das inhaltliche Potenzial soweit verinnerlicht wurde, dass sie Inhalte des Mythos unter persönlicher Gewichtung bildnerisch ausdrücken und gegebenenfalls auf die Gegenwart und die eigene Situation anwenden können.

Mythos und Text-Bild-Vergleich motivierten und aktivierten die Schüler in hohem Maße und bewirkten eine starke Lernerzentrierung. Die Mythen provozierten zur Auseinandersetzung und durch Identifikation oder Distanzierung erhielten die Inhalte einen starken Lernerbezug. Dabei erwiesen sich die bildliche und textliche Verschlüsselung der Botschaften als ein besonderer Anreiz: Die Lust am Entdecken stand im Vordergrund, während Übersetzung und Analyse als wichtige methodische Hilfsmittel begriffen wurden. Dementsprechend umfangreich waren die Beobachtungen der Schüler. Dabei wurden meine Erwartungen zum Teil bei Weitem übertroffen und viele Details in den Bildern entdeckt und interpretiert, die ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Darüber hinaus förderte der Text-Bild-Vergleich die Fähigkeit der Schüler, bei Über- und Fehlinterpretationen die vorhergehende Fehleinschätzung in der Retrospektive kritisch zu betrachten und durch eine offene und flexible Grundhaltung das eigene Urteil zu revidieren. Dies sind gemäß der konstruktivistischen Lerntheorie grundlegende Kompetenzen zur Strukturierung der eigenen Lernorganisation.

5. Literaturverzeichnis

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Freitag, Christiane: Altsprachlicher Unterricht und Moderne Kunst. Lektüreprojekte, Bamberg 1994

Freitag, Christiane: Bild und Textverständnis – am Beispiel von Barry Mosers Zyklus "Darkness Visible" zu Vergils "Aeneis", in: AU 3/97, 69-79


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Frings, Udo: Antike-Rezeption im altsprachlichen Unterricht. Die Alten Sprachen und die moderne Rezeptionsforschung, Bamberg 1984

Glücklich, Hans-Joachim: Anschauung. Veranschaulichung. Visualisierung, in: AU 1 +2/90, 30-43

Granobs, Roland (Hrsg.): Antiker Mythos in Text und Bild von Äneas bis Vertumnus. Antikenrezeption auf Werken der Gemäldegalerie Berlin. Mit Beiträgen von Birgit Drechsler-Fiebelkorn, Renate Eilers, Roland Granobs, Stefanie Manseck, Dagmar Neblung, Jürgen Reinsbach, Johanna Salsa, Lola Witt, Berlin 2001

Grant, Michael; Hazel, John: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München 1980

Grau, Peter: Texte lesen mit Bildern. Rezeptionsdokumente in den neuen Schulausgaben, in: Maier, Friedrich: Latein auf neuen Wegen. Alternative Formen des Unterrichts, Bamberg 1999

Gudjons, Herbert: Ein Bild ist besser als 1000 Worte. Mit den Augen lernen, in: Pädagogik 10/94, 6-10

Heck, Stephanie Bettina: Der Europa Mythos. Eine Unterrichtsreihe in einer 9. Klasse des Gymnasiums mit Latein als erster Fremdsprache. Darstellungsschwerpunkt: Einsatz von Texten und Bildern als wechselseitige Erschließungs- und Interpretationshilfe, Berlin 1996 (nicht veröffentlichte Staatsexamensarbeit).

Lohmann, Dieter: Dialektisches Lernen. Die Rolle des Vergleichs im Lernprozeß, Stuttgart 1973

Maier, Friedrich: Antike und Gegenwart. Europa - Ikarus - Orpheus. Abendländische Symbolfiguren in Ovids Metamorphosen, Bamberg 1998

Ders.: Antike und Gegenwart. Stichwörter der europäischen Kultur, Bamberg 1992

Ders.: Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bd. 1: Zur Theorie und Praxis des lateinischen Sprachunterrichts. 4. Aufl., Bamberg 1994. Bd. 2: Theorie des lateinischen Lektüreunterrichts, Bamberg 1994. Bd. 3: Zur Praxis des lateinischen Lektüreunterrichts, Bamberg 1995

Manseck, Stefanie; Salsa, Johanna: Das Paris-Urteil. Ein Beispiel für die Umsetzung von "Antiker Mythos in Text und Bild" im Lateinunterricht, in Pegasus Online Zeitschrift 3/2001, 28-44

Nickel, Rainer: Vergleichendes Interpretieren, in AU 4+5/93, 37-53

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Wöhrmann, Jürgen: Ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt. Eine mythisch-mythologische Gestalt in Text und Bild, in: AU 3/97, 21-3


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Anmerkungen

1 vgl. Deutscher Altphilologenverband (hrsg.), Latein für Alle - Omnibus (1998), S. 10

2 Weil der Mythos zur Auseinandersetzung provoziert, hat jede Zeit ihre spezifische Auslegung, und der mythologische Stoff wurde immer wieder "neu gedeutet, neu geformt, neu gestaltet" (vgl. Wöhrmann, 21).

3 Teile dieses Abschnittes sind bereits im Pegasus 3-2001 (Johanna Salsa, Stefanie Manseck: Das Paris-Urteil. Ein Beispiel für die Umsetzung von "Antiker Mythos in Text und Bild" im Lateinunterricht) veröffentlicht und umfangreicher dargestellt.

4 Bei der Bewertung der Eigenständigkeit bzw. der Verselbstständigung der Rezeption ist die Frage, ob immer lateinische Texte die Quelle des Künstlers waren, problematisch. Es lässt sich nämlich nicht immer nachweisen, "daß ein bildender Künstler für seine Fassung eines antiken Stoffes sich direkt mit einem bestimmten Text ... auseinandergesetzt hat." (Piecha 19) Oftmals wurden andere Quellen benutzt, etwa Handbücher zu mythologischen Themen oder andere Werke der bildenden Kunst. Trotzdem dürfte es zulässig sein, auch in diesen Fällen den Begriff "Rezeptionsdokument" beizubehalten. Einerseits können die vom Künstler verwendeten Quellen oftmals nicht mehr eruiert werden, andererseits bleibt der Sachverhalt im eigentlichen Sinne unverändert: Das Kunstwerk dokumentiert die Rezeption des mythischen Stoffes. (vgl. Piecha, 19).

5 Für Peter Grau ist diese Verfahrensweise eine generelle Pflicht bei der Verwendung von Kunstwerken im Lateinunterricht: "So genügt es nicht, dass ein Bild nur mit einer knappen Erklärung (Titel, Künstler, Aufbewahrungsort) versehen wird. (...) In einem kurzen Informationsblock zu den einzelnen Bildern müssen die wichtigsten Fakten in einer Lehrern wie Schülern verständlichen Formulierung zusammengefasst werden." (134)

6 Siehe vollständigen Titel von Maier 1992 und Maier 1998.

7 Der Begriff existenzieller Gehalt bezeichnet hier und im Folgenden die symbolische Verdichtung der allgemeinen menschlichen Urerlebnisse in den Mythen. An anderer Stelle werden sie in Abgrenzung von der historischen Wahrheit auch als "parageschichtliche Wahrheiten" bezeichnet. (Grant/Hazel, 6)

8 Der Lucretia-Stoff nimmt in dieser Aufstellung eine Sonderrolle als‚historischer Mythos‘ ein. Es handelt sich hier um eine genuin römische Erzählung, die nicht von den Griechen inspiriert ist und in ihrer historischen Einbindung eher dem Wesen einer Sage nahe kommt.

9 Da eine Veröffentlichung des gesamten Materials zu dieser Reihe in einem Schulbuchverlag bevorsteht, können die entsprechenden Texte bedauerlicherweise hier nicht zur Verfügung gestellt werden. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Autorin (Stefanie.Manseck@berlin.de).

10 Gemälde dieser Stilrichtungen lassen einen deutlichen Textbezug erkennen und sind den Schülern der Sekundarstufe I angemessen (vgl. Steinhilber 1982, 8 f.; Freitag, 8). Ihre mimetische Abbildungstechnik vereinfacht die Dekodierung der inhaltlichen Informationen und ist eine echte Hilfe bei der Texterschließung. Die künstlerische Freiheit der inhaltlichen Ausgestaltung ist für den Schüler angemessen, um wichtige Aussagen des Mythos wieder erkennen, interpretatorisch tätig werden und Rezeption eigenständig durchführen zu können. Durch ihre fast fotografische Abbildungstechnik, ihre beeindruckende Größe, ihre detailgetreue Ausgestaltung und ihre kunstgeschichtliche Bedeutung sprechen die Bilder an und fordern heraus. Zur Verdeutlichung der Fortwirkung antiker Stoffe sind Werke der Renaissance, des Barocks und Neoklassizismus besonders geeignet, da ja die Antike bewusst wieder belebt wurde.

11 Mit Ausnahme des Poussin-Bildes zum Phaëton-Mythos sind alle für diese Unterrichtsreihe notwendigen Bilder in farbiger Photoqualität abgedruckt in: Granobs 2001. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Autorin (Stefanie.Manseck@berlin.de).

12 Die Adaption der Texte wurde so vorgenommen, dass Wortwahl und grammatische Konstruktionen des Originals weitgehend erhalten blieben. Die charakteristischen Handlungselemente und die Gesamtaussage wurden dabei nicht beeinträchtigt. Allerdings mussten der Textumfang teilweise erheblich reduziert, verschachtelte Konstruktionen vereinfacht und den Schülern unbekannte Konstruktionen durch Bekanntes ersetzt werden. Die didaktische Intention dieser Reihe rechtfertigt den Einsatz adaptierter Fassungen der Mythen. Einerseits ist für die inhaltliche Erarbeitung der mythischen Themen "die Originallektüre nicht zwingend erforderlich" (Nickel, 39), andererseits kann bei dem vertiefenden Text-Bild-Vergleich aufgrund der anthropogenen Voraussetzungen nicht in die Tiefen einer detaillierten Stil- und Bildanalyse vorgestoßen werden, so dass das Postulat der Originalsprachlichkeit hinfällig wird.

13 Adaptierte Version der Arbeitsblätter mit entsprechendem Übungsmaterial (Ü) von Roland Granobs, aus: Granobs (2001). Da eine Veröffentlichung in einem Schulbuchverlag bevorsteht, können die adaptierten Arbeitsblätter bedauerlicherweise hier nicht zur Verfügung gestellt werden. Es lässt sich allerdings auch mit den nicht adaptierten Arbeitsblättern arbeiten. Die Broschüre kann für 6 Euro bei den Besucherdiensten der SMPK bestellt werden (Bodestr. 1-8, 10178 Berlin, Frau Försterling, Tel. 030 2090 5501 / Fax 030 2090 5502).


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14 Mit freundlicher Genehmigung der Gemäldegalerie wurden die betreffenden Gemälde, soweit im Internet vorhanden, mit Hilfe von Links zur Betrachtung zugänglich gemacht.

15 Da eine Veröffentlichung in einem Schulbuchverlag bevorsteht, kann das entsprechende Material hier leider nicht zur Verfügung gestellt werden. Allerdings lässt sich die hier beschriebene Vorgehensweise auf jeden beliebigen anderen Mythos übertragen und hat somit exemplarischen Charakter. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Autorin (Stefanie.Manseck@berlin.de).

16 Weil "explizite bildliche Verarbeitungsstrategien" (Piecha, 114) fehlen, ist der Betrachter in der Abfolge seines Wahrnehmungsvorgangs relativ frei und nicht wie ein Leser an eine Leserichtung gebunden. Er kann einzelne Details länger, wiederholt oder gar nicht ansehen. Diesem ungesteuerten Dekodierungsvorgang muss Rechnung getragen werden, indem sich die Schüler ohne zeitlichen Druck beim Einstieg in das neue mythische Thema, ihren eigenen Interessen und Fragestellungen folgend, mit dem Bild auseinandersetzen können.

17 In dieser Vorbereitungsphase des veranschaulichenden Vergleichs kann auch eine zum Übersetzungstext hinführenden Wortschatzarbeit vorgenommen werden, indem die im Text vorkommende Lexik dem Bild zugeordnet wird.

18 Arbeitsblätter und Bilder aus: Granobs (2001). Da eine Veröffentlichung in einem Schulbuchverlag bevorsteht, kann die Textgrundlage bedauerlicherweise hier nicht zur Verfügung gestellt werden.

19 Anders als bei Phaëton geschieht dies nicht unter Zuhilfenahme neuer Textstellen, sondern in direktem Rückgriff auf den übersetzten Text. Die Gemeinsamkeiten werden herausgestellt, die Leitfragen geklärt und der fruchtbare Augenblick benannt.

20 Ist ein Besuch der Gemäldegalerie Berlin nicht möglich, kann dieser Teil der Unterrichtsreihe auch in Form einer Simulation im Klassenraum durchgeführt werden. Dazu werden die entsprechenden neuen Gemälde als Farbkopien im Klassenraum aufgehängt.

21 Nicht adaptierte Arbeitsblätter und Bilder sind zu finden in: Granobs (2001). Da eine Veröffentlichung in einem Schulbuchverlag bevorsteht, können die adaptierten Texte und Arbeitsblätter bedauerlicherweise hier nicht zur Verfügung gestellt werden.

22 Dieses Phasenziel entfällt bei einer eventuellen Simulation des Museumsbesuchs.

23 Diese Aufgabe entfällt bei einer eventuellen Simulation des Museumsbesuchs, da neue Erkenntnisse nur durch intensive Beobachtung des Originals erwartet werden können.

24 Karikaturen und Comics zum Europa-Mythos lassen sich finden in: Maier (1998). Eine moderne Grafik von Melissa Burns zu Deukalion und Pyrrha lässt sich im Internet auf der Seite von Z. Philip Ambrose, Professor an der University of Vermont, herunterladen unter: Slide a5 

25 Lediglich bei dem Phaëton-Mythos gab es einen schwerwiegenden, im Nachhinein jedoch sehr fruchtbaren Irrtum. Die Schüler interpretierten die dargestellte Szene nicht als die Bitte Phaëtons um den Sonnenwagen, sondern als Verzweiflung nach dem Sturz des Phaëton. Diese These wurde untermauert mit einer stringenten bildbezogenen Argumentation: Der schwarze Bildhintergrund oben links verweist auf den sonnenlosen Tag, zwei Menschen zeigen zusätzlich besorgt dorthin und machen auf das Fehlen der Sonne aufmerksam, im Hintergrund rechts ist der brennende Erdkreis zu sehen, der zusammengekauerte Mann vorne links ist der verbrannte Phaëton oder sein trauernder Vater Phoebus, die Sonne, die nicht scheint. Alle Menschen und sogar die Götter, die durch den geflügelten Mann Mitte rechts symbolisiert werden, haben Angst und sind ratlos, nur Bacchus vorne rechts nimmt in seinem Rausch die Katastrophe nicht wahr.Durch die Übersetzung und Zuordnung der Ovidauszüge konnten die Schüler selbstständig ihr Urteil revidieren und den richtigen fruchtbaren Augenblick identifizieren. In der anschließenden Reflexionsphase wurde den Schülern ihre Vorgehensweise und auch die Notwendigkeit, bei neuen und widersprechenden Informationen mit vorherigen Hypothesen und Erwartungen flexibel umzugehen, bewusst. Lernen und Lesen wurden als dialektische dynamische Prozesse von Hypothesenbildung und -überprüfung wahrgenommen und begriffen.

26 Wie wichtig es ist, die Schüler mit solchen Kenntnissen auszustatten, zeigte sich besonders bei dem Phaëton-Bild von Poussin, das als direkte, geradezu illustrierende Rezeption der Ovid-Fassung des Mythos gewertet werden kann. Dort wurde deutlich, dass der Maler, auch wenn er den Text möglichst "originalgetreu" wiedergeben möchte, dennoch einige Details wie Farben, Bekleidung oder Personen bewusst ändern muss, um die Bildaussage verständlich zu machen. Ohne die Sensibilisierung der Schüler für die zum Teil eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei hätte dieses Ergebnis nicht herausgearbeitet werden können.

27 Insbesondere bei der Auseinandersetzung mit den drei Bildern zu "Perseus und Andromeda" wurde den Schülern noch einmal deutlich, dass nur geringe Unterschiede der künstlerischen Perspektive dem Mythos eine völlig neue Aussage verleihen. So steht bei Rubens erster Rezeption des Mythos (1619/20) das zärtliche Einfühlungsvermögen Perseus und der Beginn der Romanze im Vordergrund, bei Rubens zweitem Werk (1649) das unschuldige Leiden der Andromeda und bei Cesari das heldenhafte Einschreiten des Retters.

 

Stefanie  Manseck

Stefanie.Manseck@berlin.de